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Nagelkreuz in allen fünf Hamburger Hauptkirchen

Grußwort des Vorstands

Am Sonntag (10. November 2024) erhalten die Hamburger Hauptkirchen St. Jacobi, St. Michaelis, St. Nikolai und St. Petri ein Nagelkreuz. St. Katharinen ist schon seit 1961 Nagelkreuzzentrum, das Mahnmal St. Nikolai hat seit 1995 ein Nagelkreuz. Alle Hamburger Hauptkirchen haben dann ein Nagelkreuz. Aus Anlass der Übergabe findet an dem Wochenende in Hamburg ein umfangreiches Festprogramm statt. Hier lesen Sie das Grußwort, das Niels Faßbender den Hamburger:innen im Namen des Vorstands der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. überbracht hat.

Liebe Hamburgerinnen, liebe Hamburger,

liebe Nagelkreuzgemeinde,

1995 – ein Jahr nach dem Abitur – war ich das erste Mal in meinem Leben in dieser wunderbaren Stadt. Um genauer zu sein: Im Juni 1995, zum 26. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Das Motto damals war Micha 6, 8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“.

Damals, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, waren viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen unbeantwortet; für manch eine:einen verbunden mit der Hoffnung, dass uns als Antwort mehr gelingt als eine Fortschreibung der alten BRD. Mitte der 1990er Jahre war die Arbeitslosenquote in Deutschland hoch, vor allem in Ostdeutschland hatten viele Menschen ihre Arbeitsplätze verloren und bangten um ihre Zukunft. Gleichzeitig gab es in den 1990er Jahren eine Zunahme von rechtsextremen Vorfällen und Gewalt gegen Ausländer, Asylbewerber und Minderheiten. Grauenhafte Brandanschläge in Solingen und Rostock Anfang der 1990er Jahre erschütterten unser Land. Seit 1991 herrschte Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Im Sommer 1995 wurden beim Massaker von Srebrenica über 8.000 Menschen ermordet. „Nie wieder Krieg, nie wieder Völkermord“ – welchen Wert hatten diese Mahnungen noch, mit denen wir aufgewachsen waren? Und dann war da auch noch die Physik. So langsam dämmerte uns, dass der Planet immer wärmer wird – zu warm – wenn wir so weitermachen wie bisher. Die Verabschiedung des Kyoto-Protokolls (1997) war zwar noch ein wenig entfernt, aber der Druck zur Entwicklung einer globalen Umweltpolitik war bereits deutlich zu spüren.

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“! Für die, die es noch nicht verstanden haben, bringt Micha es auf den Punkt: „Nichts als Recht tun, Güte lieben und demütig sein vor deinem Gott“.

  • In einer Zeit, in der viele mit Ungerechtigkeit konfrontiert waren, etwa durch Arbeitslosigkeit oder gesellschaftliche Benachteiligungen, erinnert uns der Prophet daran, dass die Suche nach sozialer Gerechtigkeit wichtig ist. „Recht tun“ bedeutet, für Gerechtigkeit einzutreten, im Wirtschaftlichen wie im Sozialen.
  • Gesellschaftliche Spannungen und Ängste, rechtsextreme Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, das Schicksal der Flüchtlinge: „Güte lieben“ bedeutet, Menschen nicht aufgrund von Herkunft oder Hintergrund oder welcher Merkmale auch immer abzulehnen, sondern ihnen mit Wertschätzung und Mitgefühl zu begegnen.
  • In Zeiten schnellen Wandels durch Globalisierung und Technologie neigen wir Menschen zu glauben, dank unbegrenzten Fortschritts und Wachstums trotz aller ungelösten Fragen die Kontrolle zu behalten. „Demütig sein vor deinem Gott“ mahnt uns, unsere Grenzen zu respektieren – in der Natur, in der Gesellschaft und im Umgang miteinander.

Jetzt, fast dreißig Jahre später, bin ich wieder in Hamburg, mal wieder. Es war uns doch gesagt, Mensch, was gut ist. Ist die Welt seitdem eine bessere geworden?

Vermutlich haben viele von Ihnen vorgestern Abend ähnlich fassungslos wie ich vor dem Fernseher gesessen. Ausgerechnet Donald Trump, der in seinem Wahlkampf gegen Ausländer gehetzt, den Reichen Steuersenkungen versprochen und eine Rücknahme der Klimaschutzmaßnahmen seines Vorgängers angekündigt hat – ausgerechnet dieser Donald Trump verspricht bei seinem ersten Auftritt nach dem Wahlsieg, er werde das Land „heilen“. Und als ob das – neben Ukraine, Nahem Osten, AfD, Klimawandel usw. nicht genug wäre – platzt dann in den Abend auch noch die Nachricht: Die Ampel ist Geschichte. Preisanstiege, einstürzende Brücken, drohender wirtschaftlicher Abschwung. Und heute erschüttern uns die Nachrichten aus Amsterdam, wo gestern israelische Fußballfans angegriffen und verletzt wurden.

Mensch, ist uns wirklich gesagt, was gut ist? Ja, das ist es. Um mit Erich Kästner zu sprechen: „Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.“ Gibt es sie noch, die Menschen, die Gutes tun?

Ja, die gibt es! Genau deswegen sind wir heute Abend hier zusammengekommen. Deshalb ist Mary Gregory, Canon an der Kathedrale von Coventry, an diesem Wochenende hier in Hamburg. Deshalb bin ich an diesem Wochenende als Mitglied des Vorstands der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. bei Ihnen. Deshalb sitzen Sie vermutlich alle hier. Deshalb haben Sie, liebe Mitarbeiter – haupt- wie ehrenamtlich – der Hamburger Hauptkirchen für dieses Wochenende ein großartiges Festprogramm auf die Beine gestellt. Deshalb erhalten die Hamburger Hauptkirchen St. Nikolai, St. Petri, St. Michaelis und St. Jacobi am Sonntag das Nagelkreuz von Coventry. Deshalb hat St. Katharinen schon seit 1961 ein Nagelkreuz, das Mahnmal St. Nikolai am Hopfenmarkt schon seit 1995.

Und warum? Weil euch gesagt ist, Hamburger:innen, was gut ist. Und weil ihr nicht nur darüber redet, sondern weil ihr handelt. Weil ihr seit vielen Jahren Gutes tut in dieser Stadt.

In St. Jacobi:

  • begegnen sich bei interreligiösen Frauennachmittagen Christinnen und Muslima
  • plant die „Soziale Initiative City“ zum Wohle kranker und obdachloser Mitbürger,
  • sind einmal im Jahr Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, zu St. Jacobs Mahlzeit eingeladen; sie sitzen als Gäste an einem feierlich gedeckten Tisch und werden mit einem Drei-Gänge-Menü bedient.

Sie verzeihen mir, dass ich unmöglich alles aufzählen kann, hier wie bei den weiteren künftigen Nagelkreuzzentren, sondern nur Beispiele nenne – es ist Wahnsinn, wieviel Gutes in dieser Stadt passiert!

In St. Michalis:

  • konnten zwei Glocken, die im ersten Weltkrieg eingeschmolzen worden waren, mithilfe von Spenden neu gegossen werden. Eine der Glocken ist als Friedensglocke geweiht und trägt in vier Sprachen das „Vater vergib“ aus dem Versöhnungsgebet von Coventry. Zusammen mit dem Gebetsbitten des Vaterunser steigt diese Friedensbitte auf über die Stadt und das Land und in den Himmel, wann immer die Glocke beim Vaterunser angeschlagen wird.
  • Michaelis ist ein wichtiger Ort des Gedenkens und Erinnerns: Am 27. Januar zusammen mit der Hamburger Autorenvereinigung an die Opfer des Holocaust. Rund um den 20. April an die von den Nazis ermordete Kinder vom Bullenhuser Damm. Rund um den 9. November zusammen mit der katholischen Nachbargemeinde St. Ansgar-Kleiner Michel an die Opfer der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft. Am Volkstrauertag als Ort zentralen Gedenkens von Senat, Bürgerschaft und Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge.

St. Nicolai:

  • ist Eigentümerin des historischen Kirchturms, der bei den Luftangriffen im Sommer 1943 zerstört wurde. Regelmäßig finden an dem Mahnmal Andachten statt, bei denen auch das Versöhnungsgebet von Coventry gesprochen wird. Einige werden sich an den Besuch von König Charles III. im Frühjahr 2023 in Hamburg erinnern, als er am Mahnmal St. Nikolai einen Kranz niederlegte und dort das Versöhnungsgebet gesprochen wurde.
  • Eine Stolperstein-Projektgruppe befasst sich mit den Lebensgeschichten jüdischer Bürger:innen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgt und ermordet wurden, und organisiert Patenschaften für neue Stolpersteine.
  • Gemeindeglieder haben Paketaktionen für ukrainische Schüler:innen organisiert. In Kooperation mit „Hege Helping Hands“ betreibt St. Nicolai eine Tafel „Mit Laib und Seele“. Und in Kooperation mit der Wichernschule werden jährlich Kinder-Bischöf:innen eingesetzt, die für die Rechte von Kindern eintreten.

