Predigt von Dr. Sarah Hills zu 30 Jahre Nagelkreuz in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Am 7. Januar 1987 konnte in der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche die Eingangshalle wieder der Öffentlichkeit übergeben werden. Mit einer eigens konzipierten Ausstellung hat sie seither Millionen von Besucherinnen und Besuchern die Bedeutung dieses Bauwerks als Mahnmal für Frieden und Versöhnung nahegebracht. Im Einweihungsgottesdienst wurde der Kirche ein Nagelkreuz aus der Kathedrale von Coventry übergeben. Seitdem ist die Kirchengemeinde ein Teil der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft.

Das 30. Jubiläum der Mitgliedschaft in der Nagelkreuzgemeinschaft wurde 8. Januar 2017 mit einem Festgottesdienst begangen. Canon Dr. Dr. Sarah Hills (Coventry) war als Predigerin zum diesem Anlass eingeladen. Hier finden Sie den Text ihrer Predigt:

Predigt von Dr. Sarah Hills, Canon for Reconciliation, Coventry,
in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am 8. Januar 2017
Übersetzung aus dem Englischen: Rhodes Barrett und Dr. Kurt Anschütz

Die Taufe von Jesus Christus
Lesungen: Jesaja 42, 1-9 und Matthäus 3, 13-17

 “Wo Hoffnung und Geschichte sich reimen”

Ich möchte Euch für Euren so freundlichen Empfang heute Morgen danken. Es ist eine große Ehre, dass ich mit Euch zusammen den 30. Jahrestag Eurer Zugehörigkeit zur Nagelkreuz-Gemeinschaft und der besonderen Beziehung, die die Kathedrale von Coventry damals mit Euch eingegangen ist, begehen kann. Es war ergreifend, als wir während der vergangenen Wochen, nach dem schrecklichen Attentat unmittelbar vor dieser Kirche, die Versöhnungslitanei gebetet haben und unsere Gebete dabei besonders auf Euch hier in Berlin richteten. In unseren Herzen waren wir mit Euch allen verbunden.

Es gibt ein Gedicht eines nordirischen Dichters, Seamus Heaney, und einen Teil davon möchte ich Euch weitergeben als Antwort auf unsere heutige Bibellesung. Es heißt “Zweimal hinschauen” und stammt aus seinem Werk “Die Heilung zu Troja“:

Menschen leiden.
Sie foltern einander.
Sie werden verletzt, und sie werden hart.
Kein Gedicht, kein Stück, kein Lied
Kann jemals aufheben ein Unrecht
Zugefügt und erlitten. …
Die Geschichte sagt, Hoffe nicht
Diesseits des Grabes.
Aber dann, einmal im Leben
Die lang ersehnte Flutwelle
Der Gerechtigkeit kann sich erheben
Und Hoffnung und Geschichte reimen sich. …
Hoffe also auf die Große Veränderung
Jenseits aller Rache.
Glaube, dass ein fernes Gestade
Erreichbar ist von hier.
Glaube an Wunder
Und an Heilungen und an heilende Brunnen. …
Nenne Wunder die Selbstheilung
Die äußerste, sich selbst offenbarende
Verblüffung der Gefühle.
Wenn es Feuer gibt auf dem Berg
Und Blitz und Sturm
Und ein Gott spricht aus dem Himmel …
Dann heißt dies, jemand hört
Auf den Aufschrei und den Geburtsschrei
Des neuen Lebens, das entsteht.
Es heißt einmal in einem Leben
Dass die Gerechtigkeit sich erheben kann
Und Hoffnung und Geschichte sich reimen.”

“Dass die Gerechtigkeit sich erheben kann und Hoffnung und Geschichte sich reimen.” Unsere heutige Lesung, die im anglikanischen Lektionar mit der Überschrift „Taufe Christi“ versehen ist, spricht von Hoffnung und Geschichte. Und Hoffnung und Geschichte sind es, deren wir heute gedenken – an diesem Jahrestag der Übergabe des Nagelkreuzes an Euch. Es ist ein Symbol unserer gemeinsam übernommenen Verpflichtung, für Frieden und Versöhnung zu arbeiten und Gottes Geschichte und unsere Geschichte wahrzunehmen, und zugleich auch wahrzunehmen, wer und was wir gewesen sind. Wer wir sind in Gottes Reich, in Gottes Herzen.

