Regionaltreffen Südwest: Pilgerwege und Gemeinschaft in Saarbrücken

Die Teilnehmenden des Regionaltreffen Südwest am Nagelkreuz der Ludwigskirche mit kriegsbeschädigter Apostelfigur Jakobus d. Ä. (Foto: Matthias Engesser)

Eine historische Kirche, ein besonderer Anlass und viele inspirierende Begegnungen – das Regionaltreffen Südwest der Nagelkreuzgemeinschaft führte die Teilnehmer 2025 nach ->Saarbrücken, den westlichsten Punkt der Region. Pfarrer Thomas Bergholz hatte zum 250. Jubiläum der Ludwigskirche eingeladen, und zwölf Mitglieder unserer Gemeinschaft trafen sich am 22. März zu Austausch und Pilgerwanderung. Hier ihr spannender Bericht.

Um zehn Uhr begann der Tag im Café Catherine, das sich in der ehemaligen Fürstengruft der Kirche befindet. Dort gab uns Pfarrer Bergholz einen kurzen Einblick in die Geschichte der Kirche und in die Versöhnungsarbeit der Gemeinde. Diese liegt besonders im interkonfessionellen und zunehmend auch im interreligiösen Dialog. Danach machten wir uns gemeinsam mit zwei Gästen aus Saarbrücken auf den Pilger-Weg durch Alt-Saarbrücken. Die Idee zu diesem Weg war ursprünglich für eine „Nacht der Kirchen“ entstanden.

Austausch im Café Catherine in der Krypta der Ludwigskirche (Foto: Christian Roß)

Unser Weg führte über den Ludwigsplatz, auf dem an diesem Samstag der große Wochenmarkt stattfand. Mit einem großen ökumenischen Osterfeuer beginnt auf diesem Platz traditionell die Osternacht. Nach dem gemeinsamen Beginn ziehen von dort alle Konfessionen zur Osternachtfeier in Prozessionen in ihre Kirchen. Auf der anderen Seite des Platzes steht die Friedenskirche. Sie wurde, genau wie die Ludwigskirche, im Barockstil erbaut. Thomas Bergholz erzählte uns von ihrer bewegten Geschichte. Anfangs war sie eine reformierte Kirche. Später wurde das Gebäude als Schulhaus genutzt. Seit 1890 dient es der Alt-Katholischen Gemeinde als Kirche und Versammlungsraum. Ausgehend von Johannes 14,27: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“ endete der Besuch des Alt-katholischen Gotteshauses mit einer Meditation über Frieden und die Gesichter des Friedens.

Unser Weg führte vorbei am Denkmal für Organspenderinnen und Organspender. Dort hielten wir mit Johannes 15,13 inne: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lasse für seine Freunde.“ In Saarbrücken hat dieser Vers eine durchaus belastete Vergangenheit. Zwischen 1918 und 1945 war er als Inschrift am Altar der Ludwigskirche angebracht und diente einem fragwürdigen „Heldengedenken“. Auch die nächste Station gab uns Anlass, über den Umgang mit der Vergangenheit zu diskutieren: Die Aufschrift auf dem Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs lässt eher an ein Kriegerdenkmal denken. Uns wurde deutlich, wie schwierig es ist, ein angemessenes Gedenken zu gestalten, und wie herausfordernd der Umgang mit historischen Gedenkorten ist, die Fragen aufwerfen und heutiger Gedenkkultur eher fremd sind.

Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stießen wir auf die katholische Pfarrkirche St. Jakob. Bereits ihr Name weist auf ihre besondere Bedeutung für Pilger hin. Direkt am Jakobsweg gelegen, ist sie „Pilgerkirche am Weg“. Dies wird auch durch die Jakobsmuschel sichtbar, die in der Fassade eingelassen ist. Trotz dieser Funktion – in Saarbrücken scheint manches anders zu sein als andernorts – ist die Kirche meist geschlossen, während die evangelische Ludwigskirche täglich lange geöffnet ist. Ein Zutritt zur Kirche blieb unserer Pilgergruppe daher verwehrt.

Stuckdetail in der Mitte der Ludwigskirche, zugleich Mitte der ehemaligen Barockstadt ( Foto: Christian Roß)

Extra für uns geöffnet wurde hingegen die Immanuel-Kirche der Selbständig Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), nur wenige hundert Meter entfernt. Dort begrüßte uns Pfarrer Johannes Achenbach gemeinsam mit einigen Konfirmanden. Die kleine Kirche entstand 1902 im neuromanischen Stil. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie stark beschädigt, danach in ihrer heutigen Form wiederaufgebaut. Besonders beeindruckten uns die beiden Fenster des Künstlers György Lehoczky aus den Jahren 1953/54. Sie schmücken die Chorapsis und zeigen Mose bei der Übergabe der Gebotstafeln und Jesus bei der Bergpredigt. Pfarrer Achenbach gab uns außerdem Einblicke in die Struktur und Arbeit der SELK.

Nächste Station war das ehemalige Gemeindehaus der Ludwigskirche, vor deren Eingang ein Teil einer der im Krieg beschädigten großen Figuren vom Dach der Ludwigskirche steht. Eine dieser Figuren ist wieder in die Ludwigskirche gebracht worden, wo sie in einer Nische mit dem Nagelkreuz symbolisch für die Zerstörung der Kirche steht. Letzte Station war der alte lutherische Friedhof, der bereits seit 200 Jahren aufgelassen ist und heute als Parkplatz dient. Direkt an einem aufsteigenden Felsen gelegen, findet sich als Erinnerung nur noch eine Plakette, die auch an die letzte Ruhestätte des Architekten der Ludwigskirche erinnert.

Anschließend nahm unsere Gruppe am ökumenischen Mittagsgebet teil. Diese Andacht findet jeden Samstag um 12 Uhr in der Ludwigskirche statt. Gestaltet wird sie von wechselnden Personen. Ein fester Bestandteil ist dabei stets das Versöhnungsgebet von Coventry. Nach dem Gebet folgt wöchentlich eine etwa 15-minütige „Musik zur Marktzeit“. Diese spielte an diesem Samstag der deutsch-dänische Organist Tobias Naumann aus Brönderslev (Dänemark). Im Anschluss daran führte Pfarrer Thomas Bergholz durch die frisch renovierte und eindrucksvoll rekonstruierte Ludwigskirche. Unsere Gruppe nahm gern an dieser kurzen öffentlichen Führung teil.

Altar, Kanzel und Orgel in der frisch sanierten Ludwigskirche (Foto: Christian Roß)

Nach einem gemeinsamen Mittagessen begann der Austausch mit einer kurzen Vorstellungsrunde. Vertreten waren etablierte Zentren wie Pforzheim-Huchenfeld, Stadtkirche Pforzheim, Stadtkirche Darmstadt, der Kirchenkreis Esslingen sowie das gastgebende Zentrum Saarbrücken. Außerdem nahmen neue und interessierte Zentren teil. Pfarrer Jörg Seiter ist bereits Einzelmitglied der Gemeinschaft. Er leitet den Kooperationsraum Blankenloch-Stutensee-Weingarten, der am 26.10. das Nagelkreuz erhalten wird. Alexander Classen vertrat den Kirchenvorstand der Frankfurter Paulsgemeinde. Diese Gemeinde wird am 24.10. offiziell in die Nagelkreuzgemeinschaft aufgenommen. Ihr Nagelkreuz erhält seinen Platz in der Alten Nikolaikirche am Römer. Pfarrer Tim van de Griend, ebenfalls langjähriges Einzelmitglied, stellte seine Gemeinde vor. Er möchte die Evangelisch-Reformierte Französische Gemeinde Frankfurt in die Nagelkreuzgemeinschaft führen. Er berichtete von ihrer spannenden Geschichte sowie der aktuellen diakonischen und international verbindenden Arbeit. Zum Schluss berichtete Christian Roß über die Arbeit in Leitungskreis und Vorstand.

Gegen 17 Uhr endete das inspirierende und gelungene Regionaltreffen. Einige Teilnehmer:innen blieben noch etwas in Saarbrücken und nutzten die Gelegenheit, die Stadt näher zu erkunden. Das nächste Regionaltreffen Südwest soll 2026 in Darmstadt stattfinden. Dann feiert die Stadtkirche ihr 50-jähriges Nagelkreuzjubiläum und lädt aus diesem besonderen Anlass herzlich ein.

Autor: Christian Roß

Drei Tage in Dresden – Auf den Spuren der Versöhnung

Die Wuppertaler Delegation (v. l. n. r.): Bruno Hensel, Susanne Kapp, Carin Hell, Sigrid Runkel, Pfarrer Frank Schulte. Foto: Frank Schulte

Im Februar 2025 reisten fünf Mitglieder unseres Nagelkreuzzentrums Gemarker Kirche in Wuppertal nach Dresden, um am Gedenken zum 80. Jahrestag des Luftangriffs auf das Elbflorenz teilzunehmen. Die Verbindung zwischen der Gemarker Kirche und den Dresdener Christen ist tief verwurzelt: Hugo Hahn, der 1934 Pfarrer an der Frauenkirche war, hielt die Eröffnungspredigt bei der Barmer Synode in Barmen. Hier der Bericht der Wuppertaler Delegation:

Drei Tage Dresden und fünf Nagelkreuzzentren – eine sportliche Herausforderung, die wir uns vorgenommen haben. Zum 80. Jahrestag des Bombardements von Dresden am 13. Februar 1945 sind wir auf den Spuren von Versöhnung, Verständigung und Wiederanfang nach den Kriegserfahrungen, die nur scheinbar lange zurückliegen. Direkt nach unserer Ankunft sind wir zu Gast in der Ev.-Luth. Diakonissenanstalt Dresden. Diese Diakonissenanstalt in der Äußeren Neustadt, zwischen Bautzner Straße und Holzhofgasse, gehört zu den ältesten ihrer Art in Deutschland und wurde 1965 als in die Nagelkreuzgemeinschaft aufgenommen. Hier erfahren wir von der englischen Wiederaufbauhilfe, von spürbarer, praktischer Versöhnungsarbeit, und von der Unterstützung in Rumänien. An allen Stationen des Krankenhauses sind Nagelkreuze zu sehen, die die Versöhnungsarbeit aus diakonischer Perspektive verdeutlichen. Wir genießen die Gastfreundschaft der Mitarbeiter und haben anregende Gespräche über die Zukunft der Nagelkreuzarbeit.

