Berichte aus der Nagelkreuzgemeinschaft und den Nagelkreuzzentren

Drei neue Nagelkreuzzentren in sechs Tagen

Seit dem 26. Oktober stehen drei weitere Nagelkreuze in Deutschland. Foto: Karsten Socher

Eine Woche, drei Orte, drei Gottesdienste – und drei neue Nagelkreuze. Ende Oktober ist die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft sichtbar gewachsen: Kassel, Frankfurt am Main und Stutensee-Weingarten gehören nun zu unserem weltweiten Versöhnungsnetzwerk. Canon Kate Massey und Richard Parker brachten die Kreuze persönlich von Coventry nach Deutschland. Die Liturgie der Übergabe war an allen drei Orten dieselbe. Alles andere nicht. In Kassel fiel die Aufnahme mit dem Jahrestag der Bombennacht von 1943 zusammen. In Frankfurt fand sie in der Alten Nikolaikirche am Römerberg statt, wenige Schritte von Paulskirche und Römer entfernt. In Stutensee-Weingarten stand die Erinnerung an die Bombardierung vom 2. Februar 1945 im Mittelpunkt, bei der Menschen in den Dörfern ebenso ums Leben kamen wie eine britische Bomberbesatzung. Entsprechend der Geschichte der Orte und Fragen, die dort gestellt werden, unterschieden sich Musik, Gebete und Worte. Was die drei Gottesdienste verband, war der öffentliche Empfang des Nagelkreuzes, verbunden mit einem feierlichen und würdigen Bekenntnis zu Frieden und Versöhnung.

Gottesdienst in der Martinskirche Kassel. Foto: Karsten Socher

Kassel: Aufnahme am Jahrestag der Bombennacht

Am 22. Oktober erhielt die Martinskirche Kassel ihr Nagelkreuz – am Jahrestag der Bombennacht von 1943, in der über 10.000 Menschen starben. Die Kirche wurde damals schwer getroffen, zerbrach mit der Stadt und wurde später zum zentralen Erinnerungsort. Der Tag der Übergabe verband so Vergangenheit und Gegenwart auf besondere Weise.

Der ökumenische Gottesdienst war reich an Musik, kunstvoll mitgestaltet von der Kantorei St. Martin unter der Leitung von Eckhard Manz. Johannes Brahms’ Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“ ließ die Klage Hiobs hörbar werden. Wolf Biermanns „Wann ist denn endlich Frieden?“ stellte die Frage nach dem Ende der Gewalt mit scharfem Nachdruck. Choräle wie „Die Nacht ist vorgedrungen“ und „Freunde, dass der Mandelzweig“ gaben der Gemeinde Stimme für Hoffnung und Zukunft.

Kantorei St. Martin Kassel. Foto: Karsten Socher

Viele Mitwirkende prägten die Feier: Bischöfin Beate Hofmann, Stadtdekan Michael Glöckner, Pastoralreferent Stefan Ahr, Kirchenrat Hans Helmut Horn und Oberbürgermeister Sven Schoeller. Grußworte kamen von der Kulturplattform St. Martin und von der Nagelkreuzgemeinschaft. Die Predigt hielt Kate Massey.

Unter der Überschrift „Unser Weg nach Coventry“ sprach die Gemeinde selbst: Rafael Gleichmann, ein Konfirmand, erzählte von Streit und Versöhnung im Alltag. Prof. Ingrid Lübke, Kirchenvorsteherin, erinnerte an ihre Nachkriegskindheit und an Erfahrungen der Versöhnung mit Frankreich. Zwei Generationen, zwei Stimmen – beide machten deutlich, dass das Nagelkreuz nicht nur Zeichen, sondern Auftrag ist. Ihre Gedanken können Sie hier nachlesen.

Besonderer Bestandteil des Gottesdienstes war das Gedenken an die Bombennacht. Die Osanna-Glocke, die 1943 zerbrach und später neu gegossen wurde, erklang. Während ihres Läutens hielt die Gemeinde in Stille inne. Dass sie heute wieder läutet, ist ein starkes Zeichen: Zerstörung hat nicht das letzte Wort. Wie in Coventry wird Erinnerung hier selbst zum Beginn neuer Hoffnung.

Kate Massey, Antje Biller, Andrea Braunberger-Myers und Richard Parker (v.l.n.r.) in Frankfurt. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Die Martinskirche knüpft an das Erinnern auch Konsequenzen: Ökumenische und interreligiöse Gottesdienste, Engagement im Kirchenasyl, ein „Tisch für alle“ auf dem Martinsplatz, Veranstaltungen zum Tod von Walter Lübcke.

Frankfurt: Ein Nagelkreuz am Römerberg

Zwei Tage später wurde die Evangelische Sankt-Pauls-Gemeinde Frankfurt am Main in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Ort der Feier war die Alte Nikolaikirche am Römerberg – ein Platz, an dem sich deutsche Geschichte wie unter einem Brennglas bündelt. 1933 wurden hier Bücher verbrannt, in den Bombennächten brannte die Altstadt, gleich nebenan die Paulskirche, Symbol der Demokratie. Inmitten dieses Gefüges steht die Nikolaikirche – seit Jahren täglich geöffnet, eine offene Stadtkirche im Strom der Stadt.

Die Liturgie nahm diesen Ort ernst. Die Versöhnungslitanei von Coventry wurde gebetet, wo Frankfurt seine eigenen Schuldgeschichten kennt. In ihrer Predigt spannte Pfarrerin Andrea Braunberger-Myers den Bogen vom einfachen Nagel – der verletzen kann, aber auch verbindet und trägt – zur Geschichte Coventrys und zu Jesaja 55: Gottes Wort kommt nicht leer zurück, sondern hat den Auftrag, Frieden und Versöhnung zu schaffen. Daraus leitete sie für die Evangelische Sankt-Pauls-Gemeinde Frankfurt am Main einen klaren Auftrag hier am Römerberg ab: Schuld benennen, Antisemitismus und Rassismus entgegentreten, für Menschenrechte einstehen und die demokratische Verantwortung der Paulskirche wachhalten. Den Wortlaut der Predigt können Sie hier nachlesen.“

Auch die Musik setzte Akzente. Charles Wesleys „Jesus, lover of my soul” aus dem 18. Jahrhundert sang von Zuflucht im Sturm – ein Bild, das sich in einer Stadt, die Krieg und Zerstörung erlebt hat, sofort erschließt. Am Ende erklang John Rutters „The Lord bless you and keep you”. Der alte Segensspruch Israels, neu vertont, wurde zu einer Zusage, die über den Gottesdienst hinausreichte. Gesungen wurde in deutscher und englischer Sprache – auch das ein starkes Symbol für die Verbundenheit über Völker und Nationen hinweg.

In Stutensee-Weingarten wurden gleich zwei Nagelkreuze übergeben. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Mit dem Kreuz von Coventry wurde die Sankt-Pauls-Gemeinde in dem bestätigt, was hier längst geschieht: Erinnerung an die Bombennächte und die verbrannten Bücher, Stolpersteinführungen, das Projekt „Beim Namen nennen“, das die Toten im Mittelmeer ins Gedächtnis ruft. Offene Kirche, tägliche Andachten, musikalische Vespern – mitten in der Stadt, im Gespräch mit ihrer Geschichte.

Stutensee-Weingarten: Zwei Kreuze für eine Region

Am 26. Oktober schließlich nahm der Evangelische Kooperationsraum Stutensee-Weingarten das Nagelkreuz in Empfang. Gefeiert wurde in der Michaeliskirche in Blankenloch, einem der Zentren des Zusammenschlusses mehrerer Gemeinden nördlich von Karlsruhe. Canon Kate Massey übergab gleich zwei Kreuze: eines bleibt in Blankenloch, das andere geht als Wandernagelkreuz nach Staffort.

Die Geschichte, die diesen Ort prägt, reicht zurück in die Nacht vom 2. Februar 1945. Eigentlich galt der Angriff Karlsruhe, doch durch verwehte Markierungen trafen die Bomben Staffort-Büchenau und umliegende Dörfer. Menschen starben, Häuser brannten, auch eine britische Bomberbesatzung kam ums Leben. Bis heute erinnert eine Gedenktafel an sie – Ausdruck einer Haltung, die nicht nur das eigene Leid im Blick behält, sondern auch das der anderen.

