„Der Terror ist vor der eigenen Haustür angekommen.“

Kerzen in Dachau für den Schmerz in Hanau – Gesten der Anteilnahme Foto: Björn Mensing
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Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft betet für den Schmerz nach den Schüssen von Hanau

Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft nimmt aus tiefsten Herzen Anteil an dem, was Deutschland gegenwärtig aufwühlt. Wir gedenken der aus rassistischen Motiven Ermordeten und sind in Gedanken und im Gebet bei allen, die einen geliebten Menschen verloren haben oder bei den Angriffen traumatisiert wurden.

Die Wallonisch-Niederländische Kirche Hanau, eines unserer deutschen Nagelkreuzzentren, ist nur wenige Straßenzüge von einem der beiden Attentatsorte entfernt. Die Kirchengemeinde wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von reformierten Glaubensflüchtlingen aus den „Spanischen Niederlanden“ gegründet, die schließlich in Hanau eine neue Heimat fanden.

Die Wege von Torben Telder, Leitender Pfarrer der Wallonisch-Niederländischen Kirche, führen oft an dem Attentatsort vorbei: „Auf einmal ist es ein Ort des Schreckens. Nun ist also der ‚Terror‘, den ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte, vor der eigenen Haustür angekommen. Als Flüchtlingskirche wissen wir um die Schwierigkeiten von Ankommen, Anpassen und Wahrung der eigenen Identität. Unsere Geschichte lehrt uns, dass es in Hanau erfolgreich möglich war. Diese Erfahrung wollen wir in die Stadtgesellschaft auch weiterhin einbringen.“

Für Pfarrer Telder ist dabei das Nagelkreuz ein hilfreiches Symbol. Im Rahmen von Gedenkveranstaltungen ist das Hanauer Nagelkreuz gerade „on Tour“, um bei verschiedenen Anlässen um Versöhnung zu werben. Auch das Versöhnungsgebet von Coventry mit seinem „Vater vergib“ ist für Telder eine gute Brücke in diesen Tagen. Es verweise nicht auf einzelne, sondern auf uns alle. So seien unsere Gedanken nicht nur bei den Opfern, sondern auch bei der Familie des Mörders. Am morgigen Sonntag wird in der Wallonisch-Niederländischen Kirche ein Gedenk- und Bittgottesdienst für den Frieden stattfinden, in dem Pfarrer Telder auf die Bedeutung des „Vater vergib“ eingehen wird.

Auch viele andere Nagelkreuzzentren sind immer wieder im Gedanken und mit Gebeten in Hanau. In Andachten und Gottesdiensten bieten sie den Menschen Raum, ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den Einwohnern von Hanau, aber auch ihr Entsetzen und ihre Sprachlosigkeit vor Gott zu bringen. So gedenkt z. B. die Nagelkreuzkapelle in Potsdam heute in ihrem Samstagabendgottesdienst der Opfer von Hanau und will ein Zeichen gegen Rassismus, Hass, Hetze und terroristische Gewalt setzen. Vertreter der evangelischen Versöhnungskirche und der katholischen Seelsorge auf dem Gelände des KZ-Gedenkstätte entzündeten bereits am Donnerstag während einer Gedenk- und Demonstrationsveranstaltung in der Dachauer Innenstadt Kerzen für die zehn in Hanau ermordeten Menschen.

In dem Jahr, in dem sich der 80. Jahrestag des Bombenangriffes auf Coventry jähren wird, ist der Auftrag der Nagelkreuzgemeinschaft leider aktueller denn je. Das Versöhnungsgebet von Coventry verweist uns an all jene, denen ein Platz und eine Heimat in unserer Gesellschaft verwehrt wird. Wir sind aufgerufen, uns für sie einzusetzen. Wir bitten um Vergebung, wo wir selbst mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge zeigen. Wir widersprechen jenen, die Rassismus predigen und gegen unsere Mitmenschen hetzen. Wir tun dies nicht im Geist des Hasses oder der Rache, sondern aus einer großen Sehnsucht heraus nach Frieden und Versöhnung. Aus der Geschichte heraus haben wir die Verpflichtung der Verzweiflung Hoffnung entgegen zu setzen und dem Hass mit Feindesliebe zu begegnen.