Am nächsten Morgen, dem Erinnerungstag, sind wir in die Frauenkirche eingeladen. Prince Edwad, Duke of Kent und Mitglied des britischen Königshauses, ist ebenfalls zu Gast. Von Pfarrerin Behnke erfahren wir mehr über die Versöhnungsarbeit an der Frauenkirche, einem besonderen Ort mit einem besonderen Auftrag. Rechtzeitig zur Gedenkveranstaltung kehren wir zurück, um im dichten Schneetreiben daran erinnert zu werden, dass „Zukunft durch Erinnern“ nur möglich ist, wenn wir die Vergangenheit anerkennen. Nachdenklich und auch ein wenig begeistert reihen wir uns in die Menschenkette zum Schutz von Frieden und Demokratie ein. Hand in Hand mit vielen anderen Menschen stehen wir hier – Versöhnung ist praktisch, menschlich und ein gemeinsames Handeln. Dies ist eindrucksvoll spürbar im Schnee, vor der schönen Kulisse der Frauenkirche und der dunklen Vergangenheit.

Kurz vor 22:00 Uhr läuten alle Glocken der Frauenkirche. Der Schnee fällt weiter, und in der Kirche nehmen wir an der „Nacht der Stimmen“ teil. Bürger der Stadt, Gäste, Chor und Orgel erinnern an die schreckliche Nacht vor 80 Jahren und die Dunkelheit, die das alles erst möglich gemacht hat. Die Zerstörung Dresdens – eine Radierung von Churchill nach einer Vorlage Hitlers. Der Satz trifft und wird zu einem kraftvollen Ausdruck für vieles, das das Unsagbare in Worte fasst. Victor Klemperer, Durs Grünbein, John Witcombe, der Dean von Coventry, Orgel und Chor – Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart. Erinnerungen vermischen sich, die Lebenden erinnern sich an die Toten und die Toten erinnern uns an das Leben. Lichter brennen, es schneit. Versöhnung hat eine eigene, schwere Schönheit.

Am Morgen danach besuchen wir die Kreuzkirche, den Ausgangspunkt der Proteste in Dresden in den 1980er Jahren. Lichtermärsche zur Ruine der Frauenkirche damals und die Nagelkreuzandacht heute gehören zusammen. Versöhnung ist politisch, sie verändert und kreist um die schweren Themen des Lebens – Krieg in der Ukraine, Israel und Palästina.

Leider können wir den Denkraum der Sophienkirche wegen des Wetters nur von außen betrachten. Diese Gedenkstätte soll nicht nur an die 1945 zerstörte Sophienkirche erinnern, sondern auch an die Opfer der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 und an den Widerstand der evangelischen Bevölkerung Dresdens „in der Zeit zweier Diktaturen von 1933 bis 1989“. Ein sehr schöner Ort, an dem Nagelkreuz-Versöhnungsarbeit sichtbar wird. Besonders die Kunstwerke, darunter Triptychen von Otto Dix und Hans Grundig über Krieg und Nazizeit, bleiben eindrücklich. Vielleicht hilft die Ästhetik, sich dem Grauen zu stellen.

Zum Abschluss unseres Besuchs erreichen wir Nr. 5 – Maria am Wasser. Eine evangelisch-lutherische Kirche im Dresdner Stadtteil Hosterwitz, die durch die persönliche Beziehung einer Pfarrerin zu Coventry das Nagelkreuz und die Versöhnungsarbeit nach Dresden holte. Hier entsteht und entwickelt sich eine Partnerschaftsarbeit mit Polen und England sowie das Engagement für taubblinde Menschen.

Fünf Nagelkreuze haben wir besucht, fünf Zentren – und doch noch viel mehr Menschen, die auf der Spur von Versöhnung und Verständigung sind. Warum fünf in Dresden? Vielleicht, weil die ausgestreckte Hand der Versöhnung fünf Finger hat.

Autor: Frank Schulte

PeaceNight – Friedensmomente in Öhringen

Der YouC-Chor gestaltete zusammen mit der Band den Abend musikalisch. (Foto: Milena Sargsyan/Dorothea Färber)

Der Altar lud zum Gebet für Frieden ein. (Foto: Milena Sargsyan/Dorothea Färber)

Am 15. Februar 2025 lud das Evangelische Jugendwerk Öhringen zur PeaceNight ins Evangelische Rosenberggemeindehaus ein – ein Abend voller Musik, bewegender Geschichten und hoffnungsvoller Gebete unter dem Motto „Peace starts here“.

Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, als die Band June aus Waldenburg loslegte. Ihre energiegeladenen Klänge rissen das Publikum mit, darunter auch viele Pfarrer:innen und ihre Konfirmand:innen, die sich von den Songs tragen ließen.

Herkunftsorte der Teilnehmenden auf einer Weltkarte (Foto: Milena Sargsyan/Dorothea Färber)

Ein besonders ergreifender Moment war die Erzählung von Nemat, der aus Afghanistan geflohen ist. Seine Geschichte fesselte die Zuhörenden – voller Schmerz, aber auch voller Dankbarkeit für die Menschen, die ihm geholfen haben. Dabei wurde eines ganz deutlich: Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk, das wir aktiv schützen und bewahren müssen.

Nach dieser tief berührenden Erzählung folgte ein Moment der Stille:

An verschiedenen Gebetsstationen hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, für Afghanistan, für die Welt und für persönliche Anliegen zu beten – ein Augenblick der Besinnung und Hoffnung.

Angeregte Gespräche bei der Peacenight (Foto: Milena Sargsyan/Dorothea Färber)

Dann wurde es wieder musikalisch: Der Projektchor YOU/C unter der Leitung von Johanna Machado sorgte mit seinen einstudierten Songs für echte Gänsehautmomente. Danach wartete eine kulinarische Überraschung – leckeres afghanisches Essen, das in gemeinsamer Runde genossen wurde.

Den Abschluss bildeten weitere musikalische Beiträge, bevor es ein herzliches Dankeschön an alle Beteiligten gab, die diese PeaceNight zu einem unvergesslichen Abend voller Friedensmomente gemacht haben.

Autorin: Dorothea Färber

 

Giesela Schulz: Einfalt kann nicht die Lösung sein

Predigt zum 10jährigen Nagelkreuzjubiläum in Sievershausen

Giesela Schulz war Lehrerin an der Schule in Sievershausen. Seit vielen Jahren ist sie im Arbeitskreis Ortsgeschichte in Sievershausen aktiv, den sie seit 1991 leitet. Sie war an Ausstellungen zur Schlacht bei Sievershausen beteiligt, die in Zusammenarbeit mit dem Braunschweigischen Landesmuseum in Braunschweig und Sievershausen gezeigt wurden. In den letzten Jahren hat sie mit einer Vortragsreihe und einem Buch unter dem Titel „Ein Dorf unter dem Hakenkreuz“ wesentliche Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Sievershausen geleistet. Giesela Schulz ist seit 2014 Mitglied des Nagelkreuzteams in Sievershausen und gestaltet dort immer wieder Andachten. Dabei greift sie häufig historische Bezüge auf. Bei der Nagelkreuzandacht zum 10jährigen Nagelkreuzjubiläum am 14. September 2024 in Sievershausen (klick hier -> siehe gesonderter Bericht) hielt sie die nachstehend abgedruckte Predigt.

„Unterschiede leben und Vielfalt feiern“: Das ist das schwierige Thema unseres heutigen Nagelkreuzgottesdienstes. Das Wort „Migration“ ist zurzeit in aller Munde. Polarisierung und Aggression prägen die politische und gesellschaftliche Debatte. Auf der einen Seite die Ströme zum Teil unkontrollierter Einwanderung nach Deutschland und auf der anderen Seite die notwendige Hilfe für Menschen, die vor Krieg, Hunger und Elend aus ihrer Heimat fliehen.

Die Gegenwart fordert uns deshalb alle. Sie verlangt von uns neue Formen des Zusammenlebens, in denen Gleichheit, Verschiedenheit und gegenseitige Abhängigkeit unser Handeln sowohl als Individuen als auch als Gruppen bestimmt. Unterschiede zu leben und Vielfalt als Bereicherung zu verstehen und anzunehmen, ist nicht leicht. Das Thema Migration wird in den Medien mit vielen Facetten diskutiert, mit vielen Spekulationen, Meinungen oder Falschinformationen. Das verunsichert viele Menschen besonders nach dem schrecklichen Terroranschlag von Solingen. Ruf nach Abschiebung, Verschärfung des Waffengesetzes – kein Vertrauen in die Innere Sicherheit – all das polarisiert unsere Gesellschaft und ist Wasser auf die Mühlen der rechten Szene. Das machen auch die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen deutlich. Versachlichung wäre sehr, sehr wichtig. Doch Probleme mit Migration sind vorhanden und sollten auch angesprochen werden dürfen, ohne dass Menschen gleich in die rechte Ecke gedrängt werden.

Rassismus sollte jeden Tag bekämpft werden

Wir sollten uns aber weigern, grundsätzlich in Ausländern Feinde zu sehen, uns wehren gegen Sprüche wie „Deutschland den Deutschen“ oder „Ausländer raus!“ Diese rassistischen Gesänge zum Partyhit „L‘amour toujours“, in diesem Sommer von Jugendlichen als Video online gestellt, sind erschreckend. Alle Ausländer raus aus Deutschland, dann wären wir angeblich einen Großteil unserer Probleme los, „Remigration“ wird das in Teilen der AfD genannt, Ausländer wären sowieso krimineller als Deutsche! Soziale Medien potenzieren Ängste und schüren Hass. Parteien, die dort stark präsent sind wie die AfD, haben laut Studien bei jungen Menschen aktuell die besten Chancen, weil diese das Internet fast ausschließlich als Informationsquelle nutzen. Beiträge werden gezielt gewählt und interpretiert, die die eigenen Erwartungen bestätigen. Zeitung lesen, Nachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ansehen ist Schnee von gestern, das ist für die ältere Generation noch selbstverständlich.

Rassismus sollte jeden Tag bekämpft werden! Es gehört jedoch viel Mut und Entschlossenheit dazu, nicht schweigend zuzusehen, wenn uns Rassismus im Alltag begegnet. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es im ersten Artikel unseres Grundgesetzes. Im Februar verabschiedete die Deutsche Bischofskonferenz eine Erklärung, in der es heißt: „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“. In dem Punkt herrscht Einigkeit zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche.

Die Kultur, in der wir aufgewachsen sind, ist durch Austausch mit anderen Kulturen entstanden

Rechte Gruppen in unserer Gesellschaft wollen nicht, dass in die deutsche Kultur Fremdes Einzug hält. Das Eigene bewahren und Neues integrieren zu können sollten wir positiv sehen. Ich will kulturelle Aneignung. Ich will Neues lernen und kennenlernen. Wir profitieren von all dem, was in Jahrhunderten entstanden ist. Wir können Neues aufnehmen, mit dem uns Bekannten mischen und das Beste daraus machen. Rein Deutsch – das gibt es nicht!