Gottesdienst in der Alten Nikolaikirche in Frankfurt a. M. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Diese Bereitschaft, an die ganze Geschichte zu erinnern, ist zum Markenzeichen der Gemeinden geworden. Sie pflegen seit Jahren Kontakte nach England, haben Pilgerfahrten nach Coventry unternommen und den Austausch mit Stafford gesucht. Versöhnung bleibt hier nicht abstrakt, sondern konkret: in Begegnungen über Grenzen hinweg, in Gedenkfeiern, die Opfer und Täter gleichermaßen benennen.

Darum war es folgerichtig, dass Stutensee-Weingarten ein Nagelkreuz erhielt. Pfarrer Holger Müller hatte die Verbindung zur Gemeinschaft schon länger als Einzelmitglied getragen. Nun ist aus der persönlichen Beziehung ein gemeinsames Zeichen geworden, das die ganze Region einschließt. Dass ein Kreuz bleibt und das andere wandert, macht sichtbar: Versöhnung ist nicht an einzelne Orte gebunden, sondern ein Projekt vieler Gruppen und Gemeinden.

Wachsende Gemeinschaft

Canon Kate Massey aus Coventry. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Mit Kassel, Frankfurt und Stutensee-Weingarten sind in nur einer Woche drei neue Nagelkreuzzentren hinzugekommen; in den vergangenen zwei Jahren waren es insgesamt neun. Das zeigt, wie lebendig die Botschaft des Nagelkreuzes in Deutschland ist – und wie vielfältig die Orte sind, an denen sie Gestalt gewinnt: von der Großstadtkirche bis zum Dorf, von historischen Erinnerungsstätten bis zu Gemeinden, die im Alltag Türen offenhalten.

Dass diese Orte nun Teil der Gemeinschaft sind, ist das Werk vieler: Pfarrerinnen und Kirchenvorsteher, Chöre und Ehrenamtliche, Gemeindeglieder, die Texte vorbereitet, Kerzen entzündet und Lieder gesungen haben. Sie alle tragen die Überzeugung, dass Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben dürfen – wie die vielen Menschen weltweit, die mit einem Nagelkreuz in ihren Kirchen und Herzen für Frieden und Versöhnung eintreten.

Auf der Mitgliederversammlung im November in Münster wird es Gelegenheit geben, die neuen Zentren kennenzulernen und erste persönliche Beziehungen mit den „Neuen“ zu knüpfen.

Autoren: Niels Faßbender, Christian Roß

 

Ein Nagel, der hält – Predigt zur Aufnahme der Sankt-Pauls-Gemeinde Frankfurt am Main in die Nagelkreuzgemeinschaft

Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Am 24. Oktober 2025 hat Pfarrerin Andrea Braunberger-Myers in der Alten Nikolaikirche am Römerberg, Frankfurt am Main, im Festgottesdienst zur Übergabe des Nagelkreuzes von Coventry an die Evangelische Sankt-Pauls-Gemeinde gepredigt. Ausgangspunkt der Predigt ist ein einfacher Nagel: ein Gegenstand, der verletzen kann – und der, einmal eingeschlagen, trägt, hält und verbindet. Von dort schlägt die Predigt den Bogen nach Coventry 1940, zur Entstehung des Nagelkreuzes und zur Bitte „Vater, vergib“, bis hin zu Jesaja 55. Sie versteht die Aufnahme in die Nagelkreuzgemeinschaft als öffentlich ausgesprochene Verpflichtung: zur Erinnerung an die Kriege, die von Deutschland ausgingen, zum Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus heute, zur Verteidigung der Menschenwürde und zur Wachhaltung demokratischer Verantwortung – in unmittelbarer Nähe der Paulskirche. Eine Zusammenfassung der Gottesdienste in Frankfurt, Kassel und Stutensee-Weingarten und Hintergründe zur Aufnahme der neuen Nagelkreuzzentren finden Sie klick->hier<- auf unserer Seite. Nachfolgend dokumentieren wir die Predigt.

Dear Canon Kate Massey, dear Richard Parker, our honored guests from Coventry,

liebe Gäste aus der Nagelkreuzgemeinschaft, und alle zusammen: Liebe Gemeinde!

Ich habe Ihnen meine Nägelbox mitgebracht. Normalerweise steht sie im Schrank bei Hammer und Zange und Schraubenzieher. Eine kleine Kiste voller Nägel, alle aus Metall, länger, kürzer, dicker, dünner – je nachdem, was man halt so braucht, um etwas festzunageln. Manche Nägel sind sehr spitz, andere etwas stumpfer. Alle noch unbenutzt, unverbogen und ohne Rost. Wenn ich einen Nagel in der Hand halte, weiß ich: Das ist ein Nagel, weil ein Nagel eben so aussieht – kleiner metallener Kopf, langer Schaft. Aber richtig Sinn macht ein Nagel erst, wenn er benutzt wird, wenn man ihn in die Hand nimmt und mit dem Hammer in die Wand schlägt. Möglichst ohne sich zu verletzten. Denn so ein Hammerschlag auf den Daumen oder Zeigefinger tut höllisch weh. Überhaupt, an so einem unscheinbaren Nagel kann man sich schwer verletzen: Sind Sie schon einmal barfuß in einen Nagel getreten? Oder haben sich einen Nagel versehentlich in die Hand getrieben? Oder Sie haben sich an einem rostigen alten Nagel gerissen und eine Blutvergiftung riskiert? Das sind Verletzungen, mit denen man lange zu tun hat. So ein Nagel kann ein gefährliches Instrument, ja eine Waffe sein.

Ist der Nagel aber erst einmal in die Wand oder die Tür oder ein Brett geschlagen, dann ist er ein unverzichtbarer Bestandteil des Ganzen. Ein Nagel mit Öse befestigt das Bild an der Wand. Ein oder mehrere Nägel halten das Regal oder den Schrank oder das Bett zusammen. Am Nagel in der Werkstatt hängt der Gartenkittel oder die Säge oder der Wasserschlauch. So ein Nagel ist deshalb seit Jahrtausenden ein äußerst nützliches Utensil, das Halt gibt, zusammenhält und für Ordnung sorgt.

14./15. November 1940: Die deutsche Wehrmacht bombardiert das mittelenglische Coventry. Weite Teile der historischen Altstadt fallen den Angriffen zum Opfer. Auch die gotische Kathedrale St. Michael. Unmittelbar nach der Zerstörung von Stadt und Kathedrale setzt das Domkapitel in Coventry auf Versöhnung statt Vergeltung. Das hätte auch anders kommen können: Bis heute rufen leider auch Geistliche aller Religionen zum Krieg auf, um Rache auszuüben und nationale oder religiöse Interessen zu verfolgen.

Anders 1940 an der Kathedrale von Coventry: Aus drei mittelalterlichen Zimmermannsnägeln, die verbrannt im Schutt der zerstörten Ruine gefunden wurden, formte man ein Kreuz – das ursprüngliche Nagelkreuz von Coventry, als Symbol der Hoffnung und des Glaubens in Unheilszeiten. Denn das ist es schon immer gewesen, das Kreuz, Symbol der Hoffnung und des Glaubens! Seit jenem Tag in Jerusalem, als Jesus Christus an einem Kreuz starb und zumindest einer der Evangelisten, Lukas, als letzte Worte Jesu überliefert (Lukas 23,14): „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Und mehr noch, viel mehr: Drei Tage später erstand Jesus von den Toten und gehört seitdem zu den Lebenden. Das sprach sich erst langsam, tastend, zögernd herum, dann immer schneller und kräftiger: Jesus lebt und wir, die wir zu ihm gehören, mit ihm! Das Kreuz wurde das Symbol der Christenheit, weltweit bekannt und erkannt. Wenn tagtäglich Touristen unsere Alte Nikolaikirche durch die offene Tür betreten, erkennen sie mit einem Blick zum Altar, wo sie sind, nämlich in einer christlichen Kirche. Das Kreuz zeigt es ihnen.

Dompropst Howard ließ 1940 die Worte Father, forgive („Vater, vergib“) in die Ruinen des gotischen Chores der Kathedrale einmeißeln. „Vater, vergib“: Diese Worte stellen heute den Kern der Versöhnungslitanei von Coventry dar, auf die sich alle Mitglieder der Nagelkreuzgemeinschaft verpflichtet haben – und wir als Paulsgemeinde ab heute auch. Wir haben das Gebet eben schon gehört und mitgebetet. Es ist zukünftig in der Nagelkreuzecke an der Südwestseite unserer Kirche nachzulesen und gerne mitzubeten.