St. Petri;

  • ist wegen ihrer örtlichen Nähe zu Rathaus und Bürgerschaft immer wieder Ort für Gottesdienste in existentiell belastenden Situationen für die Stadtgesellschaft, zum Beispiel für die Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Notfallseelsorgeteams nach dem Amoklauf im März 2023.
  • Jeden Donnerstag gibt es einen Mittagstisch für Bedürftige Menschen, bei dem es mit der leiblichen Unterstützung auch um Gemeinschaft und Wertschätzung für Menschen geht, die üblicherweise ausgegrenzt werden.
  • Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Verständigung zwischen den christlichen Kirchen und der Dialog mit anderen Religionen. Es gibt ökumenische Gottesdienste, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, um das gegenseitige Verständnis zu vertiefen.

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“. Das liebe ich an euch Hanseaten. Nicht lange schnacken. Einfach machen!

Nein, die Welt ist in den letzten dreißig Jahren nicht besser geworden. Trotzdem erhalten am Sonntag vier Hauptkirchen das Nagelkreuz von Coventry. In allen Hamburger Hauptkirchen wird dann ein Nagelkreuz stehen. Ich wünsche uns, dass die Kreuze, wo immer wir sie sehen, uns ermutigen und vergewissern:

Eine bessere Welt ist denkbar. Wir dürfen daran glauben. Hier steht dieses Nagelkreuz, weil genau hier ein Teil dieser besseren Welt verwirklicht ist. Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut ist.

Hier beten und arbeiten Menschen, die Angst, Zerstörung, Hass und Krieg nicht das letzte Wort überlassen. Hier beten und arbeiten Menschen, die mich und dich so annehmen, wie Gott uns angenommen hat. Hier beten und arbeiten Menschen, mit denen wir nicht nur in unserem christlichen Glauben, sondern auch im Geist von Coventry in der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft für eine friedlichere, gerechtere und versöhntere Welt verbunden sind.

Es ist uns gesagt, Menschen, was gut ist.

Ich freue mich sehr, dieses Wochenende hier bei Ihnen in Hamburg zu sein. Ich grüße Sie sehr herzlich im Namen des Vorstands der Nagelkreuzgemeinschaft. Wir freuen uns riesig, dass Sie mit Ihrer beeindruckenden Versöhnungsarbeit nun bald offiziell Nagelkreuzzentren und Mitglieder unseres Vereins sind. Ich danke allen, die mit mit viel Kraft und Zeit jeden Tag dazu beitragen, dass diese Welt ein Stück besser wird. Ich danke auch allen, die dieses Wochenende organisiert haben und natürlich Mary Gregory, die aus Coventry zu uns gekommen ist und auf deren Vortrag ich jetzt sehr gespannt bin. Auf eine gute Zusammenarbeit! Auf ein gelungenes Wochenende!

Liebe Nagelkreuzgemeinde, liebe Menschen in Hamburg und in unserer weltweiten Gemeinschaft: es ist uns gesagt, was gut ist.

Glück auf!

Autor: Niels Faßbender

 

Internationaler Nagelkreuzsonntag 2024: Oliver Schuegrafs Predigt zum Michaelistag in Coventry

Der jährliche Nagelkreuzsonntag fiel dieses Jahr auf den 29. September 2024, dieses Jahr zugleich Gedenktag des Erzengels Michael. In der Kathedrale von Coventry wurde deshalb an diesem Sonntag nicht nur die Verbundenheit unserer Gemeinschaft in Gebet und im Versöhnungsdienst gefeiert, sondern auch an den Heiligen Michael erinnert, den Namensgeber der Kathedrale. Die Predigt zu Genesis 3, Verse 1 bis 13 und 23-24 hielt unser Vorsitzender und Ehrenkanoniker der Kathedrale Dr. Oliver Schuegraf. Sie orientiert sich am Vorschlag der Arbeitsgruppe, die die liturgischen Bausteine für den diesjährigen Nagelkreuzsonntag erarbeitet hatte, und die sich in diesem Jahr aus Mitgliedern der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft zusammensetzte. Die vorgeschlagenen Bausteine – auch aus vergangenen Jahren – finden Sie hier.

Der Heilige Michael ist nicht immer derselbe Heilige Michael. In der Kunstgeschichte kann er ganz unterschiedliche Erscheinungsbilder haben. In der Kirche meiner ehemaligen Gemeinde hatten wir eine Figur des Heiligen Michael direkt über dem Altarraum. Er war einer dieser niedlichen Barockengel. Ein bisschen pausbäckig, freundlich aussehend. Wie anders ist der Heilige Michael von Coventry. Überlebensgroß, mit ausgebreiteten Armen und Beinen. Ein Speer in seinen Händen. Hoch aufragend über der gefesselten Gestalt des gehörnten Teufels. Außerdem ist dieser besiegte Teufel in Coventry kein Drache, sondern eine menschliche Figur.

Jacob Epstein: St Michel’s Victory over the Devil, Bronze, Coventry 1958. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Wenn Sie das Buch der Offenbarung kennen, wissen Sie, wer dieser Drache mit menschlichen Zügen ist. Er ist kein anderer als die alte Schlange, der Versucher aus der Paradieserzählung.

Wir feiern heute nicht nur das Patronatsfest der Kathedrale, sondern auch den Nagelkreuz-Sonntag. Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft wurde in diesem Jahr gebeten, das Material für diesen Sonntag zusammenzustellen, der hoffentlich alle Partner in unserem internationalen Versöhnungsnetzwerk miteinander verbindet. Und unsere deutsche Vorbereitungsgruppe hat beschlossen, sich mit der Geschichte von Adam und Eva – und der Schlange – näher zu befassen.

In Ihrem Gottesdienstheft finden Sie eine Illustration zu dieser bekannten Geschichte. Die Abbildung zeigt ein Detail der Bronzetüren des Hildesheimer Doms. Sie sind über eintausend Jahre alt und gehören zu den frühesten Beispielen für figürlich-plastische Darstellungen biblischer Geschichten. Die Menschen des frühen Mittelalters müssen davon überwältigt gewesen sein. Insgesamt haben die Türen eine Höhe von fast fünf Metern. Das Herantreten an das Portal muss atemberaubend gewesen sein. Die Gläubigen bestaunten die Tür und wurden mit einer bildlichen Reise der ersten Menschen in immer tiefere Verstrickung in Schuld, immer größere Entfernung von Gott, immer größere Nähe zum Bösen konfrontiert.

Schauen wir uns die Szene genauer an. Es wird ein Spiel des Mit-dem-Finger-Zeigens dargestellt: Adam und Eva haben getan, was sie nicht hätten tun sollen. Gott zeigt mit dem Finger auf sie. „Du, Adam! Warum hast du von der verbotenen Frucht gegessen?“ Gott will eine Antwort von seinem Geschöpf. Man könnte sagen, er macht ihn verantwortlich. Und Adam? Er sieht unglücklich aus. Kein Zweifel: Er weiß genau, was richtig und falsch ist. Er weiß, was richtig ist, und doch tut er, was falsch ist. Er wendet seinen Blick ab, duckt sich weg und schiebt die Verantwortung einfach ab. Noch mehr Zeigen-mit-dem-Finger: „Ich war es nicht! Sie war es!“ Er sieht bemitleidenswert aus, wie er so verzweifelt versucht, sein Feigenblatt festzuhalten, die Schuld auf Eva zu schieben und so unschuldig wie möglich zu erscheinen.

Wir Menschen haben ein ganzes Repertoire an Strategien, um mit Schuld und schlechtem Gewissen umzugehen. Eine Strategie ist das Abwälzen der Schuld. Adam ist ein Experte in dieser Taktik.: „Die Frau, die du mir gegeben hast, um mit mir zusammen zu sein“, sagt er. „Sie hat mir die Frucht gegeben“. Das ist natürlich etwas ganz anderes als zu sagen: „Die Frucht sah gut aus. Ich habe das Angebot gerne angenommen.“ Man könnte fast meinen, er sei gezwungen worden, die Frucht zu essen, und habe keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Adam, was übersetzt „Mensch“ heißt – und oft genug bedeutet: wir – zeigt mit dem Finger auf jemand anderen, und auf dem ausgestreckten Finger rutscht die Schuld von einer Person zur nächsten.