Ohne Zuwanderer aus anderen Ländern könnten in Deutschland viele Firmen, Hotels, Krankenhäuser, Altenheime usw. schließen. Wir sollten uns klar machen, dass das uns Bekannte, die Kultur, in der wir alle aufgewachsen sind, durch nichts anderes entstanden ist als durch den Austausch mit anderen Kulturen. Völker haben sich im Laufe der Geschichte ständig vermischt. Nehmen wir das Christentum: Entstanden in Israel, transformiert in die griechische Kultur in Auseinandersetzung mit der Philosophie der Antike, weitertransformiert in und durch die römische Kultur und dann in den Norden ausgedehnt in und durch die Aufnahme germanischer Weltsichten, wieder verändert durch Reformation und Aufklärung – und ich bin mir sicher, dass wir noch weitere Veränderungen vor uns haben werden.

Wenn wir uns dagegen sperren, wenn wir unsere Kultur einfrieren, dann wäre das ein großer Rückschritt und sehr langweilig. Wir hätten auf vieles verzichten müssen: Jazz, Gospel, Blues, Reggae, Jeans, Kartoffeln, Südfrüchte, Gewürze, Kaffee, viele Teesorten, Seide, Teppiche, tropische Hölzer, Öl, Benzin, viele Metalle, Sushi, Gyros, Pizza, Spaghetti… Ich höre hier auf mit der Aufzählung, denn es gibt kaum etwas, dass wir als eine rein deutsche kulturelle Errungenschaft benennen könnten, frei von fremden Einflüssen.

Probleme mit Weitsicht lösen

Als vor rund 65 Jahren die ersten italienischen Gastarbeiter in Deutschland eintrafen, wurden sie geringschätzig als „Spaghettifresser“ bezeichnet und hatten hier keinen leichten Anfang. Heute sind Pasta und Pizza das Lieblingsessen vieler Menschen und nicht mehr wegzudenken. Genauso wie Döner und Gyros, die mit den türkischen Gastarbeitern zu uns kamen. Etliche haben inzwischen hier eine neue Heimat gefunden.

Wir haben Glück, dass wir in Deutschland relativ sicher leben können. Das bedeutet nicht, keine Probleme mit Migration zu haben. Wir sollten aber versuchen, sie mit Sachverstand, Weitsicht und wenn möglich mit unseren EU-Nachbarn zu lösen.

Doch Zukunftsängste und die Angst vor Fremden scheinen in unserer Zeit immer größer zu werden. Auch in Bundesländern, die nur einen ganz geringen Ausländeranteil haben, sind Ausgrenzung und Ablehnung traurige Erfahrung, die Menschen aus anderen Ländern machen müssen, und sie erleben zum Teil auch Hass und Gewalt. Nicht-weiße Menschen können Diskriminierung in allen Bereichen des täglichen Lebens erfahren: In der Schule, auf dem Fußballplatz, bei der Job- und Wohnungssuche, bei der Polizeikontrolle oder wie letztlich bei einer Einlasskontrolle beim Maschseefest in Hannover.

Vielfalt kann bunt und fröhlich sein

War das bei der Olympiade in Paris nicht großartig, dass mehrere Sportler mit Migrationshintergrund Medaillen für Deutschland errungen haben und die Goldmedaillengewinnerin im Kugelstoßen sogar mit Inbrunst die deutsche Nationalhymne bei der Siegerehrung mitgesungen hat? Mich hat das sehr bewegt. Im Sport fand Yemisi Ogunleye (Mutter Deutsche, Vater Nigerianer) die Stärke, um sich gegen den in ihrer Kindheit erlebten Rassismus zu wehren. „Hier konnten mich die anderen Kinder nicht aufziehen, denn ich war ihnen überlegen“, berichtete sie.

Schauen wir uns im Fußball unsere Nationalelf an, eine Mischung von Spielern aus verschiedenen Ländern. Im Fernsehen haben wir uns z.B. bei den Nachrichtensprechern:innen, Moderatoren:innen usw. an viele ausländische Namen gewöhnt und schätzen deren Kompetenz.

Nicht nur die Probleme mit Migration sehen und überzeichnen, aber Migration auch nicht einseitig glorifizieren! Das ist ein Balanceakt. Vielfalt ist eine Herausforderung. Aber mit Optimismus, Kreativität, Weltoffenheit und Vertrauen statt Misstrauen können wir viel erreichen. Vielfalt ist anstrengend, Vielfalt nicht nur hinsichtlich der Herkunft oder der Religionszugehörigkeit, sondern auch hinsichtlich der sexuellen Orientierung oder des „Andersseins“ durch gesundheitliche oder körperliche Beeinträchtigungen.

Vielfalt kann aber auch bunt sein und fröhlich stimmen. Einfalt kann nicht die Lösung sein! Menschen sind unterschiedlich und nicht alle gleich, aber alle haben die gleichen Rechte!

Autorin: Giesela Schulz

 

Internationale Jugendbegegnung: „Können die Wunden der Geschichte geheilt werden?“

Bericht einer Teilnehmerin aus Berlin

Foto: Tim Wagner

Mit dieser Frage beschäftigten sich zwölf Jugendliche, die sich vom 11. bis 13. Oktober 2024 in Berlin zur internationalen Jugendbegegnung trafen. Zwar war die Einladung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. auf nur wenig Resonanz gestoßen. Die jungen Erwachsenen, die aus Deutschland, den USA, Indien, Großbritannien und Polen angereist waren, empfanden die Zusammenkunft gleichwohl als Bereicherung. Hier der Bericht einer Teilnehmerin.

Neben Besuchen an geschichtsträchtigen Orten boten intensive Gespräche die Gelegenheit, verschiedene Perspektiven zu teilen. Wir beschäftigten uns gemeinsam mit der Frage, wie wir aus der Vergangenheit lernen und Verantwortung für eine friedliche Zukunft übernehmen können. Auch die Rolle der Kirche in der Geschichte und die Bedeutung von Versöhnung waren Diskussionsthema.

Foto: Tim Wagner

Nach einem gemeinsamen Abendessen am Freitagabend begann der Samstag im Martin-Niemöller-Haus. Hier konnten wir uns eine Dauerausstellung, die sich mit der Geschichte der Bekennenden Gemeinde Berlin-Dahlem auseinandersetzt, ansehen. Geführt wurden wir von Martina Voigt, der Kuratorin der Ausstellung. Dabei diskutierten wir die Rolle der Kirche, insbesondere der Bekennenden Kirche, im Nationalsozialismus und reflektierten über die Verantwortung, die daraus für heutiges Handeln erwächst. Besonders die Frage, wie Versöhnung in einer komplexen und oft schmerzhaften historischen Realität gelingen kann, nahm uns in Anspruch.

Ein weiterer Ort war die Martin-Luther-Gedächtnis-Kirche. Dort wurde bei einer Führung von Klaus Wirbel, Petra Steinborn und weiteren Gemeindegliedern vor Augen geführt, wie schwierig es ist, mit der ideologischen Symbolik eines solchen Ortes umzugehen.

Foto: Tim Wagner

In den Gesprächen setzten wir uns damit auseinander, wie diese belastete Geschichte heute in Versöhnungsarbeit einfließen kann. Dabei wurde deutlich, dass die Herausforderungen groß, aber nicht unüberwindbar sind. Der Besuch der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und das Gespräch mit Pfarrerin Kathrin Oxen zeigten eindrucksvoll, wie die Heilung der Geschichte gelingen kann. Die teilweise zerstörte und wiederaufgebaute Kirche steht sinnbildlich für den Umgang mit schmerzhaften Erinnerungen. Besonders der Vergleich mit der Stadt Coventry machte deutlich, wie wichtig und global bedeutsam der Prozess der Versöhnung ist.

Sehr bewegt waren wir vom darauf folgenden Besuch der Versöhnungskapelle. Hier trafen wir uns mit Esther Schabow, der Beauftragten für Kultur und Öffentlichkeit der Versöhnungskapelle, die uns während einer Führung die Geschichte des Gedenkortes näherbrachte. Die Versöhnungskapelle steht auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost- und Westdeutschland. Sie symbolisiert, wie Heilung und Frieden aus einem Ort der Trennung und des Konflikts entstehen können. Dieser Wandel machte auf uns alle einen tiefen Eindruck und zeigte, dass auch in scheinbar ausweglosen Situationen ein Neuanfang möglich ist.

Foto: Tim Wagner

Am Sonntag setzten wir unsere Reise in Potsdam fort, wo wir die Garnisonkirche besuchten. Hier rekonstruierten wir die Geschichte des Ortes im Rahmen eines kleinen Workshops, geleitet von Hana Hlásková, der Verantwortlichen für die Bildungsarbeit der Garnisonkirche. Anschließend erkundeten wir den wieder aufgebauten Turm. Der Transformationsprozess dieses Ortes, der einst für Militarismus stand und sich nun in ein Zentrum der Versöhnung wandelt, war Thema lebhafter Diskussionen.

Dabei wurde deutlich, wie viel Engagement und Sensibilität erforderlich sind, um Wandel glaubwürdig zu gestalten. In der Garnisonkirche erfuhren wir in einem Zoomgespräch mit John Witcombe, Dean der Kathedrale von Coventry, mehr über die Geschichte von Coventry und die internationale Nagelkreuzgemeinschaft. Mit ihm diskutierten wir zudem die Gründe des zunehmenden Populismus und Extremismus überall auf der Welt und wie wir als Gemeinschaft und als Kirchen damit umgehen können.

Foto: Tim Wagner

Für mich persönlich war die Versöhnungskapelle der eindrucksvollste Ort dieser Begegnung. Sie symbolisiert nicht nur die Heilung eines geteilten Landes, sondern auch die Möglichkeit, dass selbst aus den dunkelsten Kapiteln der Geschichte etwas Positives entstehen kann. Die Vorstellung, dass ein Ort, der einst eine Grenze zwischen zwei Welten markierte, heute ein Zeichen des Friedens ist, hat mich besonders berührt. Es zeigt, wie wichtig es ist, dass wir aus der Vergangenheit lernen und gemeinsam nach vorne blicken.

Die Jugendbegegnung wäre ohne zahlreiche Beteiligte nicht möglich gewesen – herzlichen Dank an das Organisationsteam und alle Unterstützerinnen und Helfer der Berliner Zentren!

Autorin: Constanze Biller

 

Predigt von Canon Mary Gregory zur Nagelkreuzübergabe an vier Hamburger Hauptkirchen

„Weggefährten der Versöhnung“

In einem feierlichen Festgottestdienst am 10. November 2024 haben die Hamburger Hauptkirchen St.Jacobi, St. Michaelis, St. Nikolai und St. Petri ein Nagelkreuz erhalten. Hier können Sie die Predigt von Mary Gregory, Kanonikerin für Kunst und Versöhnung an der Kathedrale von Coventry, nachlesen. Predigttest ist Micha 4, Vers 1-5.

Foto: Nagelkreuzgemseinschaft, Canon Mary Gregory

Vor kurzem suchte ich Rat für ein wichtiges Ereignis, auf das ich mich vorbereitete. Ich war mir nicht sicher, wie ich vorgehen sollte, wie ich mich präsentieren sollte, was ich sagen sollte. Meine Gesprächspartnerin – eine weise Frau – riet mir, von dem Ergebnis auszugehen, das ich mir erhoffte, und dann von dort aus weiterzuarbeiten; die Schritte zu planen, die mich zu diesem gewünschten Ziel führen würden. Das war ein wirklich guter Rat!