Jedes Kreuz, auch das Nagelkreuz, orientiert sich am Kreuz Jesu Christi. Der Gedanke der Vergebung und der Versöhnung im Namen Gottes aber stammt aus der hebräischen Bibel und ist viele hundert Jahre älter, nachzulesen etwa im Buch des Propheten Jesaja – Jesaja 55,6-13: „Suchet den Herrn, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt sie wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem Herrn soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.“ (Lutherübersetzung 2017)

Eine große Friedensvision, die die ganze Welt umfasst – auch die Ukraine, den Sudan und Israel und Palästina und ihre Nachbarländer! Eine Welt, in der die Waffen endgültig schweigen, in der alle genug zum Leben haben, in der die Natur buchstäblich jubelt vor Freude und die Menschen sich vom Wort Gottes ernähren. Genau darum geht es in der Nagelkreuzgemeinschaft, die inzwischen weltweit über 300 Zentren zählt und in dieser Woche in Deutschland um drei weitere Zentren wächst. Und darauf wollen wir uns verpflichten, wenn wir heute als St. Paulsgemeinde in Frankfurt der Nagelkreuzgemeinschaft beitreten: auf ein ehrliches Gedenken in Frankfurt an die Kriege, die Deutschland verursacht und blutig gegen andere geführt hat, auf das Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus heute, auf den mitfühlenden Blick gegenüber leidenden Menschen, auf Standhaftigkeit, wenn Menschenrechte verletzt werden, auf das ständige Erinnern an die schon 1848 in unserer Frankfurter Paulskirche formulierten demokratischen Regeln des Zusammenlebens.

Deshalb: Vater, vergib!

Also nicht um der eigenen Ehre willen, sondern „zum Ruhm und zur Ehre Gottes, und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.“ (Jesaja 55, 13) Das sog. Stuttgarter Schuldbekenntnis, dessen 80. Jahrestag wir am letzten Wochenende begangen haben, war 1945 ein erster und aus heutiger Sicht unzureichender Versuch, das Versagen der Ev. Kirche im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu benennen und zu bekennen. Der erste Kirchenpräsident unserer Ev. Landeskirche in Hessen und Nassau, Martin Niemöller, hat daran mitgewirkt. Er hat auch diese Alte Nikolaikirche nach ihrer Sanierung von Kriegsschäden im Januar 1949 wieder eingeweiht. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis heißt es u.a.: „…wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Und ja, das alles müssen wir leider bis heute lernen, als Christen und Christinnen in Frankfurt und in Deutschland und in der weiten Welt: genauer hinsehen, Schuld mutiger bekennen, treuer und stetiger beten, fröhlicher glauben, vorbehaltloser lieben.

Deshalb: Vater, vergib!

Das Nagelkreuz von Coventry soll uns hier an diesem Ort ab jetzt stetige Erinnerung und Mahnung, auch Aufforderung dazu sein, für heutige und zukünftige Generationen. Daran machen wir uns fest wie an einem professionell in die Wand geschlagenen Nagel, der Halt gibt und ordnet und zusammenhält. Und Gottes Wort in Jesus Christus, das wir hören und beten und tun, wird nicht leer zu uns zurückkommen. Sondern ihm wird gelingen, wozu Gott es gesandt hat, zu Frieden und Versöhnung.

Deshalb: Vater, vergib!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Autorin: Andrea Braunberger-Myers, Pfarrerin

 

Was Versöhnung bedeutet – zwei Stimmen aus Kassel

Rafael Gleichmann. Foto: Karsten Socher

Zwei Stimmen, zwei Generationen, zwei Blickwinkel: Der eine erzählt aus der Erfahrung des Alltags – von Streit, Missverständnissen und der manchmal schwierigen Suche nach einem neuen Anfang. Die andere spricht mit der Erinnerung an Krieg und Zerstörung und mit der Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Bei der Nagelkreuzübergabe in Kassel berichteten Konfirmand Rafael Gleichmann und Kirchenvorstandsmitglied Prof. Ingrid Lübke im Gedenk- und Festgottesdienst, was sie sich unter Versöhnung vorstellen. Gemeinsam zeigen beide Texte, dass Versöhnung weder abstrakt noch fern ist, sondern mitten in unserem Leben geschieht – heute, hier und jetzt. Anschließend sind ihre Texte dokumentiert. Einen Bericht über die Nagelkreuzübergabe finden Sie klick->hier<-.

Rafael Gleichmann

Streiten mag ich gar nicht und ich bin auch nicht der Typ dafür. Aber manchmal passiert es einfach. Ein falsches Wort, oder ein blöder Blick – und schon ist schlechte Stimmung. Das ist nicht schön und ich fühle mich auch nicht gut dabei.

Dann möchte man sich wieder vertragen, aber das ist manchmal ganz schön schwierig. Die Sichtweisen und Standpunkte sind dann vielleicht verschieden, man muss aber zueinander finden oder Kompromisse schließen. Dazu muss man miteinander reden. Oder manchmal redet man eine gewisse Zeit nicht miteinander und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus. Das Problem ist gar nicht mehr so wichtig und man kann es mit wenigen Sätzen klären.

Versöhnung heißt für mich, den ersten Schritt zu machen – oder wenigstens offen zu sein, wenn der andere ihn macht. Das ist gar nicht so einfach. Ich glaube, Versöhnung bedeutet nicht, dass man alles vergisst oder so tut, als wäre nichts passiert. Es heißt eher, dass man bereit ist zuzuhören, zu verstehen und loszulassen. Und vielleicht lernt man dabei sogar etwas über sich selbst. Zum Beispiel, dass man Fehler zugeben kann. Oder dass man jemanden wirklich gern hat – trotz allem.

Ich finde, die Welt wäre viel besser, wenn mehr Menschen sich versöhnen könnten. So wie Kinder und Jugendliche könnten auch Erwachsene, Religionen und sogar Länder aufeinander zugehen. Man muss nicht beste Freunde werden, aber dem Gegenüber respektvoll zu begegnen, wäre gut für alle Menschen. Es gäbe weniger Krieg und mehr Frieden.

Versöhnung ist kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil – es zeigt Stärke. Und vielleicht auch ein bisschen Mut.

Ingrid Lübke. Foto: Karsten Socher

Ingrid Lübke

Trotz Zerstörung der Kathedrale und vieler Toter und Verletzter starteten Menschen in Coventry nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zeichen der Versöhnung in Zusammenarbeit mit Kirchen, Schulen und Städten in vielen Ländern Europas und weltweit. Soll Versöhnung immer erst nach kriegerischen und gewalttätigen Auseinandersetzungen ein Thema sein? Nein. Ich plädiere für Versöhnung heute und jetzt.

Als mitten im Zweiten Weltkrieg Geborene habe ich konkret erfahren, was Krieg für uns Menschen bedeutet. Diese Erlebnisse ließen mich zur Einsicht kommen, dass Konflikte nicht mit Gewalt, sondern in Diskussionen, Verhandlungen und mit Kompromissen ausgetragen werden können und müssen. In den 1950er Jahren konnte ich als Jugendliche an Projekten der Versöhnung in Frankreich mitwirken. So konnte – leider erst über den Gräbern – die Ideologie überwunden werden, und es entstand eine Basis für ein friedlicheres Europa mit vielen versöhnten Staaten und Kulturen.

Unterschiedliche Positionen von Menschen, Machthabern oder Staaten und Institutionen führen immer wieder zu Konflikten, denen wir uns nicht entziehen dürfen. Als Christin setze ich mich dafür ein, den Konflikten nicht konfliktscheu aus dem Wege zu gehen. Wir sollten jedoch dazu beitragen, sie im Austausch der Meinungen und mit gegenseitigem Respekt für unterschiedliche Positionen und Forderungen, ohne Gewalt, im Sinne der Bergpredigt zu lösen. Es ist oft nicht leicht, dem „Schwarz-Weiß-Denken“ oder der vereinfachenden Zuordnung des Konflikts auf einen Sündenbock zu begegnen. Aber Konflikte mit militärischer Gewalt lösen zu wollen, diese Strategie lehne ich ab, weil sie mit der Tötung unzähliger, oft unschuldiger Menschen verbunden ist und bei der atomaren Bewaffnung zu unvorhersehbaren Zerstörungen auf unserem Planeten führt.