In unserem Dienst der Versöhnung an der Kathedrale von Coventry haben wir es täglich mit Hoffnung und mit Geschichte zu tun. Einer unserer Grundwerte in der Nagelkreuzgemeinschaft ist “Heilung der Wunden der Geschichte”. Und St. Michael’s House, wo wir unser Versöhnungsprogramm leben, steht unter dem Motto “Raum schaffen, damit Hoffnung gedeihen kann”. Heilung der Wunden der Geschichte und Raum schaffen für Hoffnung. Geschichte und Hoffnung. Eure Gebäude hier, die Ruinen der alten Kirche und diese wunderschöne neue Kirche, bezeugen Geschichte und Hoffnung. Genauso, wie die Ruinen und die neue Kathedrale in Coventry es tun. Die Geschichte der Bombenangriffe – hier im Jahr 1943 und in Coventry im Jahr 1940 – und die Zerstörung der alten Kirchen und die Hoffnung eines neuen, verwandelten, versöhnten Lebens haben sich in diesen neuen Bauten ineins miteinander verkörpert. In den vielen Geschichten, die wir über Konflikte und Versöhnung, über Verletzung und Heilung hören, geht es um Geschichte und Hoffnung. Diese beiden Worte sind leicht zu sagen: „Geschichte“ und „Hoffnung“. Wie aber leben wir sie tatsächlich?

Wie engagieren wir uns tatsächlich in dieser Arbeit des Friedenschaffens und der Versöhnung? Wie machen wir das, was wir innerhalb der Kirche sagen, deckungsgleich mit dem, was wir tun, wenn wir am Ende des Gottesdienstes zur Tür hinausgehen? Der Beginn des neuen Jahres ist der rechte Zeitpunkt, um zu überdenken, wie wir leben. Wie können wir teilnehmen, wie nehmen wir teil an Gottes Reich?

Am Tag nach dem Bombenangriff auf die Kathedrale von Coventry ging Dompropst Howard in das Gewirr aus Metall und Emotionen hinein und sagte zwei Worte “Vater, vergib!” Dies was eine Anerkenntnis, dass wir alle der Vergebung Gottes bedürftig sind – Opfer und Täter gleichermaßen. Und so begann unsere Versöhnungs- und Friedensarbeit. Es ist heute genauso unabdingbar, dass wir auf die Dunkelheit mit Licht, auf Verzweiflung mit Hoffnung, auf Konflikt mit Versöhnung antworten. Heute begehen wir den 30. Jahrestag der Übernahme des Nagelkreuzes durch Euch – Zeichen Eurer Verpflichtung, für Versöhnung und Frieden arbeiten zu wollen.

Dompropst Howard gab Coventry und der Welt eine prophetische und radikale Botschaft. Er betete “Vater, vergib!” Im Jahr 2017 erinnern uns die jüngsten und erschütternden Ereignisse der Gewalt hier in Berlin und in Istanbul, in Aleppo und anderswo erneut an das Böse, zu dem die Menschheit fähig ist.

Ich war neulich sehr beeindruckt von einer mir bisher unbekannten Erasmus-Übersetzung des Prologs des Johannesevangeliums. Statt zu übersetzen “Im Anfang war das Wort”, übersetzt Erasmus: “Im Anfang war das GESPRÄCH”.

Im Anfang war das Gespräch. Genau. Denn wie können wir leben in der Isolation? Wie können wir leben ohne Dialog? Wie können wir die Botschaft der Versöhnung leben, wenn wir nicht aufeinander hören? Nicht hören auf Gott?

Im Tiefsten geht es bei Versöhnung um Gespräch, darum, ob und wie wir miteinander reden, wie wir miteinander verkehren. Es geht darum, wie wir, ob wir das Gespräch führen. In der Welt, in der Kirche stehen wir vor vielen Herausforderungen – gewalttätige Konflikte ohne Zahl. Globalisierung bedeutet, wir sind stärker miteinander verbunden, aber dennoch haben wir Probleme, wirklich miteinander zu reden und einander zu verstehen. Wir haben unendliche Mittel der Kommunikation durch soziale Medien, Twitter, Blogging und so weiter … aber dennoch benötigen wir Hilfe, damit wir wirklich die Geschichten der anderen zu hören vermögen.