Ich möchte vorschlagen, dass wir mit der heutigen Bibellesung aus Micha etwas Ähnliches tun: Dass wir am Ende der Lesung beginnen, mit der bewegenden Beschreibung des Lebens nach der gewaltsamen Auseinandersetzung, und uns dann rückwärts durch die Lesung arbeiten, um zu planen, wie wir dorthin gelangen können.

Michas Beschreibung des Friedens mag uns sehr vertraut sein. Deshalb ist sie nicht weniger bewegend. Hört mir noch einmal zu. Uns wird die Umwandlung von Massenvernichtungswaffen in Werkzeuge zur Massenproduktion versprochen (Vers 3), damit alle satt werden. Es wird uns gesagt, dass der Kampf aus dem Lehrplan gestrichen wird, weil diese Fähigkeiten überflüssig sind – „und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Vers 4). Es wird uns versichert, dass jeder Mensch einen Platz haben wird, der ihm gehört – einen Feigenbaum oder einen Weinstock, unter dem er sitzen kann – und dass er sich nicht fürchten muss, wenn er dort sitzt (Vers 4).

Ich weiß nicht, wie ihr diese Beschreibung des Lebens nach den Feindseligkeiten charakterisieren würdet. Für mich ist sie nicht arrogant oder gierig, sondern fasst einfach die Grundlagen zusammen, die Menschen brauchen, um gut zu leben, um zu gedeihen: Nahrung, Heimat, Sicherheit. Diese Einfachheit hat etwas Wunderschönes an sich. Sie führt uns zu dem zurück, was wirklich wichtig ist: Nahrung, Heimat, Sicherheit.

Diese Dinge mögen grundlegend sein, aber wie vielen Menschen auf der Welt fehlt es daran! Wie viele Menschen hungern, haben kein Dach über dem Kopf, sind weit weg von zu Hause und werden von der lähmenden Angst wachgehalten, wie sie ihre Kinder in Sicherheit bringen sollen. Wie kommen wir um dieser Menschen und ihrer Kinder willen, um unserer eigenen Kinder willen, zu Michas Vision, zu der Zukunft, die Gott verheißt? Arbeiten wir uns rückwärts durch unsere Lesung.

Zunächst müssen wir verstehen, dass dies das Werk Gottes ist. Gott „wird richten”, sagt Micha, „Gott wird schlichten“, „Gott wird sprechen“, und diese universelle Versöhnung wird sich ereignen (Verse 3 bis 4).

Dass die Versöhnung in erster Linie Gottes Werk ist, soll uns ermutigen und trösten und ein Gegenmittel gegen die Überwältigung sein, die wir empfinden, wenn wir die Verwundbarkeit der Welt betrachten. Die britisch-somalische Dichterin Warsin Shire drückt diese Überwältigung kraftvoll aus. Sie schreibt:

later that night

I held an atlas in my lap

ran my fingers over the whole world

and whispered

where does it hurt?

It answered

everywhere

everywhere

everywhere.

später in dieser Nacht

hielt ich einen Atlas in meinem Schoß

ließ meine Finger über die ganze Welt gleiten

und flüsterte

wo tut es weh?

Er antwortete

überall

überall

überall.

Wir sehen die Nachrichten, scrollen auf unseren Handys und spüren das „Überall“, das uns in Untätigkeit erstarren lässt. Wie können wir auf das „Überall“ reagieren? Es ist zu viel für uns.

Es ist zu viel für uns, aber nicht zu viel für Gott. Das „Überall“ ist Gottes Territorium. Gott ist derjenige, der „zwischen vielen mächtigen Völkern“ (Vers 3) für Ausgleich sorgen wird. Wir müssen unseren Glauben an das Versöhnungswerk Gottes wiedergewinnen – davon sprechen, darauf hinweisen, denn die Menschen haben die Hoffnung verloren. Selbst den Gläubigen fällt es schwer, angesichts von so viel Schmerz und Verzweiflung davon zu sprechen. Wir müssen wieder sicher und selbstbewusst mit der Hoffnung umgehen können, den Menschen sagen, dass Gott der große Versöhner ist, dass Gott dies tun wird.

Aber damit sind wir noch nicht aus dem Schneider. Wir dürfen nicht passiv oder gleichgültig gegenüber den Verwerfungen sein, die uns trennen. Nein, in unserer Lesung aus Micha gehen wir noch einmal zurück: Wir sollen Gott erlauben, „uns seine Wege zu lehren“, wir sollen „in seinen Pfaden wandeln” (Vers 2). Dieses Werk der Versöhnung ist Gottes Werk und es ist auch das unsere. Hört: Die Gründungsschrift der Kathedrale von Coventry sagt: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber“ – uns – „und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Korinther 5, Vers 18).

Wir sollen offen dafür sein, dass Gott uns seine Wege der Versöhnung lehrt, und dann sollen wir ihnen folgen, nicht für das „Überall“, das Gott gehört, sondern für das „an meinem Ort“, das uns gehört. In einem Gedicht, das eine Antwort auf die Qualen des „Überall“ von Warsin Shire gibt, schreibt Gideon Heugh dies:

Do not be afraid—

to complete the repair of the world

is not why you were made.

You were created to play

only your part;

whatever is within your hands;

whatever is the now of your heart.

Habt keine Angst –

die Reparatur der Welt zu vollenden

ist nicht der Grund, warum du geschaffen wurdest.

Du wurdest erschaffen, nur

um deine Rolle zu spielen;

was immer in deinen Händen liegt;

was immer das Jetzt Deines Herzens ist.

Wenn wir uns um die Versöhnung vor Ort kümmern, um das, was in unseren Händen liegt, um das „Jetzt“ unseres Herzens, was sollen wir dann von Gott lernen? Was kennzeichnet Gottes Versöhnungswerk – und was soll also unser eigenes prägen? Ich möchte behaupten, dass Gottes Versöhnungswerk beharrlich, zärtlich und kreativ ist.

Vermutlich habt ihr noch nicht viel Zeit damit verbracht, die Genealogie am Anfang des Matthäus-Evangeliums zu lesen. Die lange Liste der Namen von Jesu Vorfahren ist vielleicht nicht sehr fesselnd. Man kann die Genealogie aber auch als Aufzeichnung von Gottes beharrlichem Bemühen um Versöhnung mit der Menschheit lesen, denn sie listet Patriarchen, Könige und Propheten auf, durch die Gott versucht hat, uns zu sich zu ziehen. Durch viele Generationen hindurch, durch Hungersnöte, Exodus, Besiedlung, Exil und Rückkehr, sind hier Gottes beharrliche Versuche zu sehen, wieder mit uns eins zu werden.

Gott ist beharrlich in der Versöhnung. Gott wird nicht aufgeben. Und Gott ist zärtlich in der Versöhnung. Durch den Propheten Hosea vergleicht Gott sich selbst mit einer Mutter, die Israel pflegt, ihm das Laufen beibringt, es sanft hochhebt, um es auf die Wange zu küssen (Hosea 11, Vers 1 bis 4). Durch Rebellion und Ablehnung hindurch bleibt diese Zärtlichkeit bestehen. Gott kann von dieser Zärtlichkeit nicht ablassen.

Gottes versöhnende Wege, denen wir folgen sollen, sind beharrlich, zärtlich und kreativ. Wie das? Schaut euch einfach die Menschen an, die Gott benutzt, die Strategien, die Gott einsetzt. In der Genealogie des Matthäus sehen wir, dass Gott in Rahab, Rut und Batseba durch eine Prostituierte, eine Ausländerin und eine Ehebrecherin auf Versöhnung hinarbeitet, und in uns selbst sehen wir, wie Gott durch gutherzige, aber zutiefst fehlerhafte Menschen auf Versöhnung hinarbeitet. Und dann sehen wir in der Menschwerdung Jesu Christi die Vorstellungskraft, die Risikobereitschaft Gottes, der das Unendliche endlich macht, um uns irgendwie zu Gott nach Hause zu bringen.

Wenn Gott uns Gottes Wege zur Versöhnung lehrt, lernen wir, dass wir beharrlich, zärtlich und kreativ sein müssen, damit wir irgendwie Gemeinsamkeiten entdecken und aus Feindschaft Freundschaft schmieden können.

Wir müssen in unserer Lesung aus Micha ein letztes Mal einen Schritt zurückgehen, um herauszufinden, was für uns heute besonders wichtig ist, wenn sich die Hamburger Hauptkirchen dem Versöhnungsnetzwerk der Kathedrale von Coventry, der Gemeinschaft des Nagelkreuzes, anschließen. „Kommt, lasst uns gehen”, sagt eine Stimme in unserer Lesung (Micha 4, Vers 2) und erinnert uns so an die Bedeutung von Gemeinschaft in diesem Werk der Versöhnung. Wir brauchen Menschen, die uns bei unserer Arbeit anspornen und aufmuntern.

Heute schließt ihr euch einer Gemeinschaft von mehr als 260 Partner:innen weltweit an, die für euch beten werden und ihre Geschichten mit euch teilen werden; die euch sagen werden: „Der Berg der Versöhnung ist steil, aber klettert weiter“. Die auch auf euch schauen werden, um sich ermutigen zu lassen, die sich darauf verlassen, dass ihr für sie beten werdet und sagen werdet: „Kommt, lasst uns gehen…“

Indem ihr heute diese Nagelkreuze empfangt, verpflichtet ihr euch erneut zum Werk der Versöhnung. Dabei denkt daran: Das „Überall“ der Versöhnung gehört Gott. Ihr seid aufgerufen, von Gott zu lernen, wie ihr beharrlich, zärtlich und kreativ in der Versöhnung sein könnt, zu der ihr aufgerufen seid – hier bei euch –, was auch immer in euren Händen liegt, was auch immer das „Jetzt“ eurer Herzen ist. Und denkt daran: Ihr seid jetzt Teil einer Gemeinschaft. Erlaubt dieser Gemeinschaft, euch zu ermutigen. Betet auch für eure neuen Schwestern und Brüder, dass ihr, die ihr jetzt zu dieser Gemeinschaft gehört, Hoffnung und neues Leben für sie seid.

Amen.

Autorin: Canon Mary Gregory, Übersetzung: Niels Faßbender

Nagelkreuz in allen fünf Hamburger Hauptkirchen

Grußwort des Vorstands

Am Sonntag (10. November 2024) erhalten die Hamburger Hauptkirchen St. Jacobi, St. Michaelis, St. Nikolai und St. Petri ein Nagelkreuz. St. Katharinen ist schon seit 1961 Nagelkreuzzentrum, das Mahnmal St. Nikolai hat seit 1995 ein Nagelkreuz. Alle Hamburger Hauptkirchen haben dann ein Nagelkreuz. Aus Anlass der Übergabe findet an dem Wochenende in Hamburg ein umfangreiches Festprogramm statt. Hier lesen Sie das Grußwort, das Niels Faßbender den Hamburger:innen im Namen des Vorstands der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. überbracht hat.