Nicht militärische Aufrüstung, sondern Friedensarbeit zum Erhalt guter Lebensbedingungen für alle Menschen auf unserer in ihrer Existenz bedrohten Erde – das bewegt meinen Glauben, meine Hoffnung und mein Handeln. Im Sinne der Nagelkreuzgemeinschaft gibt es für Versöhnung und Frieden immer wieder neue Anstöße, in Kassel und weltweit.

 

Regionaltreffen West: Ein Tag für Versöhnung und Erinnerung

Schattiger Sitzplatz auf den Spuren der Geschichte. Foto: Sigrun Stahr

Wie bringt man Menschen zusammen, die aus verschiedenen Regionen und konfessionellen Prägungen stammen – und doch dasselbe Ziel teilen? Das Regionaltreffen West am 14. Juni 2025 in Lemgo zeigte, wie das gelingen kann: mit offenen Gesprächen, historischem Bewusstsein und geistlicher Tiefe. Gastgeberin war die evangelische Kirchengemeinde St. Nicolai in Lemgo, selbst seit 1989 Nagelkreuzzentrum. Von Andacht bis Austausch war dieser Tag geprägt von Begegnung – mit Menschen, mit Geschichte und mit dem Geist der Versöhnung.

Eingeladen hatte die evangelische Kirchengemeinde St. Nicolai. In Lemgo begrüßte Sigrun Stahr, Mitglied des Kirchenvorstands von St. Nicolai, die Gäste aus mehreren Nagelkreuzzentren der Region West. Vertreter*innen aus Löhne-Mahnen, Wuppertal-Barmen und Lüdenscheid-Plettenberg waren angereist, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Bereits bei der ersten Tasse Kaffee entspannten sich lebhafte Gespräche.

Bemerkenswert: An diesem Tisch kamen Christinnen und Christen aus drei verschiedenen evangelischen Landeskirchen zusammen – der rheinischen, der westfälischen und (als Gastgeber) der lippischen Landeskirche. Insbesondere in Lippe spielt die konfessionelle Prägung eine Rolle: Hier gibt es sowohl lutherische als auch reformierte Gemeinden; ein einheitliches „einfach evangelisch“ kennt man dort nicht.

Dennoch wurde schnell deutlich, wie viel die Nagelkreuz-Zentren trotz unterschiedlicher Traditionen verbindet. Alle eint der Einsatz für Frieden und Versöhnung über konfessionelle Grenzen hinweg. So geschieht in Lemgo vieles ökumenisch mit der katholischen Nachbargemeinde – beispielsweise ein Sozialer Mittagstisch für Bedürftige sowie eine gemeinsam von Kirche und Stadt getragene Flüchtlingshilfe. Dieses Miteinander ist Ausdruck gelebter Nächstenliebe und praktischer Versöhnungsarbeit vor Ort.

St. Nikolai in Lemgo. Foto: Sigrun Stahr

Geschichte, Gedenken und Gespräch

Pfarrer i. R. Heinz Wöltjen führte die Gruppe durch die imposante St.-Nicolai-Kirche, deren Mauern auf eine über 800-jährige Geschichte zurückblicken. Die gotische Hallenkirche am Marktplatz, um 1190 gegründet und bis 1375 erweitert, birgt zahlreiche Schätze aus Vergangenheit und Gegenwart. In einer Gebetsecke entdeckten die Gäste ein kostbares Marien-Relief aus dem Jahr 1260. An der Taufanlage sind steinerne Schrifttafeln angebracht, die die Bedeutung der Taufe erläutern und an die Reformationszeit erinnern. Pfarrer Wöltjen spannte den Bogen der Erzählungen von den mittelalterlichen Anfängen der Kirche über die Reformation bis hin zur Nagelkreuz-Gegenwart. Seit 1989 hängt an einer Säule vor der Orgel ein originales Nagelkreuz aus Coventry, das der damalige Pfarrer Helmut Begemann mitgebracht hatte. Darunter ist das Versöhnungsgebet von Coventry abgedruckt.

Zur Mittagsandacht um 12 Uhr kamen zusätzliche Besucher aus der Stadt in die Nicolaikirche. Dank der zentralen Lage unmittelbar neben dem Wochenmarkt werden hier jeden Samstag die Marktkunden durch Glockengeläut und ein Glockenspiel zu einem Moment der Besinnung eingeladen.

Nach einem Mittagsimbiss im Gemeindehaus brach die Gruppe zu einem besonderen Stadtrundgang auf. Superintendent Dr. Andreas Lange, selbst in Lemgo zuhause, ist seit langem der Geschichte der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger der Stadt während der NS-Zeit auf der Spur. Er nahm die Teilnehmenden mit auf die historischen Spuren der Lemgoer Familie Gumpel, die einst ein großes Wäschegeschäft in Lemgo betrieben hatte. Anhand konkreter Orte schilderte Dr. Lange eindrücklich das Schicksal dieser Familie. Die drei Söhne der Gumpels konnten Lemgo noch rechtzeitig verlassen und entkamen so der Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Mitglieder der Region West. Foto: Andreas Lange

Der Vater der Familie starb wenige Jahre darauf eines natürlichen Todes; Mutter Rosalie Gumpel hingegen wurde deportiert – sie musste 1942 den Transport ins Ghetto Riga antreten und überlebte nicht. Die Gruppe machte Halt an der Stelle, wo einst die Lemgoer Synagoge stand. Das Gotteshaus war in der Pogromnacht im November 1938 in Brand gesteckt und zerstört worden. In der sommerlichen Hitze fanden die Besucher hier auf der niedrigen Außenmauer des Synagogengrundstücks einen schattigen Sitzplatz – ausgerechnet auf den letzten Überresten eines Ortes, der von Hass und Gewalt zeugt.

Austausch über Nagelkreuze und Gebetszeiten

Zurück im Gemeindehaus wurden die Teilnehmenden mit selbstgebackenem Kuchen empfangen – und nutzten die Gelegenheit für lebendigen Austausch. Besonderes Interesse galt den sogenannten „Wander-Nagelkreuzen“: Einige Zentren haben ein Nagelkreuz, das nicht an einem festen Standort steht, sondern auf Reisen geschickt wird. Dieses Wander-Nagelkreuz kann zeitweise zum Beispiel in Schulen, anderen Kirchen oder öffentlichen Einrichtungen aufgestellt werden, um den Versöhnungsgedanken bewusst in die Gesellschaft hineinzutragen. Ein solches Kreuz gibt es u. a. in Würzburg, Lüdenscheid-Plettenberg und Chemnitz.

Ein weiteres Thema war das regelmäßige Friedensgebet der Nagelkreuzgemeinschaft. Traditionell wird die Versöhnungslitanei von Coventry weltweit jeden Freitag um 12 Uhr britischer Zeit gebetet – zeitgleich mit dem Gebet in den Ruinen der alten Kathedrale von Coventry. Doch wie lassen sich möglichst viele Menschen für dieses Friedensritual erreichen? Die Runde diskutierte, ob man an kleineren Orten auch flexibel andere Zeiten wählen könne, um mehr Teilnehmende zu gewinnen. In Lemgo zum Beispiel ist das Gebet

Jüdische Geschichte in Lemgo. Foto: Sigrun Stahr

ein fester Bestandteil der Taizé-Andachten. Andere Nagelkreuzzentren integrieren das Versöhnungsgebet in bestehende Gottesdienstformen oder Andachten, je nach lokalen Gegebenheiten.

„Wir haben keine festen Regeln, nur eine gemeinsame Hoffnung, ein gemeinsames Ziel: die Versöhnung“, brachte Britta Däumer vom Nagelkreuzzentrum Lüdenscheid-Plettenberg und Mitglied des Leitungskreises es auf den Punkt. Jeder Ort geht seinen eigenen Weg – doch alle eint das Ziel: im Geist Jesu Christi an einer versöhnten Welt mitzubauen.

Zum nächsten Regionaltreffen West hat das Nagelkreuzzentrum Lüdenscheid-Plettenberg für 2026 eingeladen. Einzelheiten werden rechtzeitig bekannt gegeben.