Neben der Schuldverschiebung ist noch eine zweite Strategie am Werk. Adam scheint sein Handeln auch zu normalisieren, nach dem Motto: „So falsch kann es doch nicht sein, das macht doch jeder.“ Die Grenzen zwischen anständigen und fragwürdigen Handlungen beginnen sich zu verschieben. „Die Frau hat von der Frucht gegessen, warum sollte ich nicht auch einen Bissen nehmen?“

Und Eva? Sie wendet die gleiche Strategie an wie Adam: „Ich konnte nicht anders, die Schlange hat mich verführt“, sagt sie und will mit dem ausgestreckten Zeigefinger die Schuld auf den nächsten in der Reihe abwälzen: Sie reicht den Schwarzen Peter an die Schlange zu ihren Füßen weiter, die ein bisschen wie ein kleiner Drache aussieht. Eva sieht unglücklich, fast flehend aus, scheinbar im vollen Bewusstsein, dass etwas zerstört wurde, als sie Gottes Gebot nicht gehorchte. Wenn sie doch nur all das ungeschehen machen könnte! Im Gegensatz zu Adam schafft sie es, Gott anzuschauen, sich dem Vorwurf zu stellen. Aber es fällt ihr zu schwer, Verantwortung zu übernehmen.

Hier kommt eine dritte beliebte Strategie zum Tragen: die Verharmlosung. Eva nimmt einen Teil der Schuld auf sich, spielt aber die ganze Angelegenheit herunter: „Es war nur ein kleiner Bissen. Ich habe die Frucht kaum mit den Lippen berührt…“ Die Verharmlosung ist wie ein winziges Schuldeingeständnis, wenn man auf frischer Tat ertappt wurde, und damit ein winziges Stückchen „Recht“ in all dem Unrecht.

Wenn wir uns das ganze Relief noch einmal anschauen, zeigt sich ein bestimmtes Muster, das die Figuren miteinander verbindet: Es beginnt mit dem prüfenden Blick Gottes und seinem Zeigefinger, über Adams abgewandte Augen zu Eva, über ihren Rücken und ihre Beine zu der sich nach oben windenden Schlange. Wir sehen eine Spirale von Schuld und Abwälzung der Verantwortung.

Erst fünfhundert Jahre nach der Entstehung dieser Bronzetafel hat Martin Luther einen Begriff für das Dargestellte geprägt: Der Mensch ist „incurvatus in se ipsum“, in sich selbst gekrümmt. Wir sind so verbogen und krumm, dass wir gar nicht merken, wie egozentrisch wir sind, wie wir uns von Gott abwenden, nicht nach seinem Willen fragen, seine Gnade nicht sehen.

Hildesheimer Dom: Bernwardstür (Detail), Bronze, Hildesheim ca. 1015. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

So realistisch und vertraut das Verhalten von Adam und Eva ist, so sehr gibt uns die Bibel, Gott sei Dank, auch andere, gute Vorbilder. Denken Sie nur an den barmherzigen Samariter in Lukas 10. „Als er den Verwundeten sah, hatte er Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ich auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und pflegte ihn.“ Auf den ersten Blick mag seine Körperhaltung der von Adam ähneln, aber seine Handlungen sind das genaue Gegenteil: Auch der Samariter bückt sich, er beugt sich zu Boden, aber er tut es, um aufzurichten. Er kümmert sich um den verletzten Mann. Wie leicht hätte er eine ganze Reihe von Ausreden finden können, um nicht zu helfen:

Erinnern Sie sich an die Verharmlosung? „Das ist doch nur ein Israelit. Gut, dass wir ihn los sind!“ Abwälzung der Schuld: „Ich habe ihn nicht geschlagen, also muss ich mich nicht um seine Wunden kümmern.“ Oder Normalisierung: „Wenn zwei seiner eigenen Leute einfach vorbeigegangen sind, warum sollte ich dann helfen?“ Aber er bagatellisierte nicht, er wälzte die Schuld nicht ab, er versuchte nicht, die Situation zu normalisieren.

Er sah in dem Verletzten einen einen Fingerzeig Gottes. Vielleicht hat er erkannt, dass es eher eine Ehre ist, wenn Gott mit dem Finger auf uns zeigt. Es bedeutet, dass Gott uns nicht auf die leichte Schulter nimmt, im Gegenteil. Er betraut uns mit Verantwortung. Trotz all unserer Fehler will er uns immer noch in die Augen sehen.

Und denken Sie daran: Ja, Adam und Eva wurden aus dem Garten Eden vertrieben und die Cherubim – weitere Engel mit Speeren für das heutige Patronatsfest – wurden eingesetzt, um die Rückkehr ins Paradies unmöglich zu machen. Doch Gott hat die beiden nicht einfach im Stich gelassen. Bevor er sie wegschickte, gab er ihnen Kleidung; sie sollten geschützt bleiben.

Wie steht es mit uns heute? Klimawandel, bewaffnete Konflikte rund um den Globus, Ungerechtigkeiten auf allen Ebenen, Aushöhlung gemeinsamer Überzeugungen in der Gesellschaft – was kann der Einzelne tun? Unsere Ohren sind jetzt geschult: Trivialisierung! „Ich bin ganz allein. Mein kleiner Beitrag macht keinen Unterschied.“ Der Samariter hat uns gezeigt, dass das nicht stimmt. Er war nur einer, ein Außenseiter noch dazu, und er hat weder die Welt gerettet noch den Konflikt zwischen Samaritern und Israeliten beendet. Aber für den, der halbtot im Graben lag, machte er den Unterschied aus.

Beziehen wir Stellung, wenn sich die Positionen in der Gesellschaft verschieben, wenn Feindseligkeiten zu verbalen und körperlichen Übergriffen eskalieren? Wenn einige Leute immer wieder sagen, dass Fremde, Migranten an allem schuld sind, dann ist es leicht zu glauben, dass alle so denken. Soll ich mich also dem wütenden Mob auf der Straße anschließen? Ist es wirklich so schädlich, radikale und extremistische Parteien zu wählen? Ich will nur ein Zeichen des Protests gegen die etablierten Parteien setzen. So schlimm werden sie nicht sein.

Der Samariter interessierte sich weder für Politik noch für die Feindseligkeiten zwischen seinem Volk und den Israeliten. Er sah einen Menschen in Not und kümmerte sich um ihn, denn es sollte nicht normal sein, dass jemand halbtot in einem Graben liegt. Er versicherte ihm sogar: „Ich werde wiederkommen.“ Er baute eine Beziehung auf, anstatt bequem Vorurteilen oder der Führung anderer zu folgen.

Ein weiteres Beispiel: Schuldverschiebung ist eine Strategie, die wir oft anwenden, wenn es um Entscheidungen geht, die wir als Kunden und Verbraucher treffen: „Ich kann nichts dafür. Ich kann nur das kaufen, was angeboten wird.“ Das stimmt. Aber muss ich den Kauf wirklich tätigen? Auch wenn ich weiß, dass die Produktion meiner Lebensmittel, meiner Kleidung, meiner Elektronik auf Ausbeutung beruht und auf Kosten der Gesundheit und des Lebens anderer geht? Wir wissen bereits, was wir von dem Argument „aber das macht doch jeder“ zu halten haben. Mein Kauf ist meine Entscheidung und damit meine Verantwortung. Meine Kaufverweigerung ist auch eine Entscheidung. Das Angebot wird sich ändern, wenn sich die Nachfrage ändert. „Aber ich allein kann doch nichts ändern!“ Das haben wir doch schon einmal gehört, oder?

Dr. Oliver Schuegraf. Foto: Martin Williams

Es ist uns nicht möglich, den Weg zurück ins Paradies zu finden, der Wiedereintritt wird von den wachenden Cherubim verweigert. Dennoch können wir versuchen, die Welt, in der wir leben, zu einem besseren Ort zu machen. Diese Aufgabe ist langwierig, mühsam, manchmal lohnend und oft frustrierend. Dennoch ist Nichtstun angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, keine Option. Es lohnt sich, nicht auf die Schlange zu hören, die uns mit der bösen Botschaft verführt: Es ist normal, es ist keine große Sache, es ist die Schuld der anderen.