Liebe Hamburgerinnen, liebe Hamburger,

liebe Nagelkreuzgemeinde,

1995 – ein Jahr nach dem Abitur – war ich das erste Mal in meinem Leben in dieser wunderbaren Stadt. Um genauer zu sein: Im Juni 1995, zum 26. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Das Motto damals war Micha 6, 8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“.

Damals, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, waren viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen unbeantwortet; für manch eine:einen verbunden mit der Hoffnung, dass uns als Antwort mehr gelingt als eine Fortschreibung der alten BRD. Mitte der 1990er Jahre war die Arbeitslosenquote in Deutschland hoch, vor allem in Ostdeutschland hatten viele Menschen ihre Arbeitsplätze verloren und bangten um ihre Zukunft. Gleichzeitig gab es in den 1990er Jahren eine Zunahme von rechtsextremen Vorfällen und Gewalt gegen Ausländer, Asylbewerber und Minderheiten. Grauenhafte Brandanschläge in Solingen und Rostock Anfang der 1990er Jahre erschütterten unser Land. Seit 1991 herrschte Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Im Sommer 1995 wurden beim Massaker von Srebrenica über 8.000 Menschen ermordet. „Nie wieder Krieg, nie wieder Völkermord“ – welchen Wert hatten diese Mahnungen noch, mit denen wir aufgewachsen waren? Und dann war da auch noch die Physik. So langsam dämmerte uns, dass der Planet immer wärmer wird – zu warm – wenn wir so weitermachen wie bisher. Die Verabschiedung des Kyoto-Protokolls (1997) war zwar noch ein wenig entfernt, aber der Druck zur Entwicklung einer globalen Umweltpolitik war bereits deutlich zu spüren.

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“! Für die, die es noch nicht verstanden haben, bringt Micha es auf den Punkt: „Nichts als Recht tun, Güte lieben und demütig sein vor deinem Gott“.

  • In einer Zeit, in der viele mit Ungerechtigkeit konfrontiert waren, etwa durch Arbeitslosigkeit oder gesellschaftliche Benachteiligungen, erinnert uns der Prophet daran, dass die Suche nach sozialer Gerechtigkeit wichtig ist. „Recht tun“ bedeutet, für Gerechtigkeit einzutreten, im Wirtschaftlichen wie im Sozialen.
  • Gesellschaftliche Spannungen und Ängste, rechtsextreme Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, das Schicksal der Flüchtlinge: „Güte lieben“ bedeutet, Menschen nicht aufgrund von Herkunft oder Hintergrund oder welcher Merkmale auch immer abzulehnen, sondern ihnen mit Wertschätzung und Mitgefühl zu begegnen.
  • In Zeiten schnellen Wandels durch Globalisierung und Technologie neigen wir Menschen zu glauben, dank unbegrenzten Fortschritts und Wachstums trotz aller ungelösten Fragen die Kontrolle zu behalten. „Demütig sein vor deinem Gott“ mahnt uns, unsere Grenzen zu respektieren – in der Natur, in der Gesellschaft und im Umgang miteinander.

Jetzt, fast dreißig Jahre später, bin ich wieder in Hamburg, mal wieder. Es war uns doch gesagt, Mensch, was gut ist. Ist die Welt seitdem eine bessere geworden?

Vermutlich haben viele von ihnen vorgestern Abend ähnlich fassungslos wie ich vor dem Fernseher gesessen. Ausgerechnet Donald Trump, der in seinem Wahlkampf gegen Ausländer gehetzt, den Reichen Steuersenkungen versprochen und eine Rücknahme der Klimaschutzmaßnahmen seines Vorgängers angekündigt hat – ausgerechnet dieser Donald Trump verspricht bei seinem ersten Auftritt nach dem Wahlsieg, er werde das Land „heilen“. Und als ob das – neben Ukraine, Nahem Osten, AfD, Klimawandel usw. nicht genug wäre – platzt dann in den Abend auch noch die Nachricht: Die Ampel ist Geschichte. Preisanstiege, einstürzende Brücken, drohender wirtschaftlicher Abschwung. Und heute erschüttern uns die Nachrichten aus Amsterdam, wo gestern israelische Fußballfans angegriffen und verletzt wurden.

Mensch, ist uns wirklich gesagt, was gut ist? Ja, das ist es. Um mit Erich Kästner zu sprechen: „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“ Gibt es sie noch, die Menschen, die Gutes tun?

Ja, die gibt es! Genau deswegen sind wir heute Abend hier zusammengekommen. Deshalb ist Mary Gregory, Canon an der Kathedrale von Coventry, an diesem Wochenende hier in Hamburg. Deshalb bin ich an diesem Wochenende als Mitglied des Vorstands der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. bei Ihnen. Deshalb sitzen Sie vermutlich alle hier. Deshalb haben Sie, liebe Mitarbeiter – haupt- wie ehrenamtlich – der Hamburger Hauptkirchen für dieses Wochenende ein großartiges Festprogramm auf die Beine gestellt. Deshalb erhalten die Hamburger Hauptkirchen St. Nikolai, St. Petri, St. Michaelis und St. Jacobi am Sonntag das Nagelkreuz von Coventry. Deshalb hat St. Katharinen schon seit 1961 ein Nagelkreuz, das Mahnmal St. Nikolai am Hopfenmarkt schon seit 1995.

Und warum? Weil euch gesagt ist, Hamburger:innen, was gut ist. Und weil ihr nicht nur darüber redet, sondern weil ihr handelt. Weil ihr seit vielen Jahren Gutes tut in dieser Stadt.

In St. Jacobi:

  • begegnen sich bei interreligiösen Frauennachmittagen Christinnen und Muslima
  • plant die „Soziale Initiative City“ zum Wohle kranker und obdachloser Mitbürger,
  • sind einmal im Jahr Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, zu St. Jacobs Mahlzeit eingeladen; sie sitzen als Gäste an einem feierlich gedeckten Tisch und werden mit einem Drei-Gänge-Menü bedient.

Sie verzeihen mir, dass ich unmöglich alles aufzählen kann, hier wie bei den weiteren künftigen Nagelkreuzzentren, sondern nur Beispiele nenne – es ist Wahnsinn, wieviel Gutes in dieser Stadt passiert!

In St. Michalis:

  • konnten zwei Glocken, die im ersten Weltkrieg eingeschmolzen worden waren, mithilfe von Spenden neu gegossen werden. Eine der Glocken ist als Friedensglocke geweiht und trägt in vier Sprachen das „Vater vergib“ aus dem Versöhnungsgebet von Coventry. Zusammen mit dem Gebetsbitten des Vaterunser steigt diese Friedensbitte auf über die Stadt und das Land und in den Himmel, wann immer die Glocke beim Vaterunser angeschlagen wird.
  • Michaelis ist ein wichtiger Ort des Gedenkens und Erinnerns: Am 27. Januar zusammen mit der Hamburger Autorenvereinigung an die Opfer des Holocaust. Rund um den 20. April an die von den Nazis ermordete Kinder vom Bullenhuser Damm. Rund um den 9. November zusammen mit der katholischen Nachbargemeinde St. Ansgar-Kleiner Michel an die Opfer der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft. Am Volkstrauertag als Ort zentralen Gedenkens von Senat, Bürgerschaft und Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge.

St. Nicolai:

  • ist Eigentümerin des historischen Kirchturms, der bei den Luftangriffen im Sommer 1943 zerstört wurde. Regelmäßig finden an dem Mahnmal Andachten statt, bei denen auch das Versöhnungsgebet von Coventry gesprochen wird. Einige werden sich an den Besuch von König Charles III. im Frühjahr 2023 in Hamburg erinnern, als er am Mahnmal St. Nikolai einen Kranz niederlegte und dort das Versöhnungsgebet gesprochen wurde.
  • Eine Stolperstein-Projektgruppe befasst sich mit den Lebensgeschichten jüdischer Bürger:innen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgt und ermordet wurden, und organisiert Patenschaften für neue Stolpersteine.
  • Gemeindeglieder haben Paketaktionen für ukrainische Schüler:innen organisiert. In Kooperation mit „Hege Helping Hands“ betreibt St. Nicolai eine Tafel „Mit Laib und Seele”. Und in Kooperation mit der Wichernschule werden jährlich Kinder-Bischöf:innen eingesetzt, die für die Rechte von Kindern eintreten.

St. Petri;

  • ist wegen ihrer örtlichen Nähe zu Rathaus und Bürgerschaft immer wieder Ort für Gottesdienste in existentiell belastenden Situationen für die Stadtgesellschaft, zum Beispiel für die Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Notfallseelsorgeteams nach dem Amoklauf im März 2023.
  • Jeden Donnerstag gibt es einen Mittagstisch für Bedürftige Menschen, bei dem es mit der leiblichen Unterstützung auch um Gemeinschaft und Wertschätzung für Menschen geht, die üblicherweise ausgegrenzt werden.
  • Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Verständigung zwischen den christlichen Kirchen und der Dialog mit anderen Religionen. Es gibt ökumenische Gottesdienste, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, um das gegenseitige Verständnis zu vertiefen.

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“. Das liebe ich an euch Hanseaten. Nicht lange schnacken. Einfach machen!

Nein, die Welt ist in den letzten dreißig Jahren nicht besser geworden. Trotzdem erhalten am Sonntag vier Hauptkirchen das Nagelkreuz von Coventry. In allen Hamburger Hauptkirchen wird dann ein Nagelkreuz stehen. Ich wünsche uns, dass die Kreuze, wo immer wir sie sehen, uns ermutigen und vergewissern:

Eine bessere Welt ist denkbar. Wir dürfen daran glauben. Hier steht dieses Nagelkreuz, weil genau hier ein Teil dieser besseren Welt verwirklicht ist. Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut ist.

Hier beten und arbeiten Menschen, die Angst, Zerstörung, Hass und Krieg nicht das letzte Wort überlassen. Hier beten und arbeiten Menschen, die mich und dich so annehmen, wie Gott uns angenommen hat. Hier beten und arbeiten Menschen, mit denen wir nicht nur in unserem christlichen Glauben, sondern auch im Geist von Coventry in der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft für eine friedlichere, gerechtere und versöhntere Welt verbunden sind.

Es ist uns gesagt, Menschen, was gut ist.