Autorinnen: Sigrun Stahl, Nagelkreuzgemeinschaft

 

Unterwegs in Richtung Versöhnung – Pilgerfahrt nach Coventry

Die Teilnehmer:innen der Pilgerfahrt noch Coventry. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Vom 27. bis 30. Mai 2025 fand die diesjährige Frühjahrs-Pilgerfahrt zur Kathedrale von Coventry statt – mit Teilnehmer:innen aus der Kirchengemeinde Stade, den Stadtkirchengemeinden Kassel und Hanau, der [Link->Stadtkirche Darmstadt] und der [Link->Stadtkirche Pforzheim] sowie aus Gemeinden in Brisbane (Australien), Los Angeles, Bristol und von der Organisation „Embrace the Middle East“. Leitungskreismitglied Christian Roß berichtet von einer intensiven Reise mit geistlichen Impulsen, Gesprächen über Versöhnung und vielen Begegnungen an einem Ort, der für unsere Gemeinschaft eine besondere Bedeutung hat.

Unsere Reisegruppe aus der Region Südwest ist bereits am Montagnachmittag in Coventry angekommen, und wir haben beim Abendessen erste Kontakte mit einer Pfarrerin aus Australien geknüpft. Den etwas verregneten Dienstag nutzten wir zu einem Besuch in Coventrys Transportmuseum, das die Geschichte Coventrys als Mobilitätszentrum erzählt und Einblicke in die Produktion von Fahrrädern und Autos gibt. Natürlich sind auch die Zerstörung und der Wiederaufbau der Stadt ein wichtiges Thema innerhalb des Museums – das hat uns auf die Tage in der Kathedrale eingestimmt.

Am Dienstagabend startete die Pilgrimage mit der Begrüßung, einem gemeinsamen Abendessen und einer Komplet. Im Laufe der kommenden Tage gab es ein dichtes und inspirierendes Programm. Es begann jeweils früh morgens um 8.30 Uhr mit dem Morgengebet und der Abendmahlsfeier.

Am Mittwoch erhielten wir eine Führung durch die Ruine der alten Kathedrale und durch die neue Kathedrale – in einer deutschsprachigen und einer englischsprachigen Gruppe. Wir lernten die besondere Architektur des Ensembles auf dem Kathedralhügel kennen und erfuhren viel über die Geschichte des Ortes, seine Kunstwerke und die ihnen innewohnende Geschichte von Tod und Auferstehung, von Zerstörung, Versöhnung und Wiederaufbau.

Dean John ging in seinem Vortrag zunächst auf die Versöhnungsarbeit an der Kathedrale ein, erläuterte ihre Grundsätze, Werte und Haltungen und stellte einige konkrete Versöhnungsprojekte und Initiativen der Kathedrale vor.

Es war beeindruckend zu sehen, wie die Kathedrale ausgehend von ihrer Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau ihre tägliche Arbeit lebt. Es wurde deutlich, welch transformative Kraft und kreative Energie aus der Ausrichtung auf diese Geschichte erwächst. Inspirierend war auch, mit welcher inneren Haltung alle Mitarbeiter:innen an der Kathedrale sich der Arbeit widmen. Deutlich spürbar war für uns alle der erste Grundsatz „Hospitality – Gastfreundschaft“, der alle Aktivitäten der Kathedrale als wichtigster Wert prägt – dicht gefolgt von Spiritualität und Gebet.

Auf die Vorstellung der Arbeit der Kathedrale folgte ein Gespräch über die biblischen Grundlagen der Versöhnungsarbeit und darüber, was Versöhnung eigentlich bedeutet. Es entspann sich auch eine Diskussion darüber, ob wir in der Nagelkreuzgemeinschaft eigentlich Pazifisten sein sollten oder uns als Friedensstifter betrachten. Dean John erklärte seine Haltung dazu: Friedensstifter zu sein, aber kein Pazifist – wie er es schon in seiner bemerkenswerten Predigt nach der Reise nach Odessa ausgeführt hatte. Auch diese Haltung begründete er aus der Geschichte und der Erfahrung der Kathedrale heraus.

Inhaltliche Arbeit an Versöhnungsthemen. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Schließlich war nachmittags Platz für die Vorstellung der anwesenden Gemeinden und Werke, bevor der Tag mit einer gemeinsam gesungenen Komplet in deutscher Sprache nach lutherischer Tradition in der Kapelle „Christ the Servant“ endete.

Ein besonderer Dank sei schon hier den beiden Interns Constanze und Alwine ausgesprochen, die alles kompetent ins Deutsche bzw. Englische übersetzt haben, sodass auch Menschen, die im Englischen nicht so fit sind, gut folgen konnten.

Der Donnerstagmorgen war dem Schulnetzwerk ICONS gewidmet, und Alwine gab uns Einblicke in die Arbeit und die Programme, die Schulen im Versöhnungsnetzwerk zur Verfügung gestellt werden. Außerdem erfuhren wir Näheres zur Struktur, Organisation und Arbeit der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft von der Koordinatorin Alice Farnhill.

Mittags besuchten wir gemeinsam den Festgottesdienst zum Himmelfahrtstag in der Kathedrale.

Der Nachmittag war einem Pilgerweg über den Hilltop gewidmet, auf dem wir über Fragen von Krieg und Frieden und unsere Arbeit der Versöhnung anhand verschiedener Stationen meditiert haben. Wir besuchten gemeinsam mit dem Canon für Worship und Welcome, Nitano Muller, die Überreste der mittelalterlichen Abtei, die Trinitatiskirche, die Ruine der alten Kathedrale und endeten wiederum in der neuen Kathedrale.

Am Abend hatten wir dann noch die Gelegenheit, bei einer Probe der Glöckner im Turm der alten Kathedrale zuzuschauen. Das war etwas ganz Besonderes, denn die neun Glocken werden von Hand geläutet – und das auf eine sehr spezielle Art, die nur in England gepflegt wird. Eine Gruppe aus sieben Personen – vom Jugendalter bis ins Rentenalter – probte verschiedene Melodien und Läuteschemata. Ein besonderes Erlebnis!

Der Abschluss am Freitag war konkreten Fallstudien in der Versöhnungsarbeit gewidmet und wurde von David Porter geleitet, der lange Zeit Canon of Reconciliation in Coventry war. Auf beeindruckende Weise haben wir hier Versöhnungsarbeit im Kleinen wie im Großen besprochen: „Act local, think global“ – das war eine wichtige Erkenntnis dieses Vormittags. Mit einem gemeinsamen Mittagessen und der Verabschiedung endete eine intensive und inspirierende Zeit an der Kathedrale.

Neben dem umfangreichen Programm der Pilgrimage war natürlich auch der Austausch unter den Teilnehmer:innen in den Pausen, beim gemeinsamen Essen oder abends im Pub ein wertvoller Teil der Woche in Coventry!

Unsere Südwest-Reisegruppe ist erst am Samstag zurückgeflogen, sodass wir am Freitag noch Zeit für den Besuch der Herbert Art Gallery hatten und am Samstagvormittag noch das große Event mit vielen historischen Oldtimern in der Stadt erleben konnten. Hier wurden bei bestem Wetter auf allen Plätzen der Innenstadt und sogar innerhalb der Ruinen der Kathedrale private Oldtimer ausgestellt. Auch das versteht die Kathedrale unter Gastfreundschaft!

Ein Interview mit Teilnehmer Ingo Mörl lesen sie hier. Die nächste Pilgrimage findet vom 12. bis 15. November 2025 statt. Für Bewerber um ein Nagelkreuz ist die Teilnahme obligatorisch.

Autor: Christian Roß

 

Feierliche Einführung von Kate Massey als Canon for Arts and Reconciliation in Coventry

Am 15.06. wurde Kate Massey von Bischöfin Sophie als neue Canon for Arts and Reconciliation in Coventry eingeführt. Foto: Frank Herzog

Ein besonderer Tag für Coventry – und ein bewegender Moment für die internationale Nagelkreuzgemeinschaft: Am Sonntag, dem 15. Juni 2025, wurde Kate Massey im Rahmen eines festlichen Choral Evensong in ihr neues Amt als Canon for Arts and Reconciliation an der Kathedrale von Coventry eingeführt. Die lichtdurchflutete Kirche, selbst ein Symbol für Hoffnung, Wandel und Neuanfang, bot den würdigen Rahmen für diese Einführung. Menschen aus Kathedrale, Stadt und Nagelkreuzgemeinschaft waren gekommen, um mitzufeiern. In der feierlichen Atmosphäre war die Geschichte des Ortes spürbar – ebenso wie das Vertrauen, das Kate für ihre neue Aufgabe entgegengebracht wird.