Es ist die Mühe wert, nicht krumm und in sich gekrümmt zu bleiben. Im Vertrauen auf Gottes Gnade können wir aufrecht stehen und all jene Situationen und Menschen aufrichten, die Freiheit, Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität brauchen. Wir können auf den ausgestreckten Finger Gottes mit einem klaren „hier bin ich“ antworten. Erstaunt, vielleicht sogar dankbar, dass er uns immer noch sein Vertrauen schenkt und uns Verantwortung anvertraut, so dass wir uns weder vor ihm verstecken noch in Scham vor ihm beugen müssen. Das möge Gott uns allen schenken. Amen.

Autor: Dr. Oliver Schuegraf, Übertragung ins Deutsche: Niels Faßbender.

 

Das Kreuz mit der Versöhnung

16.Versöhnungstag der Nagelkreuz Region Berlin-Brandenburg am Samstag, 16. November 2024 (10-15 Uhr)  

Liebe Schwester und Brüder in den Nagelkreuzzentren im Raum EKBO,

herzlich bitten wir Euch, in den Kalendern schon einmal das Datum unseres nächsten Versöhnungstages festzuhalten: Wir treffen uns wieder am Samstag, dem 16. November 2024.

Wir beginnen um 10 Uhr, mit einer Andacht, diesmal in der Kapelle der Versöhnung (Bernauer Straße 4, in 10115 Berlin). Wir laden Euch ein in die Evangelische Versöhnungsgemeinde Berlin-Wedding. Hintergrund ist die Verleihung des Nagelkreuzes in der Kapelle der Versöhnung vor 25 Jahren. Damals, im Jahre 1999, war Paul Oestreicher zu uns an die einst durch die Mauer geteilte Straße gekommen, zu der gerade erst aus Lehm und aus dem Schutt der zerstörten Versöhnungskirche errichteten, neuen Kapelle. Hier im Foto ist Paul Oestreicher noch an der Ausgrabungs-Baustelle zu sehen, in der Hand hält er das Modell der Skulptur „Reconciliation“, der britischen Künstlerin Josefina da Vasconcellos.

Nach dem Beginn in der Kapelle der Versöhnung gehen wir über die Bernauer Straße hinüber zu unserem Tagungssaal, der sich im Besucherzentrum der Stiftung Berliner Mauer befindet (in der ersten Etage). (Anschrift: Bernauer Straße 119, 13355 Berlin). In der Vorbereitung wählten wir das Motto „Das Kreuz mit der Versöhnung“ – aufgrund der uns bewegenden verwirrenden kriegerischen Ereignisse, vor allem in der Ukraine, Israel und Palästina. Sichtweisen auf die Versöhnungsarbeit angesichts dieser unversöhnlichen Konflikte wollen wir bedenken und ermutigende Ansätze stärken. Dazu gibt es von 11 – 12 Uhr vorbereitete kurze Impuls-Referate, und anschließend ein Podium.

Wir sind gespannt auf den Tag des Austausches mit seinen Impulsen und Sichtweisen auf die Versöhnungsarbeit, die aktuell so außerhalb jeglicher Diskussion ist – weil die Frage der Waffenlieferungen und der weiteren nuklearen Hochrüstung so im Vordergrund steht.  Nicht zuletzt wird es auch Zeit geben für eine Exkursion über den Erinnerungsort Bernauer Straße, von seinen kirchlichen Arbeitsfeldern hergesehen. Wir freuen uns, wenn Ihr am 16. November bei uns zu Gast sein könnt – bringt gern Interessierte mit!

Herzlich grüßt Thomas Jeutner

Ein Bild, das Kleidung, Person, draußen, Menschliches Gesicht enthält. Automatisch generierte Beschreibung

Pfarrer Thomas Jeutner; 0178-1870 219

Gemeinde: Bernauer Str. 111, D-13355 Berlin; Tel. 49(030)-463 60 34

Kapelle: Bernauer Straße 4, (Einmündung Hussitenstr.); D-10115 Berlin

www.versoehnungskapelle.de

Dekan John Witcombe: Ein Besuch der St.-Pauls-Kathedrale, Odessa

Foto: Igor Nazarenko

John Witcombe, Dekan von Coventry, hat vom 4. bis 6. Juli 2024 die St.-Pauls-Kathedrale in Odessa/Ukraine besucht, ebenfalls ein Nagelkreuzzentrum. In einer bemerkenswerten Predigt im Sonntagsgottesdienst am 14. Juli 2024 in der Kathedrale von Coventry hat er über den Besuch berichtet und reflektiert. Wir haben den Text für Sie übersetzt und dokumentiert.

Kürzlich war ich zu einer Reise in die Ukraine eingeladen, um die lutherische St.-Pauls-Kathedrale in Odessa, eines unserer Nagelkreuzzentren, zu besuchen. Ich war schon einmal dort, nämlich 2013. Das war mein erstes Jahr als Dekan an der Kathedrale von Coventry, und zugleich das Jahr, in dem die St.-Pauls-Kathedrale Mitglied der Nagelkreuzgemeinschaft wurde. Seinerzeit ging es vor allem um die Anerkennung einer Kirche, die nach dem Ende der Sowjet-Ära renoviert und für Gottesdienste wiedereröffnet worden war. In Wahrheit war mir nicht wirklich klar, welche Bedeutung ihr Beitritt zur Nagelkreuzgemeinschaft haben würde. Aber schon kurz darauf, parallel zur russischen Annexion der Krim im Jahr 2014, brachen in der Ukraine zivile Unruhen aus. Wie wir erfuhren, trugen Gemeindemitglieder der St.-Pauls-Kathedrale das Nagelkreuz an Straßenecken. Um das Kreuz herum versammelten sich Christen vieler verschiedener Kirchen, um für Frieden zu beten.

Das war, bevor im Februar 2022 die Invasion in vollem Umfang begann. Der neue Pastor der Kirche, Alexander Gross, hatte mich gebeten, die Kirche anlässlich ihres 170-jährigen Bestehens schon im letzten Sommer zu besuchen. Das war letztlich nicht möglich. In diesem Sommer erneuerte Arne Bölt die Einladung. Ich hatte ihn zuvor schon in Rostock getroffen, wo er im Nagelkreuzzentrum Ev. Innenstadtgemeinde mitarbeitet. Er ist außerdem Mitglied des Leitungskreises der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft und verbrachte im Rahmen eines Sabbaticals einige Monate in Odessa. Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft hatte die Installation eines Sockels und eines Kunstwerks für das Nagelkreuz in der Kirche unterstützt. Ich war gebeten worden, die Installation zu segnen und ein wenig Zeit mit der Kirche und der Bürgergemeinde zu verbringen.

Anmerkung der Redaktion: Einen Bericht von Arne Bölt über seine Zeit in Odessa und das Kunstwerk finden Sie hier.

„Manchmal besteht unsere Aufgabe als Friedensstifter einfach darin, zu kommen, Solidarität zu zeigen und Zeugnis abzulegen“

Foto: Igor Nazarenko

Es stellte sich heraus, dass es genau der richtige Zeitpunkt für einen Besuch war. Manchmal passieren solche Dinge einfach. Die beiden Töchter von Pastor Gross waren von ihrem Studium in Amerika zurück und konnten übersetzen, und die ganze Familie reiste am nächsten Tag zu einem Jugendlager in die Tschechische Republik. Arne konnte mich vom Flughafen in Moldawien abholen und mich über die Grenze nach Odessa bringen. Mehrere Mitglieder der örtlichen christlichen und zivilen Gemeinschaft waren bei meinem Vortrag anwesend. Am nächsten Tag kam es erneut zu russischen Angriffen im ganzen Land.

Manchmal besteht unsere Aufgabe als Friedensstifter einfach darin, zu kommen, Solidarität zu zeigen und Zeugnis abzulegen. Ich kann zwei Dinge bezeugen:

Erstens, dass das Leben in Odessa auf eine Weise weitergeht, die ganz normal zu sein scheint. Jemand dort sagte: „Wir verbringen nicht unsere ganze Zeit damit, uns einen Weg durch Bombenkrater zu bahnen.“ Wir saßen an einem Sommerabend im Freien und gingen auf der schönen, von Bäumen gesäumten Promenade oberhalb des Hafens spazieren, wir hörten den Straßenmusikern zu und genossen die Atmosphäre.

Zweitens, dass darunter eine ständige existenzielle Bedrohung durch Angriffe liegt und dass an meinem zweiten Abend Sirenen und Explosionsgeräusche in nicht allzu weiter Entfernung meinen Schlaf nahezu unmöglich machten.