Mein Interesse an diesem Gespräch, an diesem Versuch, besser miteinander zu leben in Vergebung und Versöhnung, begann mit meinem Aufwachsen in Südafrika und später in Nordirland. Ich bin in Südafrika geboren, und meine Eltern waren beide in Anti-Apartheid-Aktivitäten engagiert. Wir zogen fort, als ich noch ein kleines Kind war. In Nordirland, wohin wir dann zogen, wuchs ich in ziemlicher Verunsicherung auf. Unsicher war ich, ob meine Haare deshalb so kraus waren, weil ich Afrikanerin war; verunsichert war ich, als wir zurückkehrten, um meine Großeltern zu besuchen, weil nur Weiße an den Strand gehen durften oder auf öffentlichen Bänken sitzen durften; verunsichert war ich auch, weil meine ehemalige Kinderfrau in einem Haus ohne fließendes Wasser lebte.

Und dann arbeitete ich als Medizinstudentin in einem ländlichen Krankenhaus in Südafrika. Dort beteiligte ich mich an Protestmärschen zusammen mit Tausenden anderer Südafrikaner, die gegen die Apartheid demonstrierten, – und ich entfernte Gewehrkugeln aus Menschen, auf die man geschossen hatte, während sie demonstrierten und Befreiungslieder mit den anderen sangen – “Viva Mandela!”, “Amandla!” Mandela war damals, gegen Ende seiner 27 Jahre im Gefängnis, die Inspiration; er war der Name, der auf allen Lippen war.
In den folgenden Jahren lebte Mandelas Engagement für Versöhnung in mir in starkem Kontrast zu Gerüchten über das rachelüsterne Teeren und Federn eines Teenager-Liebespaares, das in der Nähe des Wohnortes meiner Familie in Nordirland lebte. Sie lebte in unserem Dorf, das protestantisch war, er kam von einem Bauernhof aus einem “IRA-Gebiet”.

Fragen konnten nicht ausbleiben. Nachdem ich mein Medizinstudium abgeschlossen hatte, arbeitete ich als Psychiaterin. Die Fragen zum Wesen von Versöhnung, von Vergeltung und von Gerechtigkeit wurden durch dieser Arbeit stimuliert.

Was immer unsere eigene Geschichte sein mag, wo immer wir arbeiten und leben mögen, sind wir als Christen berufen, an Gottes Welt teilzuhaben. In ihr ist Christus mit uns, und er wird einer von uns. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und bequem warten – wir müssen den Schritt tun hin zum zugigen Stall, zu den furchterregenden Engeln, zu den Fremden aus dem Osten, zu Gottes herrlichem Geschenk. Denn die Welt ist heute kein bequemer Ort. Für viele ist sie kalt und zugig, das Jesuskindlein ist nicht das einzige Kind ohne richtiges Bett; die drei Könige sind nicht die einzigen, die in ferne Länder reisen müssen, und Herodes ist immer noch eine gängige Figur.

Heute müssen wir intensiv nachdenken über unser Leben mit Gott und miteinander, dies ist eine von Gott geschenkte Zeit, um zu überprüfen, wie wir unsere Geschichte wahrnehmen und wie wir aus ihr heraus handeln. Was bedeuten wir Christen für die heutige Welt? Wie entwickeln wir uns hin zu jenem Knecht, von dem uns Jesaja spricht – zu dem Knecht, an dem Gott sein Gefallen hat? Der Gerechtigkeit den Völkern bringen wird und der nicht zerbrochen und nicht zerschunden wird? Und wie werden wir bereit für die lebensverändernde und vielleicht auch sehr schwierige Entscheidung, zu der Johannes der Täufer uns drängt in der Taufe?