Von der Ärztin zur Versöhnerin – Kate Masseys Weg

Kate Massey bringt einen Lebensweg mit, der Brüche kennt – und gerade dadurch eine besondere Tiefe entfaltet. Ursprünglich arbeitete sie als Ärztin in der Psychiatrie, bevor sie ihre geistliche Berufung in der Kirche fand. 2011 wurde sie in der Kathedrale von Coventry zur Priesterin geweiht. Zuvor war sie im National Health Service (NHS) tätig. Seit 2015 war sie Pfarrerin (Vicar) in Stockingford im Norden der Diözese Coventry. Die Verbindung zur Kathedrale blieb dabei stets lebendig: 2022 wurde sie zur Ehrendomkapitularin (Honorary Canon) ernannt – eine Auszeichnung für ihre Nähe zur Kathedrale und ihr Engagement für deren Versöhnungsarbeit.

Ein zentrales Anliegen ihres Wirkens ist die Stärkung von Frauen in der Kirche. Über siebeneinhalb Jahre gestaltete sie als Dean of Women’s Ministry die Förderung von Frauen im kirchlichen Dienst in der Diözese Coventry mit. Seit 2019 ist sie außerdem Vorsitzende der National Association of Diocesan Advisers in Women’s Ministry (NADAWM) – dem landesweiten Netzwerk kirchlicher Frauenbeauftragter. Ihr Anliegen war nie Repräsentation allein, sondern die Transformation von Strukturen: hin zu Gleichwürdigkeit, Teilhabe und geistlicher Tiefe – auch im Miteinander der Geschlechter.

Für Kate Massey gehören Gerechtigkeit und Versöhnung untrennbar zusammen. Versöhnung meint für sie nicht nur das Brückenbauen zwischen Völkern und Religionen, sondern auch innerhalb der Kirche – zwischen Generationen, Lebenswirklichkeiten, Perspektiven. Ihre Erfahrungen als Ärztin, Pfarrerin und Frauenbeauftragte haben sie dafür sensibilisiert, wie tief Konflikte und Ausschlüsse wirken – und wie heilsam es ist, wenn Gemeinschaft gelingt.

Derzeit arbeitet sie an einer Promotion (Ph.D.) über Versöhnung – inspiriert von der Geschichte und Gegenwart der Kathedrale von Coventry. Ihr Weg verbindet analytischen Verstand mit Empathie, geistlicher Klarheit und einem kreativen Blick für das Kommende – beste Voraussetzungen, um der Versöhnungsarbeit von Coventry neue Impulse zu geben.

Als Canon for Arts and Reconciliation übernimmt Kate Massey nun eine zentrale Rolle an der Kathedrale. Das Amt – einzigartig in seiner Verbindung von Kunst, Theologie und Friedensarbeit – umfasst die Leitung und Weiterentwicklung der kulturellen und versöhnenden Arbeit der Kathedrale. Sie wird die verschiedenen Teams koordinieren, neue Projekte anstoßen und mit Partner*innen weltweit zusammenarbeiten – insbesondere innerhalb der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft.

Sie tritt die Nachfolge von Mary Gregory an, die das Amt seit 2022 innehatte und Ende 2024 zur Regionalbischöfin von Reading ernannt wurde.

Feierliche Amtseinführung im Kreise von Kolleg*innen, Freund*innen und Familie. Foto: Frank Herzog

Feierlicher Auftakt: Choral Evensong in der Kathedrale

In einem feierlichen Choral Evensong wurde Kate Massey in ihr Amt eingeführt. Für die musikalische Gestaltung sorgte der Kathedralchor unter der Leitung von Rachel Mahon – festlich, würdig und mit jener Prise anglikanisch-britischer „Pomp and Circumstances“, die aus jedem Gottesdienst ein Fest macht.

Bischöfin Sophie Jelley, die neue Diözesanbischöfin von Coventry, hielt die Predigt. Mit großer Wertschätzung zeichnete sie Kate Masseys Lebensweg nach – von der Medizin in die Theologie, von der Seelsorge zur strukturellen Veränderungsarbeit. Sie würdigte ihren Einsatz für Gerechtigkeit und Teilhabe und stellte die Bedeutung der Versöhnungsarbeit der Kathedrale klar in den Mittelpunkt.

Auch Kate Masseys Familie war Teil der Feier: Ihr Ehemann Liam und die drei Töchter Niamh, Erin und Anna waren anwesend. Ein besonders persönlicher Moment war, als Tochter Erin eine der Schriftlesungen übernahm. Neben zahlreichen Vertreter*innen der Kathedrale und der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft waren auch enge Freundinnen und Freunde gekommen – ein Ausdruck gelebter Verbundenheit.

Zum Abschluss erklang der Hymnus „Praise to the Lord, the Almighty“ – ein Lied, das Kate sich ausdrücklich gewünscht hatte. Die ursprünglich deutsche Komposition und Dichtung („Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“) gehört auch in England zu den bekanntesten und beliebtesten Kirchenliedern. Dass sie an diesem Nachmittag in Coventry erklang, war ein eindrucksvolles Zeichen dafür, wie geistliche Traditionen über Ländergrenzen hinweg verbinden.

Glück- und Segenswünsche von Niels Faßbender im Namen der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft Foto: Frank Herzog

Glückwünsche und Geschenke zum Amtsantritt

Nach dem Gottesdienst setzten sich die Feierlichkeiten bei einem Empfang fort, der von herzlicher Begegnung und internationaler Gemeinschaft geprägt war. Mitglieder der Kathedrale und der Nagelkreuzgemeinschaft nutzten die Gelegenheit, Kate Massey persönlich zu gratulieren.

„Als deutsche Nagelkreuzgemeinschaft sind wir dankbar, diesen Weg der Versöhnung gemeinsam gehen zu dürfen. Liebe Kate, Du trittst ein Amt an, das reich an Geschichte und voller Hoffnung ist. Wir freuen uns auf Deine Stimme, Deine Sichtweise, Deine Schritte, und wir werden Dich begleiten. Gott segne Dich und Deinen Dienst“ lautete die Grußbotschaft von Niels Faßbender, der für den Vorstand der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. zusammen mit seinem Ehemann Frank Herzog nach Coventry gereist war. Mit einem Augenzwinkern überreichten die beiden drei symbolische Geschenke:

Erstens ein T-Shirt mit dem Aufdruck des Nagelkreuzes – ein Hinweis darauf, dass Versöhnung nicht nur in liturgischem Gewand von der Kanzel aus wirkt, sondern dort, wo Menschen einander im Alltag begegnen – auf der Straße, im Gespräch, im Zusammenleben.

Zweitens eine Flasche „Würzburger Domherr“ – ein Wein aus der Stadt, in deren Gefängnis die Nagelkreuze für Coventry gefertigt und von dort aus in die Welt gebracht werden. Der Wein steht für geteilte Mahlzeiten, Zuhören und Lebensfreude. Sein Name – „Domherr“, also „Canon“ – erinnert an Zeiten, in denen kirchliche Entscheidungen ausschließlich von Männern getroffen wurden. Heute verweist er auf Kates bisherige Arbeit für Frauen und ihr neues Amt als „Domfrau“ – und damit zugleich darauf, dass Wandel möglich ist.

Drittens ein kleines Schild mit der Aufschrift „Versöhnung ist…“ – eine Einladung, nachzudenken, zuzuhören und miteinander ins Gespräch zu kommen – auch über Sprachgrenzen hinweg. Das englischsprachige Original hatte Mary Gregory im vergangenen Jahr nach Deutschland gegeben. Nun kam eine deutsche Version zurück – als Zeichen gegenseitiger Verbundenheit und des Willens, die Bedeutung von Versöhnung gemeinsam weiterzudenken, offen und auf Augenhöhe.

In ihren Dankesworten zeigte sich Kate Massey sichtlich bewegt von der Wertschätzung und den Erwartungen, mit denen sie willkommen geheißen wurde. Die Nagelkreuzgemeinschaft – in Deutschland und weltweit – freut sich auf die Zusammenarbeit. Möge Gottes Segen Kate auf jedem Schritt begleiten, während sie ihre Stimme für Versöhnung und Frieden erhebt. Alles Gute, Kate, und herzlich willkommen in unserer Gemeinschaft!