„Ich bin kein Held“

Mitten in meinem Vortrag über die Arbeit von Coventry im Bereich Frieden und Versöhnung am Freitagmorgen wurde ich von Vladimir, einem der Organisatoren, unterbrochen. Er teilte mit, dass ein Raketenangriff angekündigt worden sei, und fragte, ob ich in den Luftschutzkeller gehen wolle. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Deshalb fragte ich die anderen, was sie tun würden. „Wir würden einfach hier bleiben“, sagten sie, aber ich müsse selbst entscheiden. Ich sagte, dass ich ebenfalls bleibe. Später, beim Mittagessen, wurde mir klar, wie viel meinen das meinen Gastgebern bedeutete. „Wir müssen hier bleiben“, sagten sie. „Das ist unsere Heimat, hier sind unsere Familien zu Hause. Du müsstest nicht hier sein, trotzdem hast du dich entschieden zu kommen. Das bedeutet uns sehr viel.“

Foto: Igor Nazarenko

Ich bin kein Held. Ich fühlte mich nicht besonders unsicher, als ich in die Ukraine reiste. Ich hatte meinen Gastgeber Arne und Lesya, meine Kontaktperson in Coventry, gefragt, ob es unvernünftig sei, in ein Kriegsgebiet zu fliegen. Auf der Website der Regierung ist es als rote Zone gekennzeichnet, in die man nicht reisen sollte. Aber man hatte mir gesagt, es sei in Ordnung. Und alles, was wir tun, hat ein Risiko. Also treffen wir unsere Entscheidungen auf der Grundlage dessen, was das Richtige ist, und im Gespräch mit den Menschen, die uns am nächsten stehen. Meine Frau Ricarda sagte: „Natürlich musst du hinfahren. Wozu ist die Nagelkreuzgemeinschaft da, wenn nicht, um einer Bitte nachzukommen, bei denen zu sein, die in einen Konflikt verwickelt sind?“

Also flog ich hin, um Zeugnis abzulegen, um bei ihnen zu sein und um ihre Geschichte nach Coventry zu bringen. Aber ich bin auch nach Odessa gereist, um von Coventry Zeugnis abzulegen, von unserer Geschichte, für sie. Was haben wir aus unserer Geschichte zu sagen? Wir haben zwei Dinge zu sagen:

„Wir kämpfen gegen das Böse und müssen uns gegen einen Angreifer verteidigen“

Das eine ist die existentielle Realität, dass Gottes Wille die Versöhnung aller Dinge ist. Es ist die Realität, die Propst Howard, der Leiter der Kathedrale, als sie bombardiert wurde, mit seinen Worten am Weihnachtstag 1940 bezeugte: „Wir versuchen, so schwer es auch sein mag, alle Gedanken an Rache zu verbannen… Wir werden versuchen, eine gütigere, einfachere, Christuskind-ähnlichere Welt in den Tagen nach diesem Konflikt zu schaffen.“ Doch in diesem Zusammenhang einfach von Versöhnung zu sprechen, kann – wie 1938 Chamberlains Aufruf zum Appeasement – wie eine Forderung wirken, dem Aggressor nachzugeben. Und viele in der Ukraine haben das Gefühl oder befürchten, dass der Westen genau das von ihnen verlangt.

Deshalb müssen wir uns auch an das andere erinnern, was Propst Howard in derselben Radiosendung sagte: „Wir rüsten uns, um die gewaltige Aufgabe, die Welt vor Tyrannei und Grausamkeit zu retten, zu Ende zu bringen… wir sind in tapferer Stimmung und können dem Empire ein tapferes Weihnachtsfest wünschen.“ Als ich für diese Predigt recherchierte, fiel mir auf, dass ich diese Zeilen normalerweise aus meinen Vorträgen entfernt habe. Tatsächlich stehen sie im selben Absatz wie seine Ablehnung der Rache. Die Sache ist die: Zwar sprechen wir von der größeren Hoffnung auf Versöhnung und halten an ihr als unserem Endziel fest. Aber wir kämpfen vielleicht gerade jetzt gegen das Böse, kämpfen wirklich, müssen uns gegen einen Angreifer verteidigen – auch wenn wir an der letzten Hoffnung auf Frieden festhalten.

Es war wirklich wichtig, dies in der Ukraine zu sagen. Nicht immer, wenn wir es wollen, können wir Versöhnung erreichen. Meine Gastgeber in Odessa sagten mir, meine schönen Worte – sich um einen Tisch zu versammeln, mutig unsere Unterschiede zu erforschen, Kunst zu nutzen, um uns zusammenzubringen – wären vor 2014, als Russland auf der Krim einmarschierte, vielleicht gut gewesen. Aber jetzt sei etwas anderes gefragt: Frieden mit Gerechtigkeit. Wir können nur mit denjenigen einen wirklichen Dialog führen, die bereit sind, die Wahrheit anzuerkennen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.

Auferstehung, Versöhnung und Verantworung: „Eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen“

„Resurrection“ und „Reconciliation“, Auferstehung und Versöhnung, sind die beiden Schlüsselbegriffe von Coventry. Einer meiner Gastgeber sagte zu mir: „Ich habe ein drittes ‚R‘ für dich: ‚Responsibility‘, Verantwortung.“ Damit traf er einen wichtigen Punkt: Auferstehung, Versöhnung und Verantwortung werden uns helfen, auf dem Weg zu einem gerechten Frieden voranzukommen. So lautet inzwischen auch der dritte Leitsatz unserer Nagelkreuzgemeinschaft: „Building a culture of peace an justice“ – „eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen“.

Autor: John Witcombe, Hochwürdiger Dekan von Coventry

 

„Mir fällt kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre“ – Eine Freiwillige berichtet aus Coventry

Foto: Sabrina Gröschel

Jährlich leisten junge Frauen oder Männer als Freiwillige des Nagelkreuzzentrums Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) einen zwölfmonatigen Friedensdienst an der Kathedrale von Coventry. Die Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. unterstützt diese Arbeit u. a. mit einem jährlichen finanziellen Zuschuss von zurzeit 4.000 €. Seit September 2023 ist Lea Rischmüller aus Hildesheim in Coventry. Vor einiger Zeit hat sie an Aktion Sühnezeichen über ihren Aufenthalt berichtet. Wir freuen uns, ihre ersten Eindrücke auch hier abdrucken zu können.

Ich bin Lea Rischmüller, 19 Jahre alt und mein Weg zu ASF hat eigentlich in Weston-super-Mare angefangen, der englischen Partnerstadt meiner Heimatstadt Hildesheim. Wann immer ich hier jemandem davon erzähle, schaue ich in entsetzte Gesichter – die Stadt ist wohl nicht unbedingt für ihre Schönheit bekannt. Aber dorthin habe ich mit 14 einen Austausch gemacht und hatte seitdem so ein Gefühl, dass ich gerne mal eine längere Zeit in Großbritannien verbringen würde. Auch wenn ich als unabhängige kleine Schwester natürlich gerne behaupten würde, dass ich selbst das Konzept Freiwilligendienst für mich entdeckt hätte, war es wohl meine große Schwester, durch die ich darauf gestoßen bin. Ich interessiere mich außerdem sehr für Politik und Geschichte, also habe ich mich im Herbst letzten Jahres bei mehreren Freiwilligendienstorganisationen beworben, die Projekte in der politischen bzw. historischen Bildungsarbeit und in Großbritannien anbieten. Der Bewerbungsprozess hatte mich schon in ein, zwei mittelschwere persönliche Krisen gestürzt, als im Februar 2023 das Angebot von ASF kam, dass ich mit ihnen einen Freiwilligendienst in der Kathedrale von Coventry in England machen könnte. Das hat sich direkt ziemlich richtig angefühlt, ich habe den unterzeichneten Vertrag abgeschickt und mich gefreut. Mit dem großen Muffensausen musste ich dann hauptsächlich in der Woche vor meiner Ausreise fertig werden. Ich weiß noch genau, wie ich krank in meinem Bett lag und mich selbst ganz wehleidig gefragt habe, warum ich überhaupt jemals nach England wollte, obwohl das ja unendlich weit weg ist; was passiert, wenn ich dort krank werde und sich niemand um mich kümmert; und mir eingeredet habe, dass ich nicht mal ein paar Tage in Coventry überstehen werde. So drehte sich die Gedankenspirale in mir abwärts, aber egal, wie sehr ich mich in meinem vermeintlichen Leid gesuhlt habe, für einen Rückzieher war es eh zu spät. Am 4. September 2023 saß ich letztendlich doch mit meinen zwei Koffern und meinem Rucksack im Zug auf dem Weg zum Vorbereitungsseminar.