Denn wie wir wissen: Die Wirklichkeit um uns herum ist nicht verlockend. Die Realität der Geschichte des 20. und nun des 21. Jahrhunderts scheint auf den ersten Blick nicht hoffnungsvoll zu sein. Zahlreich sind die Konflikte, und neue politische Zeitalter werden eingeleitet hier in Europa und in Amerika, im Mittleren Osten und im globalen Süden – Seamus Heaney schreibt in seinem Gedicht sogar:
„Die Geschichte sagt, Hoffe nicht
Diesseits des Grabes.“

Eine ziemlich düstere Botschaft, wenn wir hier anhalten. Also: Wie leben wir mit Geschichte und Hoffnung in diesen oft dunklen Zeiten? Können Hoffnung und Geschichte sich reimen? Jetzt ist die Zeit da, zu entscheiden. Geben wir uns zufrieden mit den Antworten der Welt, oder glauben wir, dass der Gott, der stets mit uns ist, der seinen Bund mit uns schließt, der den Völkern Licht gibt – glauben wir, dass dieser Gott alles ändert? Das Gedicht geht weiter: “Glaube, dass ein fernes Gestade erreichbar ist von hier! Glaube an Wunder und an Heilungen und an heilende Brunnen!” Was also glauben wir heute über Geschichte und Hoffnung, am Anfang des neuen Jahres, wo wir versuchen, eine Antwort zu finden auf die Gewalt und die Konflikte, mit denen wir konfrontiert werden?

In der Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry verpflichten wir uns, für Versöhnung, für Frieden und Gerechtigkeit zu arbeiten. Der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der uns Atem gibt und Geist, lädt uns ein auf einen neuen Weg, der mühsam und der freudvoll ist. Jesus starb am Kreuz, und doch wurde er auferweckt. Wenn wir bereuen und reingewaschen werden im Wasser der Taufe und des Heiligen Geistes und wenn wir diesem kleinen Kind folgen, welches Christus, unser Retter ist, wird unser Leben reich gefüllt sein mit seiner Gerechtigkeit, mit seinem Erbarmen und mit seiner Liebe. Hoffnung und Geschichte können sich reimen. Das Echo dieses Reimens, also unsere Hingabe an Christus, als er getauft wurde, ist in der Tat eine sehr gute Botschaft! Eine gute Botschaft, die wahrlich Hoffnungslosigkeit und Dunkel vertreibt. Wenn wir nicht gelähmt werden wollen durch Furcht, durch Verzweiflung in Konfliktsituationen, durch gescheiterte Beziehungen, durch Sorgen um Geld oder Verlust von Unabhängigkeit, oder durch irgend eine andere Widrigkeit, in der wir uns befinden, dann müssen wir erneut auf Jesajas Worte hören und uns erfüllen lassen mit der Herrlichkeit desjenigen, der Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Licht ist.

So wollen wir beten, dass die Gerechtigkeit sich erheben kann. Lasst uns glauben an die Hoffnung, dass Gefangene aus dem Verlies herausgebracht werden, dass die Völker Erleichterung erfahren, dass Gott uns bei der Hand nimmt und bewahrt. Lasst uns auch andere einladen zur Teilnahme an dieser Hoffnung. Und lasst uns die neuen Möglichkeiten finden und aufnehmen und praktizieren, Gottes Volk zu sein an diesem Ort, in dieser Zeit, in dieser bedeutenden Kirche mit ihrer ganzen Geschichte und ihrer Hoffnung.

Ich möchte schließen mit einer Geschichte über Steve Biko und seine Mutter Alice. Steve Biko war ein sehr bekannter Anti-Apartheid-Führer, der 1977 in südafrikanischem Polizeigewahrsam brutal ermordet wurde. Steve und seine Mutter sprachen kurz vor seinem Tod miteinander, und sie sagte ihm, wie sehr sie um ihn besorgt war – sie konnte nachts solange nicht schlafen, bis er zu Hause war aus Angst, dass er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt würde. Er antwortete, indem er sie daran erinnerte, dass Jesus gekommen war, um sein Volk zu erlösen und zu befreien.

“Bist Du Jesus?” hat sie ungeduldig gefragt. Steve hat ihr liebevoll geantwortet: “Nein, ich bin es nicht. Aber ich habe dieselbe Arbeit zu tun.”
Wir auch.

Amen.