Autor: Niels Faßbender

 

Zwischen Friedensstiftern und Oldtimern – Interview mit Ingo Mörl über seine Pilgerfahrt nach Coventry

Ingo Mörl. Foto: Ev. Dekanat Darmstadt

Im Mai 2025 nahm Ingo Mörl aus Mühltal bei Darmstadt an der Frühjahrs-Pilgerfahrt zur Kathedrale von Coventry teil – gemeinsam mit einer Gruppe aus der Region Südwest und weiteren Teilnehmenden aus drei Kontinenten (darüber berichten wir [Link->hier]). Die Tage in Coventry haben ihn tief bewegt. Nach der Rückkehr entschloss er sich, Einzelmitglied unserer Gemeinschaft zu werden. Im Interview berichtet er, was ihn an der Pilgrimage besonders berührt hat, wie sein persönlicher Weg der Versöhnung aussieht, und warum Coventry für ihn mehr ist als ein geschichtsträchtiger Ort.

Hallo Ingo, möchtest Du Dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Ingo Mörl, und ich bin 66 Jahre alt. Ich wohne in Mühltal in der Nähe von Darmstadt. Bis zum November 2024 war ich seit 1984 beim Evangelischen Dekanat Darmstadt (Land) beschäftigt – zunächst in der Kinder- und Jugendarbeit, später in der Erwachsenen- und Familienbildung (Dipl. Rel. Päd.; Magister Artium). Ich bin verheiratet, habe zwei Töchter und drei Enkel. Meine Frau ist noch berufstätig und arbeitet als Gemeindepädagogin in Eberstadt.

Wie bzw. wann hast Du erstmals bewusst vom Nagelkreuz gehört?

Die Nagelkreuzarbeit kenne ich schon viele Jahre, weil ich immer regelmäßig zum Brandnachtgottesdienst am 11. September in die Stadtkirche Darmstadt gehe – ein jährlicher Gottesdienst zur Erinnerung an den verheerenden Bombenangriff im Jahr 1944. In den 80er Jahren war ich in der Friedensbewegung aktiv; damals ging es um die sogenannte NATO-Nachrüstung und die russische Bedrohung durch die SS-20-Raketen.

Warum hast Du an der Pilgrimage teilgenommen?

Ich habe viele Jahre lang deutsch-französische und deutsch-polnische Jugendbegegnungen organisiert. Von 1986 bis zum Fall der Mauer gehörten auch Begegnungen zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen dazu. Später, in der Erwachsenenbildung, standen Studienfahrten zu protestantischen Minderheiten in Europa auf dem Programm. Aufgewachsen in direkter Nachbarschaft von Wiesbaden-Erbenheim, dem heutigen Headquarter der USA für Europa und Afrika, ist mir auch der Kontakt zu Amerikanern nicht fremd.

Hattest Du bestimmte Erwartungen? Und wenn ja, wurden sie erfüllt?

Neuen Erfahrungen begegne ich immer mit niedrigen Erwartungen – aber ich bin neugierig und höre meinem Gegenüber gespannt zu. Ich bin tief beeindruckt von der Arbeit in Coventry. Sie ist keineswegs nur rückwärtsgewandte Erinnerungsarbeit, sondern sucht auch nach neuen Ansätzen der Versöhnungsarbeit in Konflikten unter Jugendlichen und Erwachsenen. Ich bin gespannt auf die Mitgliederversammlung in Münster.

Was hat Dir besonders gut gefallen bzw. Dich beeindruckt? Oder im Gegenteil?

Da könnte ich vieles nennen: das Oldtimer-Treffen in der Kathedrale oder das Transportmuseum – so etwas hatte ich gar nicht erwartet, und deswegen war ich ja auch nicht hingefahren. Besonders beeindruckt war ich von dem Vortrag von Dean John und seiner Feststellung: Wir sind keine Pazifisten, sondern Friedensstifter. Darüber würde ich gerne weiter nachdenken.

Hast Du etwas zur Gruppe bzw. den anderen Teilnehmenden aus insgesamt drei Erdteilen zu bemerken?

Beeindruckt war ich auch von der Versöhnungsarbeit in Australien mit den Aborigines und der Arbeit in Irland. Von mehrfachen Besuchen kenne ich die Arbeit von Iona in Schottland und Corrymeela in Irland. Dass Menschen eine so weite Reise auf sich nehmen, zeigt einmal mehr die auratische Ausstrahlung der Ruinen der Kathedrale in Coventry. Ich fühlte mich oftmals an den Disibodenberg (Hildegard von Bingen) erinnert.

Geht es weiter mit Dir und dem Nagelkreuz?

Ich habe meinen Antrag auf Mitgliedschaft abgesendet. Ich danke Christian Roß sehr für die Organisation der Fahrt nach Coventry und dafür, dass er nach dem Weggang von Pfarrer Knodt an der Stadtkirche in Darmstadt den Fortgang dieser wichtigen Arbeit gesichert hat. Ich fühle mich gut angekommen. Versöhnungsarbeit spielte in meiner Herkunftsfamilie eine große Rolle. Hier trafen Wehrmacht und Widerstand, Protestanten und Katholiken, Sozialdemokraten und Konservative, Hessen, Sudetendeutsche und Westpreußen aufeinander. Deswegen halte ich auch Kreisau in Polen und die Ideen des Kreisauer Kreises für einen sehr wichtigen Ort des Nachdenkens.

Die Fragen stellten die Mitreisenden Doris Hartwich und Gernot Härdt, Nagelkreuzzentrum Pforzheim/Stadtkirche, und Christian Roß, Nagelkreuzzentrum Stadtkirche Darmstadt.

 

Pfingsten in Recklinghausen: Eine Hoffnung, die keine Bedingungen stellt

Die <Gastkirche> in Recklinghausen ist ein offener Ort. Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenswegen kommen hier zusammen: Wohnungslose, Engagierte, Gläubige, Zweifelnde. Wer will, findet hier Gemeinschaft – im Alltag, im Gespräch, im Gottesdienst. Am Samstag vor Pfingsten, dem 7. Juni 2025, wurde die Gastkirche in die Nagelkreuzgemeinschaft aufgenommen.

Kleine Ausstellung und Gesprächsatmospäre in der Gastkirche. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Tagsüber war der kleine, mittelalterliche Kirchenraum geöffnet. Eine Ausstellung informierte über die Geschichte der Nagelkreuzgemeinschaft. Auch örtliche Friedensinitiativen stellten sich vor. Das geplante Friedensfest auf dem Oscar-Romero-Platz fiel zunächst weitgehend dem Regen zum Opfer. Am Abend füllte sich die gegenüberliegende, größere Gymnasialkirche bis auf den letzten Platz. Der Gottesdienst wurde von Pfarrer Ludger Ernsting und dem Gospelchor „Spirit of Joy“ feierlich gestaltet. Alice Farnhill überreichte das Nagelkreuz im Namen der Kathedrale von Coventry. Auch zwei Gäste aus dem niederländischen Breda waren anwesend – die Verbindung war bei der gemeinsamen Pilgrimage nach Coventry entstanden. Im Anschluss wurde das Kreuz in einer kleinen Prozession in die Gastkirche getragen. Später klang der Tag auf dem Oscar-Romero-Platz aus – mit Musik, Essen und Tanz. Menschen aus verschiedenen Zusammenhängen kamen ins Gespräch: Besucherinnen und Besucher der Kirche, Passanten, Gemeindemitglieder, Wohnungslose, Gäste aus der Stadtgesellschaft. Im Folgenden dokumentieren wir das Grußwort des Vorstands der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft.

Liebe Recklinghäuserinnen und Recklinghäuser,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gastkirchen-Gemeinde,

zu einem Friedensfest habt ihr eingeladen. Ein Fest des Friedens. Ich weiß nicht, ob es da im Moment etwas zu feiern gibt.

Ich denke an die Toten – in Gaza, in der Ukraine, im Mittelmeer.
An Trump, Nawrocki, Wilders. An den Brexit.
An Hass und Lügen in den sozialen Medien und in den Parlamenten,
an Hetze und Härte, die Grenzen ziehen –
zwischen Ost und West, arm und reich, deutsch und nicht deutsch, drinnen und draußen.