Hilltop – Ausgangspunkt der „Coventry Story”

Die Seminartage in Krakau und London waren aufregend und cool, aber vor allem auch zu viel. Zu viele neue Menschen, zu viele Eindrücke und zu viel Realisation, dass dieses Auslandsjahr, was ich mir so lange in meinem Kopf ausgemalt habe, jetzt wirklich passiert. Zehn Tage später sind meine Mitfreiwillige Blanka und ich dann entsprechend übermüdet und überfordert in Coventry angekommen. Dort wurden wir sehr nett von Alice, der Zuständigen für Freiwillige in der Kathedrale, empfangen und in ihrem kleinen roten Fiat einzeln (für drei Menschen und vier Koffer war leider nicht genug Platz) vom Bahnhof zu unserer Wohnung gebracht. Was genau wir in den ersten Tagen gemacht haben, verschwimmt ein bisschen in meinen Erinnerungen, aber wir wurden auf jeden Fall sehr vielen Mitarbeitenden an der Kathedrale vorgestellt und haben versucht, uns in den Gebäuden und Fluren zurechtzufinden. Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie am Tag der offenen Tür an meiner weiterführenden Schule und war mir sehr sicher, dass ich mich regelmäßig verlaufen werde.

Foto: Nosipho Radebe

Rückblickend betrachtet ist es aber gar nicht so kompliziert: Ich verbringe den Großteil meiner Zeit auf „Hilltop“, einem Hügel mitten im Stadtzentrum, auf dem alle Gebäude der Kathedrale liegen. Dort befindet sich auch Dewis Lodge, ein verwinkelter Hausteil, der seit Jahren von immer wechselnden Freiwilligen, Praktikanten, Orgelschülerinnen und jetzt eben Blanka und mir bewohnt wird. Jeden Morgen laufe ich dann links eine schmale Kopfsteinpflastergasse hinauf, die sich vor allem bei Nässe als ernstzunehmende Gefahr für Leib und Leben entpuppt, und sehe als erstes die Ruinen der alten Kathedrale. Die wurde zerstört, als Coventry 1940 von der Luftwaffe zerbombt wurde. Anstatt sie wieder aufzubauen oder die noch stehenden Wände komplett abzureißen wurde direkt an die alten Mauern 1962 eine neue Kathedrale gebaut. Mein liebstes Gebäude ist aber St. Michael’s House direkt nebenan, dort sind die Büros vom Events- und vom CCN-Team, also den Teams, denen ich hauptsächlich zugeteilt bin. Mittwochs und donnerstags arbeite ich mit Alice für die „Community of the Cross of Nails“ (CCN), eine internationale Gemeinschaft christlicher Kirchen, die aus dem Versöhnungsgedanken nach der Zerstörung der alten Kathedrale entstanden ist. Der damalige Propst hat, anstatt Rache zu schwören, angefangen, Kontakt mit anderen zerstörten Städten und Kirchen vorrangig in Deutschland zu knüpfen. Diesen wurde dann irgendwann Kreuze aus Dachnägeln des eingefallenen Kirchendachs als Symbol der Verbundenheit überreicht und somit hat sich die „Coventry Story“, wie sie hier genannt wird, als Inspiration für Friedens- und Versöhnungsarbeit etabliert. Ein großer Teil der Arbeit der CCN ist es, Pilgerreisen nach Coventry anzubieten. In meiner Zeit hier habe ich deswegen schon eine Gruppe aus den Hamburger Hauptkirchen und eine aus verschiedenen Kirchen nahe Karlsruhe mitbetreut, die Seminare und Führungen zur Geschichte der Stadt und zur Versöhnungsarbeit bekommen haben. Ansonsten designe ich an meinen CCN-Tagen zum Beispiel den Newsletter oder bearbeite Anfragen aus Partnergemeinden.

Schottischer Volkstanz unterm Nagelkreuz

Montags, dienstags und freitags bin ich wiederum beim Arts-&-Events-Team, was abgesehen von mir aus Georgia, Molly und Tim besteht. Die drei sind Mitte zwanzig und nutzen die Räume der alten und neuen Kathedrale für alle möglichen Events. Manche sind monatlich angesetzt, wie zum Beispiel Filmscreenings, Yoga-Stunden oder das „Let’s chill: Baby-Hangout“.

Weihnachtliches Fotoshooting mit dem Eventsteam
Foto: Sarah Scouller

Bei letzterem können Eltern mit ihren Babys einen Vormittag lang auf einer großen Spielmatte vor dem Buntglasfenster in der neuen Kathedrale spielen (klang auch nach einem etwas komischen Konzept für mich, aber die Kinder scheinen unter dem Licht vom Fenster und so in der Ruhe der Kirche sehr gut entspannen zu können). Und dann stehen immer wechselnde Veranstaltungen an, die teilweise vom Team selbst und teilweise von externen Veranstaltern ausgerichtet werden. Seit ich hier bin, gab es schon ein Herbstfest in den Ruinen, mehrere klassische Konzerte und Kunstausstellungen, einen großen Flohmarkt, ein Wein-Tasting und vieles mehr. Das Spektrum des Möglichen ist auf jeden Fall breit, was mich anfangs auf jeden Fall positiv überrascht bis ein bisschen verwirrt hat. Dass eine Kirche für so viele Veranstaltungen genutzt wird, die wenig bis gar nichts mit Gott oder Glauben zu tun haben, kannte ich von zuhause nicht in dem Ausmaß. Wobei es auch hier natürlich Grenzen gibt: alles, was mit Halloween oder ähnlich ketzerischen Festen zu tun hat, ist zum Beispiel Tabu. Da jede Woche unterschiedliche Veranstaltungen anstehen, habe ich keinen festen Arbeitsablauf. An Tagen mit Events helfe ich vorher meistens beim Getränke einkaufen, Stühle stellen, dekorieren, Bar aufbauen oder sonstigen Vorbereitungen. Die Arbeit bei den Veranstaltungen an sich besteht dann manchmal aus Tickets kontrollieren, Getränke und Snacks verkaufen und selbst mitmachen, manchmal auch nur aus Toiletten zeigen und im Hintergrund bereitstehen, falls die Veranstalter:innen Probleme haben. Mein Highlight bis jetzt war auf jeden Fall das Step-into-Christmas-Weekend (die Elton-John-Referenz habe ich erst sehr spät verstanden) am ersten Adventswochenende. Freitagabends ging es mit einem Ceilidh los, das ist ein schottisch-irischer Volkstanz. Dafür haben wir die Kathedrale von allen Stühlen befreit, es kam eine traditionelle Band und eine Ansagerin und man hat in Paaren verschiedene Tänze beigebracht bekommen. Wir haben Glühwein und Mince Pies verkauft, immer abwechselnd selbst mitgetanzt und die Stimmung war super.

Verantwortung übernehmen

Am Samstag hatten wir dann einen vollen Tag mit zwei Vorführungen des Weihnachtsfilms „Nativity!“, der in Coventry spielt und teilweise in den Ruinen gedreht wurde, und einem kleinen Weihnachtsmarkt mit lokalen Hersteller:innen von Schmuck, Weihnachtskarten, Deko etc. in der Kathedrale. Darber habe ich mich am meisten gefreut, denn es war mein erstes kleines Projekt, die Stände dafür auszuwählen. Man konnte sich online bewerben, ich habe mir die Bewerbungen angeschaut, die besten ausgewählt und mit den Standbetreiber:innen über alle Details gemailt. Das klingt jetzt vielleicht nicht so weltbewegend, aber das war das erste Mal, dass ich die Hauptverantwortung für etwas hatte und die Stände an dem Tag dann in echt zu sehen, war ein sehr cooles Gefühl.

Step-into-Christmas-Weihnachtsmarkt
Foto: Lea Rischmüller

Was allerdings auch zu meinem Arbeitsalltag gehört, ist, dass ich an Tagen ohne Veranstaltungen noch oft ins Büro komme, ohne zu wissen, was ich heute zu tun habe. Ich gestalte dann Poster, bastele Deko, suche Fotos oder Videos für Social Media raus, recherchiere für anstehende Events und mache (elementar wichtiger Freiwilligen-Job!) Tee für alle. Hin und wieder sitze ich auch nur da, unterhalte mich mit den anderen und warte, bis es wieder etwas für mich zu tun gibt. An manchen Tagen stört mich das gar nicht, an anderen komme ich mir dadurch ein bisschen wie die nutzlose Praktikantin vor. Wahrscheinlich gehört das auch teilweise zur Position einer Freiwilligen dazu, aber ich hoffe trotzdem, dass ich in der Zukunft noch mehr feste Aufgaben bekomme, an denen ich arbeiten kann, ohne auf meine Kolleg:innen angewiesen zu sein.