22.2.2020,
OKR Dr. Oliver Schuegraf, Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland

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MANFRED STOLPE – CHRIST UND MENSCH

In Potsdam in der Nagelkreuzkapelle der Garnisonkirche ist man betroffen, dass Manfred Stolpe, ein wichtiger Förderer der dortigen Versöhnungsarbeit, am 28. Dezember 2019 verstorben ist. Unser Ehrenmitglied Paul Oestreicher hat aus langjähriger Verbundenheit einen sehr persönlichen Nachruf geschrieben:

„MANFRED STOLPE – VERSÖHNENDER BRÜCKENBAUER“

Unsere Beziehung zu DDR Zeiten war eine kollegiale. Freundlichkeit und Sachlichkeit waren seine Hauptmerkmale. Er war Jurist und Verwaltungschef des Evangelischen Kirchenbundes der DDR. Zwei weitere Eigenschaften fallen mir dabei ein: Kompetenz und Selbstsicherheit. Er verlor nicht mehr Worte als notwendig waren, hatte aber immer Zeit für das Wesentliche. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart wohl. Ich war der Osteuropabeauftragte des britischen Kirchenrates. Ökumenische Beziehungen und Menschenrechte waren mein Arbeitsgebiet. Freunde, auf Deutsch ‚per Du‘, wurden wir erst, als Manfred der heute hochgelobte Landesvater Brandenburg geworden war. Heute ist die Trauer seiner Familie und seines Landes auch meine.

Menschen, die hohe Ansprüche an sich selbst stellen, die viel erreichen wollen und dementsprechend viel riskieren, sind in hoch politisierten Zeiten umstrittene Menschen. Das Staat-Kirchenverhältnis war in der DDR immer hoch politisiert und im Aufgabenbereich Stolpes riskant, jedenfalls riskant, es sei denn man entzieht sich der Stürme der Zeit und bleibt passiv. Das konnte dieser Konsistorialpräsident von seinem Wesen her nicht tun. Er war ein Macher mit erstaunlicher Gelassenheit, die als Überlegenheit erscheinen konnte. Beliebtheit hat er sich als Kirchenmann nicht zum Ziel gemacht.

Als Landes- und Bundespolitiker habe ich Stolpe nicht gekannt. Eine Einschätzung dieser zweiten Phase seines Lebens überlasse ich gerne der deutschen Öffentlichkeit. Seinen Nachruf in der Zeit kann ich aber empfehlen, jedenfalls den Teil, der sich mit seinem Wirken in der DDR befaßt, denn darin war ich ein gelegentlicher Mitstreiter. Sein umstrittener Einsatz für Menschenrechte habe ich z.T. begleiten dürfen. Ich weiß, was den Mann motivierte, sei es um die relative Freiheit der Kirche als Institution zu sichern oder gefährdete Personen und Gruppen, seien sie Christen oder nicht, nach Möglichkeit zu unterstützen. Das war ohne den Staat nicht möglich, und der Staat hieß meistens die Staatssicherheit.

Stolpe haßte jede Form von Konfrontation. Ein Ziel zu erreichen, ging nicht ohne Diplomatie. Diplomatie geht nicht ohne Kompromiß. Ein gutes Ziel rechtfertigt. Er hat es manchmal erreicht. Ich habe es direkt erlebt und mitgestaltet. Zusammen mit Bischof Fork hat er die Mutter der friedlichen Revolution Bärbel Bohley (und andere) aus dem Knast geholt und für sie sechs Monate Studienurlaub in England erstritten unter ihrer Bedingung, in die DDR zurück kommen zu dürfen. Letzteres paßte dem Staat gar nicht. Bärbel hielt sich nicht an die Bedingung, im Ausland nicht politisch zu agieren, also war der Staat nicht gewillt, sie wieder zurückkommen zu lassen. Stolpe hat das vereitelt, indem er sie pünktlich nach sechs Monaten schweigend in Prag abholte und über eine ‚Hintertür‘ in die DDR zurückbrachte.