Ich freue mich sehr, dieses Wochenende hier bei Ihnen in Hamburg zu sein. Ich grüße Sie sehr herzlich im Namen des Vorstands der Nagelkreuzgemeinschaft. Wir freuen uns riesig, dass Sie mit Ihrer beeindruckenden Versöhnungsarbeit nun bald offiziell Nagelkreuzzentren und Mitglieder unseres Vereins sind. Ich danke allen, die mit mit viel Kraft und Zeit jeden Tag dazu beitragen, dass diese Welt ein Stück besser wird. Ich danke auch allen, die dieses Wochenende organisiert haben und natürlich Mary Gregory, die aus Coventry zu uns gekommen ist und auf deren Vortrag ich jetzt sehr gespannt bin. Auf eine gute Zusammenarbeit! Auf ein gelungenes Wochenende!

Liebe Nagelkreuzgemeinde, liebe Menschen in Hamburg und in unserer weltweiten Gemeinschaft: es ist uns gesagt, was gut ist.

Glück auf!

Autor: Niels Faßbender

 

Internationaler Nagelkreuzsonntag 2024: Oliver Schuegrafs Predigt zum Michaelistag in Coventry

Am 29. September 2024 war internationaler Nagelkreuzsonntag und zugleich Gedenktag des Erzengels Michael. In der Kathedrale von Coventry wurde deshalb nicht nur die Verbundenheit unserer Gemeinschaft in Gebet und im Versöhnungsdienst gefeiert, sondern auch an den Heiligen Michael erinnert, den Namensgeber der Kathedrale. Unser Vorsitzender und Ehrenkanoniker der Kathedrale, Dr. Oliver Schuegraf, hielt die hier dokumentierte Predigt. Sie orientiert sich am Vorschlag der Arbeitsgruppe, die die liturgischen Bausteine für den diesjährigen Nagelkreuzsonntag erarbeitet hatte, und die sich in diesem Jahr aus Mitgliedern der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft zusammensetzte. Predigttext ist Genesis 3, Verse 1 bis 13 und 23-24. Die vorgeschlagenen Bausteine für den Nagelkreuzsonntag– auch aus vergangenen Jahren – finden Sie auf hier.

Der Heilige Michael ist nicht immer derselbe Heilige Michael. In der Kunstgeschichte kann er ganz unterschiedliche Erscheinungsbilder haben. In der Kirche meiner ehemaligen Gemeinde hatten wir eine Figur des Heiligen Michael direkt über dem Altarraum. Er war einer dieser niedlichen Barockengel. Ein bisschen pausbäckig, freundlich aussehend. Wie anders ist der Heilige Michael von Coventry. Überlebensgroß, mit ausgebreiteten Armen und Beinen. Ein Speer in seinen Händen. Hoch aufragend über der gefesselten Gestalt des gehörnten Teufels. Außerdem ist dieser besiegte Teufel in Coventry kein Drache, sondern eine menschliche Figur.

Jacob Epstein: St Michel’s Victory over the Devil, Bronze, Coventry 1958. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Wenn Sie das Buch der Offenbarung kennen, wissen Sie, wer dieser Drache mit menschlichen Zügen ist. Er ist kein anderer als die alte Schlange, der Versucher aus der Paradieserzählung.

Wir feiern heute nicht nur das Patronatsfest der Kathedrale, sondern auch den Nagelkreuz-Sonntag. Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft wurde in diesem Jahr gebeten, das Material für diesen Sonntag zusammenzustellen, der hoffentlich alle Partner in unserem internationalen Versöhnungsnetzwerk miteinander verbindet. Und unsere deutsche Vorbereitungsgruppe hat beschlossen, sich mit der Geschichte von Adam und Eva – und der Schlange – näher zu befassen.

In Ihrem Gottesdienstheft finden Sie eine Illustration zu dieser bekannten Geschichte. Die Abbildung zeigt ein Detail der Bronzetüren des Hildesheimer Doms. Sie sind über eintausend Jahre alt und gehören zu den frühesten Beispielen für figürlich-plastische Darstellungen biblischer Geschichten. Die Menschen des frühen Mittelalters müssen davon überwältigt gewesen sein. Insgesamt haben die Türen eine Höhe von fast fünf Metern. Das Herantreten an das Portal muss atemberaubend gewesen sein. Die Gläubigen bestaunten die Tür und wurden mit einer bildlichen Reise der ersten Menschen in immer tiefere Verstrickung in Schuld, immer größere Entfernung von Gott, immer größere Nähe zum Bösen konfrontiert.

Schauen wir uns die Szene genauer an. Es wird ein Spiel des Mit-dem-Finger-Zeigens dargestellt: Adam und Eva haben getan, was sie nicht hätten tun sollen. Gott zeigt mit dem Finger auf sie. „Du, Adam! Warum hast du von der verbotenen Frucht gegessen?“ Gott will eine Antwort von seinem Geschöpf. Man könnte sagen, er macht ihn verantwortlich. Und Adam? Er sieht unglücklich aus. Kein Zweifel: Er weiß genau, was richtig und falsch ist. Er weiß, was richtig ist, und doch tut er, was falsch ist. Er wendet seinen Blick ab, duckt sich weg und schiebt die Verantwortung einfach ab. Noch mehr Zeigen-mit-dem-Finger: „Ich war es nicht! Sie war es!“ Er sieht bemitleidenswert aus, wie er so verzweifelt versucht, sein Feigenblatt festzuhalten, die Schuld auf Eva zu schieben und so unschuldig wie möglich zu erscheinen.

Wir Menschen haben ein ganzes Repertoire an Strategien, um mit Schuld und schlechtem Gewissen umzugehen. Eine Strategie ist das Abwälzen der Schuld. Adam ist ein Experte in dieser Taktik.: „Die Frau, die du mir gegeben hast, um mit mir zusammen zu sein“, sagt er. „Sie hat mir die Frucht gegeben“. Das ist natürlich etwas ganz anderes als zu sagen: „Die Frucht sah gut aus. Ich habe das Angebot gerne angenommen.“ Man könnte fast meinen, er sei gezwungen worden, die Frucht zu essen, und habe keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Adam, was übersetzt „Mensch“ heißt – und oft genug bedeutet: wir – zeigt mit dem Finger auf jemand anderen, und auf dem ausgestreckten Finger rutscht die Schuld von einer Person zur nächsten.

Neben der Schuldverschiebung ist noch eine zweite Strategie am Werk. Adam scheint sein Handeln auch zu normalisieren, nach dem Motto: „So falsch kann es doch nicht sein, das macht doch jeder.“ Die Grenzen zwischen anständigen und fragwürdigen Handlungen beginnen sich zu verschieben. „Die Frau hat von der Frucht gegessen, warum sollte ich nicht auch einen Bissen nehmen?“

Und Eva? Sie wendet die gleiche Strategie an wie Adam: „Ich konnte nicht anders, die Schlange hat mich verführt“, sagt sie und will mit dem ausgestreckten Zeigefinger die Schuld auf den nächsten in der Reihe abwälzen: Sie reicht den Schwarzen Peter an die Schlange zu ihren Füßen weiter, die ein bisschen wie ein kleiner Drache aussieht. Eva sieht unglücklich, fast flehend aus, scheinbar im vollen Bewusstsein, dass etwas zerstört wurde, als sie Gottes Gebot nicht gehorchte. Wenn sie doch nur all das ungeschehen machen könnte! Im Gegensatz zu Adam schafft sie es, Gott anzuschauen, sich dem Vorwurf zu stellen. Aber es fällt ihr zu schwer, Verantwortung zu übernehmen.

Hier kommt eine dritte beliebte Strategie zum Tragen: die Verharmlosung. Eva nimmt einen Teil der Schuld auf sich, spielt aber die ganze Angelegenheit herunter: „Es war nur ein kleiner Bissen. Ich habe die Frucht kaum mit den Lippen berührt…“ Die Verharmlosung ist wie ein winziges Schuldeingeständnis, wenn man auf frischer Tat ertappt wurde, und damit ein winziges Stückchen „Recht“ in all dem Unrecht.

Wenn wir uns das ganze Relief noch einmal anschauen, zeigt sich ein bestimmtes Muster, das die Figuren miteinander verbindet: Es beginnt mit dem prüfenden Blick Gottes und seinem Zeigefinger, über Adams abgewandte Augen zu Eva, über ihren Rücken und ihre Beine zu der sich nach oben windenden Schlange. Wir sehen eine Spirale von Schuld und Abwälzung der Verantwortung.

Erst fünfhundert Jahre nach der Entstehung dieser Bronzetafel hat Martin Luther einen Begriff für das Dargestellte geprägt: Der Mensch ist „incurvatus in se ipsum“, in sich selbst gekrümmt. Wir sind so verbogen und krumm, dass wir gar nicht merken, wie egozentrisch wir sind, wie wir uns von Gott abwenden, nicht nach seinem Willen fragen, seine Gnade nicht sehen.

Hildesheimer Dom: Bernwardstür (Detail), Bronze, Hildesheim ca. 1015. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

So realistisch und vertraut das Verhalten von Adam und Eva ist, so sehr gibt uns die Bibel, Gott sei Dank, auch andere, gute Vorbilder. Denken Sie nur an den barmherzigen Samariter in Lukas 10. „Als er den Verwundeten sah, hatte er Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ich auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und pflegte ihn.“ Auf den ersten Blick mag seine Körperhaltung der von Adam ähneln, aber seine Handlungen sind das genaue Gegenteil: Auch der Samariter bückt sich, er beugt sich zu Boden, aber er tut es, um aufzurichten. Er kümmert sich um den verletzten Mann. Wie leicht hätte er eine ganze Reihe von Ausreden finden können, um nicht zu helfen:

Erinnern Sie sich an die Verharmlosung? „Das ist doch nur ein Israelit. Gut, dass wir ihn los sind!“ Abwälzung der Schuld: „Ich habe ihn nicht geschlagen, also muss ich mich nicht um seine Wunden kümmern.“ Oder Normalisierung: „Wenn zwei seiner eigenen Leute einfach vorbeigegangen sind, warum sollte ich dann helfen?“ Aber er bagatellisierte nicht, er wälzte die Schuld nicht ab, er versuchte nicht, die Situation zu normalisieren.

Er sah in dem Verletzten einen einen Fingerzeig Gottes. Vielleicht hat er erkannt, dass es eher eine Ehre ist, wenn Gott mit dem Finger auf uns zeigt. Es bedeutet, dass Gott uns nicht auf die leichte Schulter nimmt, im Gegenteil. Er betraut uns mit Verantwortung. Trotz all unserer Fehler will er uns immer noch in die Augen sehen.

Und denken Sie daran: Ja, Adam und Eva wurden aus dem Garten Eden vertrieben und die Cherubim – weitere Engel mit Speeren für das heutige Patronatsfest – wurden eingesetzt, um die Rückkehr ins Paradies unmöglich zu machen. Doch Gott hat die beiden nicht einfach im Stich gelassen. Bevor er sie wegschickte, gab er ihnen Kleidung; sie sollten geschützt bleiben.