Generell bin ich aber sehr glücklich mit meinem Projekt. Das Arbeitsumfeld ist total herzlich, ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt, falls ich irgendeine Aufgabe noch nie gemacht habe und mich erstmal einfinden muss und ich freue mich über jede Zeit mit meinen Kolleg:innen. Ob wir nur im Büro sitzen, gemeinsam Mittagspause machen, bei den Events an der Bar stehen, vorher zusammen kochen und essen oder außerhalb der Arbeit etwas unternehmen – ich habe sie einfach sehr gerne um mich und sie sind eine große Stütze für mich.

Heiligabend bei Wildfremden im Wohnzimmer

Das mag bis jetzt nicht so rüberkommen, aber ich gebe mir tatsächlich Mühe, mir auch ein bisschen ein Leben außerhalb der Kathedrale aufzubauen. Jeden Donnerstagabend singe ich daher im Chor der Warwick Universität und fühle mich seit der ersten Probe sehr wohl dort. Die Gruppe besteht zum einen aus Rentner:innen, mit denen ich in den Pausen sehr gerne einen kleinen Plausch halte, und zum anderen natürlich aus Student:innen, von denen manche mehr und manche weniger offen für Menschen von außerhalb sind. Ich gebe auf jeden Fall mein Bestes, aufgeschlossen zu sein, auf die Leute um mich herum zuzugehen und zum Beispiel im Fall von Amélie hat das sehr gut geklappt.

Foto: Lea Rischmüller

Sie studiert im ersten Semester englische Literatur, singt genauso wie ich 2. Sopran, und seitdem wir das erste Mal in einer Probe nebeneinandersaßen, verbringen wir auch außerhalb des Chores sehr viel Zeit zusammen. Irgendwann hat sie mich sogar eingeladen, über Weihnachten zu ihr und ihrer Familie nach Worcester zu kommen und genau das ist jetzt der Plan. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass ich nicht wie meine Mitfreiwilligen für die Feiertage nach Hause fliegen, sondern das so als Teil meines Auslandsjahres hier erleben will, und besser als bei der Familie einer Freundin könnte ich es mir nicht vorstellen. Ob ich das immer noch so cool finde, wenn ich Heiligabend bei wildfremden Eltern im Wohnzimmer sitze, weiß ich nicht, aber das werde ich jetzt wohl herausfinden.

„Get in the bin!“ und Pride-Ohrringe

Ein zusätzlicher Punkt, der für mein Auslandsjahr hier gesprochen hat, war, dass ich Lust hatte, den ganzen Tag eine andere Sprache, am liebsten Englisch, zu sprechen. Über zu wenig Englisch kann ich mich hier auf jeden Fall nicht beschweren, ich kann mich ja anders als andere ASF-Freiwillige nicht mal mit meiner Mitfreiwilligen, die aus Polen kommt, auf Deutsch unterhalten. Dementsprechend denke ich im Alltag gar nicht mehr so viel über den Sprachenunterschied nach und gebe einfach mein Bestes, mich verständlich auszudrücken. Nur wenn jemand beispielsweise ironische Kommentare macht oder meine Kolleg:innen in schnelle Schlagabtausche über irgendwelche englischen Serien oder Bücher geraten, muss ich mein wissendes Gesicht auflegen, ohne wirklich etwas zu verstehen. Dann sitze ich daneben, versuche nachzuvollziehen, was sie meinen und höre manchmal auch nur sehr interessiert zu, welche Sprüche und Redewendungen sie so benutzen. Einer meiner Favoriten stammt aus Georgias Wortschatz. Wenn sie geschockt von dem ist, was ihr jemand erzählt oder etwas gar nicht glauben kann, kommt immer ein sehr empörtes „get in the bin!“ von ihr. Ich würde an der Stelle vielleicht mit „als ob“ oder „das kann doch nicht wahr sein“ reagieren, aber „get in the bin“ trifft das Gefühl viel besser, finde ich. Einen weiteren Favoriten habe ich das erste Mal bei Mary gehört. Sie ist hier Kanonikerin, trägt Pride-Ohrringe, hat ein eigenes Andachtsformat eingeführt, in dem sie sich dem christlichen Glauben über Kunst und Musik nähert und ist einfach die coolste Geistliche, die ich je getroffen habe. Wenn ich eine Aufgabe für sie erledige oder ihr einen Gefallen tue, bedankt sie sich manchmal nicht nur, sondern sagt „You’re a star!“. Und was soll ich sagen, wenn Mary das zu mir sagt, fühle ich mich jedes Mal wie die wertvollste Person der Welt.

Erster Besuch von zuhause
Foto: Nosipho Radebe

Ich hoffe, es kommt rüber, dass ich hier eine sehr gute Zeit habe und mich grundsätzlich wirklich wohl fühle. Trotzdem gibt es auch regelmäßig Tage, an denen ich mich sehr allein fühle, vor allem wenn ich gerade lange mit jemandem zuhause telefoniert habe oder nachdem meine beste Freundin und ihre Mutter, mit denen ich eine sehr tolle Woche hier hatte, wieder abgereist waren. Ich fühle mich dann räumlich, aber auch emotional so weit weg von allen, die ich vermisse, dass ich richtig traurig werde. Wahrscheinlich wird mich dieses Gefühl auch in den nächsten Monaten weiter begleiten, faktisch bin ich ja auch ziemlich weit weg und ziemlich allein.

Immer wenn ich allerdings darüber nachdenke, ob es die richtige Entscheidung war, nach Coventry zu kommen, fällt mir kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre. Es fühlt sich total richtig an, hier zu sein und ich bin sehr froh, dass sich die krank im Bett liegende und panikschiebende Lea Ende August nicht dazu entschieden hat, die Idee mit dem Freiwilligendienst in England doch noch spontan über Bord zu werfen!

Ich möchte mich abschließend beim Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD), bei der Evangelischen Landeskirche Hannovers, bei der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. und bei der Kathedrale von Coventry für die Unterstützung meines Dienstes bedanken. Natürlich geht auch ein sehr großes Danke an meine ASF-Pat:innen – und Chapeau, wenn Sie nicht schon nach der Hälfte dieses Berichtes das Lesen aufgegeben haben!

Autorin: Lea Rischmüller

Region „Mitte“ hat sich in der Weimarer Herderkirche getroffen

Foto: Tabea Kormeier

Bei herrlichem Sonnenschein trafen sich am 9. März 2024 die Vertreter:innen der Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder der Region Mitte in Weimar. Es war bereits das 10. Treffen. Besonders erfreulich: Die Zahl der Teilnehmer:innen wächst! Dieses Jahr waren es Vertreter:innen aus 11 von 16 Zentren der Region. Die ausgebliebenen Zentren hatten im Vorfeld die Möglichkeit erhalten, schriftlich von ihrer Arbeit zu berichten und so ebenfalls „anwesend“ zu sein. Auch Informationen von der Vorstandsarbeit des Vereins fanden auf diese Weise ihren Weg zu den Teilnehmer:innen.

Die Zusammenkunft begann mit einer Andacht am Nagelkreuz in der Herderkirche, die von Pfarrer Sebastian Kircheis gestaltet wurde. Im Anschluss führte Superintendent Heinrich Herbst unter dem Leitgedanken „Narben und Wunden aus der Vergangenheit“ durch die Kirche. Manche Verletzungen, wie etwa abgeschlagene Köpfe, bleiben bestehen, erzählen aber trotzdem ihre Geschichte. Andere Narben konnten geheilt werden, zum Beispiel eine beschädigte Bibel.

Im nahe gelegenen Herderzentrum lernten sich die Anwesenden näher kennen, insbesondere indem sie von der Arbeit in ihren Zentren berichteten. So fanden sich auch Ansprechpartner:innen für die Vernetzung und Zusammenarbeit bei konkreten Themen. Deutlich wurde auch der Wunsch nach einem Wandernagelkreuz: Immer mehr Zentren arbeiten in ökumenischer Besetzung oder bringen das Nagelkreuz und seine Intentionen vermehrt in den öffentlichen Raum. Schwerpunkte der an allen Orten regelmäßig gehaltenen Gebete sind vor allem die aktuellen Kriege und die anstehenden Wahlen mit dem befürchteten Rechtsruck.

Foto: Teresa Tenbergen

Passend dazu war das Thema des Vortrages nach dem Mittagessen gewählt. Dr. Sebastian Kranich, Direktor der Ev. Akademie Thüringen, sprach zu „Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und ‚klarer Kante‘“. Nach einer anfänglichen biografischen Selbstverortung setzte Kranich vier Schwerpunkte: Die Frage, was überhaupt Versöhnung sei. Was es heißt, miteinander zu reden. Was mit „klarer Kante“ sei. Und schließlich ein Rückgriff auf Bonhoeffer und seine Rechenschaft nach zehn Jahren Nationalsozialismus in Deutschland.