Unter falschem Namen hat ihn die Stasi bestimmt abgeschöpft. Mich auch. Das war ein geringer Preis, hat mit Verrat nichts zu tun. Stolpe blieb ein treuer Sohn der Kirche sogar dann, wenn seine Arbeitgeber nicht immer genau wußten, was er tat. Stolpe hat niemals im Kalten Krieg die Seiten gewechselt. In dieser grauen Welt zu funktionieren, war mutig. Die Grenze zwischen Mut und Übermut war, zugestanden, hauchdünn. Die Stasi hat ihn nicht, und er sie nicht über den Tisch gezogen.

Marianne Birthlers Weigerung, im Nachhinein im Wissen um Stolpes Kompromisse nicht mehr mit ihm arbeiten zu wollen, beruht meines Erachtens auf das irrige (aber ehrenhafte) Prinzip, daß im totalitären Staat allein die ‚reine Weste‘ christlicher Nachfolge entspreche.

Der Vorwurf, Stolpe hätte zur Mauer nicht schweigen dürfen, war haltlos. Die Westmächte und die Bundesrepublik wußten, daß die Mauer eine tragische Notwendigkeit bleibt, bis the Sowjetunion die DDR fallen läßt. Fällt die Mauer, fällt die DDR. Fällt die DDR, droht ein Atomkrieg. So hat es mir Walter Ulbricht persönlich erklärt, und in fast den gleichen Worten der stellvertretende britische Militärkommandant Westberlins. Stolpe war Realist und gehörte damit zu den Verteidigern des Friedens. Die Dissidenten aber auch. Er versuchte sie auf seiner Art zu schützen.

Zuletzt noch Eines und das paßt in die Zeit nach dem Mauerfall. Stolpe als Bürger Potsdams setzte sich für die umstrittene Erneuerung der ehemaligen Garnisonkirche ein. Sie solle im Zeichen des versöhnenden Nagelkreuzes von Coventry ein Zentrum der Auseinandersetzung mit der unguten Geschichte werden, ein Friedenszentrum. Der nach dem Krieg erhaltene Turm, nun Heilig Kreuz Kirche genannt, solle als Nagelkreuzgemeinde neu entstehen. Von der SED zerstört, sei der wiederaufgebaute Turm auch städtebaulich sinnvoll.

Manfred Stolpe hat Pfarrerin Cornelia Radeke-Engst ermutigt, eine Nagelkreuzgemeinde aufzubauen, was sie im besten Sinne tatkräftig unternommen hat. Vom Anfang an hat Manfred ihre Arbeit aktiv unterstützt. Letztlich schwer krank, mußte sich Stolpe zurückziehen, freute sich aber, daß der Turm nun wieder entsteht. Einen Bruch mit der Vergangenheit müßte es aber darstellen. Den Wiederaufbau der gesamten alten Garnisonkirche hielt er für falsch. Das versicherte er mir mehrmals. Die Stiftung, wie es jetzt scheint, ist anderer Meinung. Schade. Meinungsverschiedenheiten jeglicher Art zum Trotz würde Manfred ruhig lächelnd sagen ‚tut mit Freude der Stadt bestes.‘

MANFRED STOLPE – CHRIST UND MENSCH
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Ein Nachwort:
Zur Feier meines 80.Geburtstags kamen viele geliebte Menschen in meine Heimatstadt Meiningen. Viele hätten bei der Feier gerne etwas gesagt. Loblieder wünschte ich mir aber nicht. Nur zwei Menschen, zwei politische Christen, bat ich um kurze Worte: Heino Falcke und Manfred Stolpe. In ihrer klaren persönlichen Verschiedenheit stellten sie zwei Lebenswege dar, was es heißen konnte, Christ und Mensch in der DDR zu sein: ein sich ergänzender Segen.

Paul Oestreicher