Wie steht es mit uns heute? Klimawandel, bewaffnete Konflikte rund um den Globus, Ungerechtigkeiten auf allen Ebenen, Aushöhlung gemeinsamer Überzeugungen in der Gesellschaft – was kann der Einzelne tun? Unsere Ohren sind jetzt geschult: Trivialisierung! „Ich bin ganz allein. Mein kleiner Beitrag macht keinen Unterschied.“ Der Samariter hat uns gezeigt, dass das nicht stimmt. Er war nur einer, ein Außenseiter noch dazu, und er hat weder die Welt gerettet noch den Konflikt zwischen Samaritern und Israeliten beendet. Aber für den, der halbtot im Graben lag, machte er den Unterschied aus.

Beziehen wir Stellung, wenn sich die Positionen in der Gesellschaft verschieben, wenn Feindseligkeiten zu verbalen und körperlichen Übergriffen eskalieren? Wenn einige Leute immer wieder sagen, dass Fremde, Migranten an allem schuld sind, dann ist es leicht zu glauben, dass alle so denken. Soll ich mich also dem wütenden Mob auf der Straße anschließen? Ist es wirklich so schädlich, radikale und extremistische Parteien zu wählen? Ich will nur ein Zeichen des Protests gegen die etablierten Parteien setzen. So schlimm werden sie nicht sein.

Der Samariter interessierte sich weder für Politik noch für die Feindseligkeiten zwischen seinem Volk und den Israeliten. Er sah einen Menschen in Not und kümmerte sich um ihn, denn es sollte nicht normal sein, dass jemand halbtot in einem Graben liegt. Er versicherte ihm sogar: „Ich werde wiederkommen.“ Er baute eine Beziehung auf, anstatt bequem Vorurteilen oder der Führung anderer zu folgen.

Ein weiteres Beispiel: Schuldverschiebung ist eine Strategie, die wir oft anwenden, wenn es um Entscheidungen geht, die wir als Kunden und Verbraucher treffen: „Ich kann nichts dafür. Ich kann nur das kaufen, was angeboten wird.“ Das stimmt. Aber muss ich den Kauf wirklich tätigen? Auch wenn ich weiß, dass die Produktion meiner Lebensmittel, meiner Kleidung, meiner Elektronik auf Ausbeutung beruht und auf Kosten der Gesundheit und des Lebens anderer geht? Wir wissen bereits, was wir von dem Argument „aber das macht doch jeder“ zu halten haben. Mein Kauf ist meine Entscheidung und damit meine Verantwortung. Meine Kaufverweigerung ist auch eine Entscheidung. Das Angebot wird sich ändern, wenn sich die Nachfrage ändert. „Aber ich allein kann doch nichts ändern!“ Das haben wir doch schon einmal gehört, oder?

Dr. Oliver Schuegraf. Foto: Martin Williams

Es ist uns nicht möglich, den Weg zurück ins Paradies zu finden, der Wiedereintritt wird von den wachenden Cherubim verweigert. Dennoch können wir versuchen, die Welt, in der wir leben, zu einem besseren Ort zu machen. Diese Aufgabe ist langwierig, mühsam, manchmal lohnend und oft frustrierend. Dennoch ist Nichtstun angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, keine Option. Es lohnt sich, nicht auf die Schlange zu hören, die uns mit der bösen Botschaft verführt: Es ist normal, es ist keine große Sache, es ist die Schuld der anderen.

Es ist die Mühe wert, nicht krumm und in sich gekrümmt zu bleiben. Im Vertrauen auf Gottes Gnade können wir aufrecht stehen und all jene Situationen und Menschen aufrichten, die Freiheit, Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität brauchen. Wir können auf den ausgestreckten Finger Gottes mit einem klaren „hier bin ich“ antworten. Erstaunt, vielleicht sogar dankbar, dass er uns immer noch sein Vertrauen schenkt und uns Verantwortung anvertraut, so dass wir uns weder vor ihm verstecken noch in Scham vor ihm beugen müssen. Das möge Gott uns allen schenken. Amen.

Autor: Dr. Oliver Schuegraf, Übertragung ins Deutsche: Niels Faßbender.

 

„Mir fällt kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre“ – Eine Freiwillige berichtet aus Coventry

Foto: Sabrina Gröschel

Jährlich leisten junge Frauen oder Männer als Freiwillige des Nagelkreuzzentrums Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) einen zwölfmonatigen Friedensdienst an der Kathedrale von Coventry. Die Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. unterstützt diese Arbeit u. a. mit einem jährlichen finanziellen Zuschuss von zurzeit 4.000 €. Seit September 2023 ist Lea Rischmüller aus Hildesheim in Coventry. Vor einiger Zeit hat sie an Aktion Sühnezeichen über ihren Aufenthalt berichtet. Wir freuen uns, ihre ersten Eindrücke auch hier abdrucken zu können.

Ich bin Lea Rischmüller, 19 Jahre alt und mein Weg zu ASF hat eigentlich in Weston-super-Mare angefangen, der englischen Partnerstadt meiner Heimatstadt Hildesheim. Wann immer ich hier jemandem davon erzähle, schaue ich in entsetzte Gesichter – die Stadt ist wohl nicht unbedingt für ihre Schönheit bekannt. Aber dorthin habe ich mit 14 einen Austausch gemacht und hatte seitdem so ein Gefühl, dass ich gerne mal eine längere Zeit in Großbritannien verbringen würde. Auch wenn ich als unabhängige kleine Schwester natürlich gerne behaupten würde, dass ich selbst das Konzept Freiwilligendienst für mich entdeckt hätte, war es wohl meine große Schwester, durch die ich darauf gestoßen bin. Ich interessiere mich außerdem sehr für Politik und Geschichte, also habe ich mich im Herbst letzten Jahres bei mehreren Freiwilligendienstorganisationen beworben, die Projekte in der politischen bzw. historischen Bildungsarbeit und in Großbritannien anbieten. Der Bewerbungsprozess hatte mich schon in ein, zwei mittelschwere persönliche Krisen gestürzt, als im Februar 2023 das Angebot von ASF kam, dass ich mit ihnen einen Freiwilligendienst in der Kathedrale von Coventry in England machen könnte. Das hat sich direkt ziemlich richtig angefühlt, ich habe den unterzeichneten Vertrag abgeschickt und mich gefreut. Mit dem großen Muffensausen musste ich dann hauptsächlich in der Woche vor meiner Ausreise fertig werden. Ich weiß noch genau, wie ich krank in meinem Bett lag und mich selbst ganz wehleidig gefragt habe, warum ich überhaupt jemals nach England wollte, obwohl das ja unendlich weit weg ist; was passiert, wenn ich dort krank werde und sich niemand um mich kümmert; und mir eingeredet habe, dass ich nicht mal ein paar Tage in Coventry überstehen werde. So drehte sich die Gedankenspirale in mir abwärts, aber egal, wie sehr ich mich in meinem vermeintlichen Leid gesuhlt habe, für einen Rückzieher war es eh zu spät. Am 4. September 2023 saß ich letztendlich doch mit meinen zwei Koffern und meinem Rucksack im Zug auf dem Weg zum Vorbereitungsseminar.

Hilltop – Ausgangspunkt der „Coventry Story”

Die Seminartage in Krakau und London waren aufregend und cool, aber vor allem auch zu viel. Zu viele neue Menschen, zu viele Eindrücke und zu viel Realisation, dass dieses Auslandsjahr, was ich mir so lange in meinem Kopf ausgemalt habe, jetzt wirklich passiert. Zehn Tage später sind meine Mitfreiwillige Blanka und ich dann entsprechend übermüdet und überfordert in Coventry angekommen. Dort wurden wir sehr nett von Alice, der Zuständigen für Freiwillige in der Kathedrale, empfangen und in ihrem kleinen roten Fiat einzeln (für drei Menschen und vier Koffer war leider nicht genug Platz) vom Bahnhof zu unserer Wohnung gebracht. Was genau wir in den ersten Tagen gemacht haben, verschwimmt ein bisschen in meinen Erinnerungen, aber wir wurden auf jeden Fall sehr vielen Mitarbeitenden an der Kathedrale vorgestellt und haben versucht, uns in den Gebäuden und Fluren zurechtzufinden. Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie am Tag der offenen Tür an meiner weiterführenden Schule und war mir sehr sicher, dass ich mich regelmäßig verlaufen werde.

Foto: Nosipho Radebe

Rückblickend betrachtet ist es aber gar nicht so kompliziert: Ich verbringe den Großteil meiner Zeit auf „Hilltop“, einem Hügel mitten im Stadtzentrum, auf dem alle Gebäude der Kathedrale liegen. Dort befindet sich auch Dewis Lodge, ein verwinkelter Hausteil, der seit Jahren von immer wechselnden Freiwilligen, Praktikanten, Orgelschülerinnen und jetzt eben Blanka und mir bewohnt wird. Jeden Morgen laufe ich dann links eine schmale Kopfsteinpflastergasse hinauf, die sich vor allem bei Nässe als ernstzunehmende Gefahr für Leib und Leben entpuppt, und sehe als erstes die Ruinen der alten Kathedrale. Die wurde zerstört, als Coventry 1940 von der Luftwaffe zerbombt wurde. Anstatt sie wieder aufzubauen oder die noch stehenden Wände komplett abzureißen wurde direkt an die alten Mauern 1962 eine neue Kathedrale gebaut. Mein liebstes Gebäude ist aber St. Michael’s House direkt nebenan, dort sind die Büros vom Events- und vom CCN-Team, also den Teams, denen ich hauptsächlich zugeteilt bin. Mittwochs und donnerstags arbeite ich mit Alice für die „Community of the Cross of Nails“ (CCN), eine internationale Gemeinschaft christlicher Kirchen, die aus dem Versöhnungsgedanken nach der Zerstörung der alten Kathedrale entstanden ist. Der damalige Propst hat, anstatt Rache zu schwören, angefangen, Kontakt mit anderen zerstörten Städten und Kirchen vorrangig in Deutschland zu knüpfen. Diesen wurde dann irgendwann Kreuze aus Dachnägeln des eingefallenen Kirchendachs als Symbol der Verbundenheit überreicht und somit hat sich die „Coventry Story“, wie sie hier genannt wird, als Inspiration für Friedens- und Versöhnungsarbeit etabliert. Ein großer Teil der Arbeit der CCN ist es, Pilgerreisen nach Coventry anzubieten. In meiner Zeit hier habe ich deswegen schon eine Gruppe aus den Hamburger Hauptkirchen und eine aus verschiedenen Kirchen nahe Karlsruhe mitbetreut, die Seminare und Führungen zur Geschichte der Stadt und zur Versöhnungsarbeit bekommen haben. Ansonsten designe ich an meinen CCN-Tagen zum Beispiel den Newsletter oder bearbeite Anfragen aus Partnergemeinden.