Während der durch Paulus geprägte Gedanke des Bedarfs eines Gesandten zur Vermittlung zwischen unterschiedlichen Positionen in der anschließenden Diskussion weniger eine Rolle spielte, zeigten Gedanken zum Setting eines Dialogs rege Resonanz. Neben der grundlegenden Bereitschaft und Fähigkeit, einander zuzuhören und verstehen zu wollen, ist es erforderlich, genau hinzuhören. Denn Hass macht ungenau, führt zu Verallgemeinerungen und unberechtigter Ablehnung. Weiter blieb der Gedanke hängen, dass es für die Bereitschaft der Selbsthinterfragung und Öffnung der eigenen Position wichtig ist, in einem kleinen Rahmen zu sprechen. In großen Versammlungen neigen die Teilnehmenden stärker dazu, sich selbst zu behaupten und die eigene Position wirksam dazustellen.

Möglicherweise gilt hier das Wort Jesu von der Versammlung von zwei oder drei in einen ganz anderen Kontext: Jesus ist ebenfalls Vorbild und Maßstab für einerseits das Verstehen und andererseits das „klare-Kante-Zeigen“, wenn er beispielsweise die Händler aus dem Tempel wirft. Diesen Weg schlägt, so die Befürchtung mancher Teilnehmer, gerade die Kirche ein, wenn sie rechtsorientierten Parteien den Zugang zu Podien verwehrt, weil diese eben kirchen- und auch demokratiefeindlich sind. Schließlich nutzte der Referent Gedanken von Bonhoeffer, um den eigenen Standort und das eigene Nicht-/Handeln kritisch zu reflektieren. Die anschließende Diskussion vertiefte die Überlegungen und nutzte dabei den kleinen Rahmen zu einem offenen Austausch der Gedanken.

Nach einem Kaffee gab es schließlich noch eine Stadtführung, bei der allerdings schon manche Teilnehmer:innen „verloren“ gingen. Das Gruppenfoto ist deshalb nicht mehr ganz vollzählig ist. Aber, vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr – sicher mit noch mehr Teilnehmer:innen! Die Region hat bereits eine Einladung der Nagelkreuzbewerber aus Chemnitz angenommen und sich für den 8. März 2025 dort verabredet. Gern dürfen Sie sich diesen Termin bereits notieren.

Autorin: Tabea Kormeier

 

25 Jahre Nagelkreuz für die Militärseelsorge: Feierlicher Konvent in Strausberg

Foto: Azayan

Das Evangelische Militärdekanat Mitte erneuerte während seines Gesamtkonvents im Februar 2024 in Strausberg bei Berlin seine Mitgliedschaft in der Nagelkreuzgemeinschaft. Anlass war die Verleihung des Nagelkreuzes an den damaligen „Beauftragten für die Seelsorge an Soldaten in den neuen Bundesländern“ vor 25 Jahren.

Damals, am 12. Februar 1999, hatte nicht nur die Dresdner Frauenkirche ihr bekanntes Turmkreuz aus Coventry erhalten. Am gleichen Tag überreichte der seinerzeitige Dekan der Kathedrale John Petty auch ein Nagelkreuz an Dr. Werner Krätschell. Dieser hatte auf Bitte des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, 1997 den Aufbau der Militärseelsorge in den „neuen Bundesländern“ übernommen.

Zwar ist das Amt des „Beauftragten“ längst abgeschafft und die evangelische Seelsorge für die Soldatinnen und Soldaten wird seit 2004 auch in den östlichen Bundesländern von der Evangelischen Kirche in Deutschland wahrgenommen. Das Nagelkreuz gibt es allerdings noch immer. Es hat seine Heimat inzwischen beim Evangelischen Militärdekanat Mitte in Berlin. Es wandert durch die Pfarrämter des Dekanatsbereichs, wo es die Gottesdienste und Andachten bereichert. Auch bei zwei Auslandseinsätzen in Afghanistan und im Kosovo war es mit dabei.

Foto: Azayan

Schon bevor Krätschell das Kreuz in Coventry erhielt, war es als Versöhnungsbotschafter auf Schiffen der britischen und deutschen Marine unterwegs. Verliehen war es damals an Militärpfarrer Herbert Tratz, Mitgründer und Mitglied des ersten Vorstandes der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. Es blickt auf eine Geschichte sowohl im Bereich des ehemaligen Nord- als auch Ost-Konvents der Evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr zurück. Inzwischen sind beide Konvente zum Dekanat Mitte vereint. Damit steht das Kreuz neben seiner Versöhnungsbotschaft auch als verbindendes Symbol für den zusammengewachsenen Konvent.

Der Jubiläumsgottesdienst wurde am 28. Februar 2024 im Saal des Strausberger „Zentrums für Informationsarbeit der Bundeswehr“ gehalten. Militärpfarrer Matthias Spikermann erinnerte in seiner Predigt an die Versöhnungsidee von Coventry. Seitens der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. erneuerte anschließend Felicitas Weileder die Verleihung des Nagelkreuzes nun an den zusammengewachsenen Konvent Mitte. Anschließend sprachen Weileder und Dr. Krätschell die Versöhnungslitanei von Coventry. Das Gebet ist auch im Evangelischen Gesang- und Gebetbuch für Soldaten abgedruckt.

Als weitere Gäste waren Dr. Jan Kingreen von der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und Friedensbeauftragter der EKBO, Pfarrerin Angelika Behnke von der Dresdner Frauenkirche und die Vertreter des Nagelkreuzzentrums der Berliner Martin-Luther-Gedächtniskirche Klaus Wirbel, Gerd Niehoff und Rainer Drews zugegen. Im Anschluss an den Abendmahlsgottesdienst sorgte ein Empfang für Gelegenheit zum ausgiebigen Gedankenaustausch.

Foto: Azayan

Für die Organisation der Jubiläumsveranstaltung und die Liturgie des Festgottesdienstes verantwortlich waren Militärpfarrerin Inga Troue, Militärpfarrer Michael Blaszcyk und Militärpfarrer Matthias Spikermann. Die musikalische Ausgestaltung übernahm Pfarrhelfer Kay Dobberstein, welcher inzwischen selbst seit 25 Jahren seinen Dienst in der Militärseelsorge verrichtet.

Autor: Matthias Spikermann

 

Region „Südwest“ hat sich im Haus der Ev. Kirche Pforzheim getroffen

Foto: Gernot Härdt

Im Haus der Ev. Kirche in Pforzheim trafen sich am 9. März 2024 Vertreter:innen der zwölf Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder der Region Südwest. Die rund 25 Teilnehmerinnen waren u. a. aus Württemberg, Darmstadt, Saarbrücken, Offenburg, Karlsruhe und natürlich aus Pforzheim angereist.

Christian Roß berichtete aus der Arbeit des Leitungskreises. Die Teilnehmer:innen regten an, über einen Neuzuschnitt der ausgedehnten Region nachzudenken. Ihren Berichten war zudem zu entnehmen, dass die Beteiligung an den Andachten unterschiedlich ist. Die Zentren mit eher schwacher Resonanz ließen sich ermutigen, trotzdem „dranzubleiben“, um den Versöhnungsgedanken weiterzutragen.

Foto: Hans Gölz-Eisinger

Gegenstand der Überlegungen war auch, den Begriff „Nagelkreuz“ in der Bezeichnung der Andachten durch Wörter wie Friedensgebet, ökumenisches Mittagsgebet o. ä. zu ersetzen, um Außenstehende nicht abzuschrecken. Beraten wurde auch die zukünftige Gestaltung der Nagelkreuz-Jugendarbeit (u. a. Fahrt nach Coventry) und die Einrichtung einer Online-Cloud zum Austausch von Materialien und Informationen.

Foto: Hans Gölz-Eisinger

Roland Ganninger führte die Teilnehmer durch die Stadtkirche Pforzheim und informierte über die Geschichte der Kirche und des dortigen Nagelkreuzes. Den Abschluss des Treffens bildete eine Andacht bei einem Puzzle mit den Namen der Partnergemeinden der Stadt Pforzheim. Das Puzzle soll bis zum Ende des Ukrainekrieges in der Kirche ausliegen und steht unter dem Leitgedanken „Damit aus Fremden Freunde werden“. Das nächste Regionaltreffen Südwest findet am 22. März 2025 in der Ludwigskirche Saarbrücken statt.

Autor: Gernot Härdt