Schottischer Volkstanz unterm Nagelkreuz

Montags, dienstags und freitags bin ich wiederum beim Arts-&-Events-Team, was abgesehen von mir aus Georgia, Molly und Tim besteht. Die drei sind Mitte zwanzig und nutzen die Räume der alten und neuen Kathedrale für alle möglichen Events. Manche sind monatlich angesetzt, wie zum Beispiel Filmscreenings, Yoga-Stunden oder das „Let’s chill: Baby-Hangout“.

Weihnachtliches Fotoshooting mit dem Eventsteam
Foto: Sarah Scouller

Bei letzterem können Eltern mit ihren Babys einen Vormittag lang auf einer großen Spielmatte vor dem Buntglasfenster in der neuen Kathedrale spielen (klang auch nach einem etwas komischen Konzept für mich, aber die Kinder scheinen unter dem Licht vom Fenster und so in der Ruhe der Kirche sehr gut entspannen zu können). Und dann stehen immer wechselnde Veranstaltungen an, die teilweise vom Team selbst und teilweise von externen Veranstaltern ausgerichtet werden. Seit ich hier bin, gab es schon ein Herbstfest in den Ruinen, mehrere klassische Konzerte und Kunstausstellungen, einen großen Flohmarkt, ein Wein-Tasting und vieles mehr. Das Spektrum des Möglichen ist auf jeden Fall breit, was mich anfangs auf jeden Fall positiv überrascht bis ein bisschen verwirrt hat. Dass eine Kirche für so viele Veranstaltungen genutzt wird, die wenig bis gar nichts mit Gott oder Glauben zu tun haben, kannte ich von zuhause nicht in dem Ausmaß. Wobei es auch hier natürlich Grenzen gibt: alles, was mit Halloween oder ähnlich ketzerischen Festen zu tun hat, ist zum Beispiel Tabu. Da jede Woche unterschiedliche Veranstaltungen anstehen, habe ich keinen festen Arbeitsablauf. An Tagen mit Events helfe ich vorher meistens beim Getränke einkaufen, Stühle stellen, dekorieren, Bar aufbauen oder sonstigen Vorbereitungen. Die Arbeit bei den Veranstaltungen an sich besteht dann manchmal aus Tickets kontrollieren, Getränke und Snacks verkaufen und selbst mitmachen, manchmal auch nur aus Toiletten zeigen und im Hintergrund bereitstehen, falls die Veranstalter:innen Probleme haben. Mein Highlight bis jetzt war auf jeden Fall das Step-into-Christmas-Weekend (die Elton-John-Referenz habe ich erst sehr spät verstanden) am ersten Adventswochenende. Freitagabends ging es mit einem Ceilidh los, das ist ein schottisch-irischer Volkstanz. Dafür haben wir die Kathedrale von allen Stühlen befreit, es kam eine traditionelle Band und eine Ansagerin und man hat in Paaren verschiedene Tänze beigebracht bekommen. Wir haben Glühwein und Mince Pies verkauft, immer abwechselnd selbst mitgetanzt und die Stimmung war super.

Verantwortung übernehmen

Am Samstag hatten wir dann einen vollen Tag mit zwei Vorführungen des Weihnachtsfilms „Nativity!“, der in Coventry spielt und teilweise in den Ruinen gedreht wurde, und einem kleinen Weihnachtsmarkt mit lokalen Hersteller:innen von Schmuck, Weihnachtskarten, Deko etc. in der Kathedrale. Darber habe ich mich am meisten gefreut, denn es war mein erstes kleines Projekt, die Stände dafür auszuwählen. Man konnte sich online bewerben, ich habe mir die Bewerbungen angeschaut, die besten ausgewählt und mit den Standbetreiber:innen über alle Details gemailt. Das klingt jetzt vielleicht nicht so weltbewegend, aber das war das erste Mal, dass ich die Hauptverantwortung für etwas hatte und die Stände an dem Tag dann in echt zu sehen, war ein sehr cooles Gefühl.

Step-into-Christmas-Weihnachtsmarkt
Foto: Lea Rischmüller

Was allerdings auch zu meinem Arbeitsalltag gehört, ist, dass ich an Tagen ohne Veranstaltungen noch oft ins Büro komme, ohne zu wissen, was ich heute zu tun habe. Ich gestalte dann Poster, bastele Deko, suche Fotos oder Videos für Social Media raus, recherchiere für anstehende Events und mache (elementar wichtiger Freiwilligen-Job!) Tee für alle. Hin und wieder sitze ich auch nur da, unterhalte mich mit den anderen und warte, bis es wieder etwas für mich zu tun gibt. An manchen Tagen stört mich das gar nicht, an anderen komme ich mir dadurch ein bisschen wie die nutzlose Praktikantin vor. Wahrscheinlich gehört das auch teilweise zur Position einer Freiwilligen dazu, aber ich hoffe trotzdem, dass ich in der Zukunft noch mehr feste Aufgaben bekomme, an denen ich arbeiten kann, ohne auf meine Kolleg:innen angewiesen zu sein.

Generell bin ich aber sehr glücklich mit meinem Projekt. Das Arbeitsumfeld ist total herzlich, ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt, falls ich irgendeine Aufgabe noch nie gemacht habe und mich erstmal einfinden muss und ich freue mich über jede Zeit mit meinen Kolleg:innen. Ob wir nur im Büro sitzen, gemeinsam Mittagspause machen, bei den Events an der Bar stehen, vorher zusammen kochen und essen oder außerhalb der Arbeit etwas unternehmen – ich habe sie einfach sehr gerne um mich und sie sind eine große Stütze für mich.

Heiligabend bei Wildfremden im Wohnzimmer

Das mag bis jetzt nicht so rüberkommen, aber ich gebe mir tatsächlich Mühe, mir auch ein bisschen ein Leben außerhalb der Kathedrale aufzubauen. Jeden Donnerstagabend singe ich daher im Chor der Warwick Universität und fühle mich seit der ersten Probe sehr wohl dort. Die Gruppe besteht zum einen aus Rentner:innen, mit denen ich in den Pausen sehr gerne einen kleinen Plausch halte, und zum anderen natürlich aus Student:innen, von denen manche mehr und manche weniger offen für Menschen von außerhalb sind. Ich gebe auf jeden Fall mein Bestes, aufgeschlossen zu sein, auf die Leute um mich herum zuzugehen und zum Beispiel im Fall von Amélie hat das sehr gut geklappt.

Foto: Lea Rischmüller

Sie studiert im ersten Semester englische Literatur, singt genauso wie ich 2. Sopran, und seitdem wir das erste Mal in einer Probe nebeneinandersaßen, verbringen wir auch außerhalb des Chores sehr viel Zeit zusammen. Irgendwann hat sie mich sogar eingeladen, über Weihnachten zu ihr und ihrer Familie nach Worcester zu kommen und genau das ist jetzt der Plan. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass ich nicht wie meine Mitfreiwilligen für die Feiertage nach Hause fliegen, sondern das so als Teil meines Auslandsjahres hier erleben will, und besser als bei der Familie einer Freundin könnte ich es mir nicht vorstellen. Ob ich das immer noch so cool finde, wenn ich Heiligabend bei wildfremden Eltern im Wohnzimmer sitze, weiß ich nicht, aber das werde ich jetzt wohl herausfinden.

„Get in the bin!“ und Pride-Ohrringe

Ein zusätzlicher Punkt, der für mein Auslandsjahr hier gesprochen hat, war, dass ich Lust hatte, den ganzen Tag eine andere Sprache, am liebsten Englisch, zu sprechen. Über zu wenig Englisch kann ich mich hier auf jeden Fall nicht beschweren, ich kann mich ja anders als andere ASF-Freiwillige nicht mal mit meiner Mitfreiwilligen, die aus Polen kommt, auf Deutsch unterhalten. Dementsprechend denke ich im Alltag gar nicht mehr so viel über den Sprachenunterschied nach und gebe einfach mein Bestes, mich verständlich auszudrücken. Nur wenn jemand beispielsweise ironische Kommentare macht oder meine Kolleg:innen in schnelle Schlagabtausche über irgendwelche englischen Serien oder Bücher geraten, muss ich mein wissendes Gesicht auflegen, ohne wirklich etwas zu verstehen. Dann sitze ich daneben, versuche nachzuvollziehen, was sie meinen und höre manchmal auch nur sehr interessiert zu, welche Sprüche und Redewendungen sie so benutzen. Einer meiner Favoriten stammt aus Georgias Wortschatz. Wenn sie geschockt von dem ist, was ihr jemand erzählt oder etwas gar nicht glauben kann, kommt immer ein sehr empörtes „get in the bin!“ von ihr. Ich würde an der Stelle vielleicht mit „als ob“ oder „das kann doch nicht wahr sein“ reagieren, aber „get in the bin“ trifft das Gefühl viel besser, finde ich. Einen weiteren Favoriten habe ich das erste Mal bei Mary gehört. Sie ist hier Kanonikerin, trägt Pride-Ohrringe, hat ein eigenes Andachtsformat eingeführt, in dem sie sich dem christlichen Glauben über Kunst und Musik nähert und ist einfach die coolste Geistliche, die ich je getroffen habe. Wenn ich eine Aufgabe für sie erledige oder ihr einen Gefallen tue, bedankt sie sich manchmal nicht nur, sondern sagt „You’re a star!“. Und was soll ich sagen, wenn Mary das zu mir sagt, fühle ich mich jedes Mal wie die wertvollste Person der Welt.

Erster Besuch von zuhause
Foto: Nosipho Radebe

Ich hoffe, es kommt rüber, dass ich hier eine sehr gute Zeit habe und mich grundsätzlich wirklich wohl fühle. Trotzdem gibt es auch regelmäßig Tage, an denen ich mich sehr allein fühle, vor allem wenn ich gerade lange mit jemandem zuhause telefoniert habe oder nachdem meine beste Freundin und ihre Mutter, mit denen ich eine sehr tolle Woche hier hatte, wieder abgereist waren. Ich fühle mich dann räumlich, aber auch emotional so weit weg von allen, die ich vermisse, dass ich richtig traurig werde. Wahrscheinlich wird mich dieses Gefühl auch in den nächsten Monaten weiter begleiten, faktisch bin ich ja auch ziemlich weit weg und ziemlich allein.

Immer wenn ich allerdings darüber nachdenke, ob es die richtige Entscheidung war, nach Coventry zu kommen, fällt mir kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre. Es fühlt sich total richtig an, hier zu sein und ich bin sehr froh, dass sich die krank im Bett liegende und panikschiebende Lea Ende August nicht dazu entschieden hat, die Idee mit dem Freiwilligendienst in England doch noch spontan über Bord zu werfen!

Ich möchte mich abschließend beim Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD), bei der Evangelischen Landeskirche Hannovers, bei der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. und bei der Kathedrale von Coventry für die Unterstützung meines Dienstes bedanken. Natürlich geht auch ein sehr großes Danke an meine ASF-Pat:innen – und Chapeau, wenn Sie nicht schon nach der Hälfte dieses Berichtes das Lesen aufgegeben haben!

Autorin: Lea Rischmüller