Ich denke an Kinder, die ausgeliefert waren. An ihre Wunden, die Gerechtigkeit schreien. An bohrende Fragen, die unbeantwortet bleiben.

Ich denke an den Mann, nach dem dieser Platz benannt ist, und die vielen anderen, die ermordet wurden, weil sie Gerechtigkeit und Frieden wollten.

An einen guten Freund. Verloren in Verschwörung und Wut.
An die, die nicht mehr fragen, was wahr ist, sondern nur noch: Was nützt mir das?

An die, die hungern.
An die, die sammeln.

An den Sommer. Und an die brennende Erde.

Ein Friedensfest also?
Doch. Bitte bleiben Sie!

Es gibt ja Kaffee. Und Kuchen. Stärkung.
Nicht nur leiblich: Auch mit Gottes Wort, Musik und Gebet.
Und Ermutigung. Und Hoffnung.

Grußwort von Niels Faßbender im Namen des Vorstands. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Und ein Nagelkreuz.
Ein Kreuz aus Trümmern.
Coventry, 1940. Eine Kathedrale in Flammen. 515 Tote.
Kein Zeichen von Macht.
Kein Denkmal der Sieger.

Ein Kreuz, aufgerichtet gegen den Hass:

„Father, forgive.“
Nicht: ihnen. Uns allen.
Dem, der warf. Und der, die weinte.
Dem, der zerstörte. Und der, die aufräumte.

Weihnachten, die Trümmer der Stadt noch warm von der Vernichtung,
der Probst der zerstörten Kathedrale im Radio:
Wir werden nicht hassen. Wir werden nicht heimzahlen. Wir werden bauen.
An einer Welt, die freundlicher ist. Christusähnlicher.
Weniger stolz. Weniger hart.

Aus dem Wort wurde Tat. Aus Schmerz wurde Sendung.
Menschen aus Coventry nahmen Nägel aus der Asche ihrer Kathedrale.
Banden daraus Kreuze. Brachten sie nach Kiel. Nach Dresden. Nach Münster.
Nicht nur die Nagelkreuze brachten sie. Sie brachten sich selbst.
Nicht um zu strafen, sondern um aufzubauen.
Nicht um zu fragen, wer Schuld hat,
sondern um zu sagen: Wir fangen neu an. Zusammen.

Dann kamen Deutsche nach England.
Nicht mit Entschuldigungen,
aber im Bewusstsein der Schuld.
Auch sie bauten mit. Hörten zu. Blieben.
Es wuchs Vertrauen. Und Freundschaft.

Eine neue Kathedrale entstand.
Und ein weltweites Netz. Ein Netz der Versöhnung.

Heute steht ein Nagelkreuz in über 260 Städten.
Nicht nur für Frieden zwischen England und Deutschland.
Sondern für Versöhnung überall, wo Menschen sich anfeinden, hassen, verletzen, töten.

In New York – zwischen Terror und Trauer.
In Südafrika – zwischen Schwarz und Weiß.
In Polen – zwischen verbrannter Erde und knospendem Mandelzweig.
In Israel und Palästina – zwischen Schwertern und Pflugscharen.
In Belfast – zwischen Schweigen und Sprechen.
In Berlin – zwischen Christen, Juden und Muslimen.

Und heute übergibt die Kathedrale von Coventry ein Nagelkreuz nach Recklinghausen.
An diesem Platz. An Gastkirche und Gasthaus.

Diese Altstadt hat der Krieg verschont. Brüche, Not, Verluste gibt es trotzdem.
Auch hier tragen Menschen Trümmer, Kummer, Schmerz, Verzweiflung, Sehnsucht.

Aber nicht allein.
Hier, in Gastkirche und Gasthaus, geschieht Tag für Tag, wofür das Nagelkreuz von Coventry steht.

Ich denke an die Menschen, die mit leeren Händen kommen – und mit einem warmen Frühstück empfangen werden.
Ich denke an die, die auf der Straße leben – und hier duschen, Wäsche waschen, Briefe empfangen.
Ich denke an die, die einsam sind – und hier Gemeinschaft finden.
An die, die trauern – und hier getröstet werden.

Volle Kirche zur feierlichen Übergabe. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Hier wird kein Evangelium verkündet, das nicht auch getan wird.
Kein Frieden gefeiert, der nicht auch gestiftet wird.

Die Gastkirche macht nicht „für“. Sie macht „mit“.
Mit Amnesty. Mit Pax Christi.
Und mit denen, von denen andere sich abwenden.

Ihr schweigt, wo man sonst schreit.
Gedenkt, wo man lieber vergisst.
Haltet Wache bei den Toten und den Lebenden.

Ihr glaubt: Gott ist für niemanden zu groß.
Gott ist nah.
Im Kleinen. Im Geringen. Im Jetzt.
Ihr glaubt an Gottes Frieden.
Ihr nehmt einander an. In diesem Glauben.
So wie Gott uns angenommen hat.

Wer diesen Ort betritt, spürt: Hier ist es nicht egal.
Nicht egal, was du erlebt hast.
Nicht egal, woran du leidest.
Nicht egal, ob du kommst.
Hier wird der Mensch nicht bemessen. Hier wird er gesehen.

Und das, liebe Freundinnen und Freunde, das ist Versöhnung:
Nicht das vielversprechende Wort. Sondern das kleine Brot.
Nicht die große Lösung. Sondern das geteilte Leben.
Nicht der billige Trost. Sondern die wertschätzende Zuwendung.

Versöhnung ist kein Widerspruch zur Wirklichkeit.
Denn sie entsteht aus Wahrheit.
Versöhnung schweigt nicht zur Schuld. Sie deckt nichts zu.
Versöhnung kennt das Zerbrochene und geht hindurch.
Die Wunde heilt, doch die Narbe bleibt.
In Coventry wuchs eine neue Kathedrale.
Nicht auf den Trümmern,
sondern an ihrer Seite.
Zerstörung und Hoffnung – untrennbar.

Wo ein Nagelkreuz steht,
arbeiten Menschen am Noch-Nicht,
vertrauen auf Gottes Verheißung,
glauben, dass Geschichte sich nicht wiederholen muss.
Dass Vielfalt kein Risiko, sondern ein Geschenk ist.
Dass wir nicht nur kriegstüchtig, sondern auch friedenstüchtig werden können.

Pfarrer Ludger Ernsting (links) und Alice Farnhill (rechts) mit dem Nagelkreuz vor seinem künftigen Standort. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Versöhnung ist kein Zustand. Sondern bleibt ein Weg.
Ihr seid auf diesem Weg.
Hier ist kein Gedenkort für den Frieden – hier wird Frieden getan. Täglich.
Hier wird sichtbar: Gottes Reich ist keine Illusion.
So wächst Hoffnung. Wächst Versöhnung.

Ich wünsche euch, dass dieses Kreuz
euch tröstet, wenn ihr verzagt. Ihr seid nicht allein.
Dass es euch stärkt, wenn ihr müde seid. Wir beten für euch.
Dass es euch ruft, wenn ihr euch einrichtet. Ihr seid das Licht der Welt!
Und bei den Veränderungen, die auf eure Gemeinschaft zukommen:
Dass es euch Kurs, Kraft und Zuversicht gibt.
Dass es uns immer erinnert: Hass und Gewalt haben nicht das letzte Wort.
Fürchtet euch nicht.

Ihr erhaltet heute ein Nagelkreuz, weil ihr glaubt, lebt und bezeugt,
dass man die Wunden der Geschichte heilen kann.
Dass man mit Verschiedenheit leben und Vielfalt feiern kann.
Dass man eine Kultur der Gerechtigkeit und des Friedens aufbauen kann.

Liebe Gastkirche, liebes Gasthaus,
herzlich willkommen in der Nagelkreuzgemeinschaft.
Im Namen des Vorstands und des Leitungskreises der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V.:
Herzlichen Glückwunsch!

Lasst uns feiern, dass ihr bei uns seid. Lasst uns feiern, dass es euch gibt.
Lasst uns ein Fest des Friedens feiern!

Glück auf!

Autor: Niels Faßbender

 

Nagelkreuzgottesdienst auf dem Kirchentag

„Stehe ich denn an Gottes statt“ – Predigt von Klaus Majoress im Nagelkreuzgottesdienst beim Kirchentag 2025

„Kirche überfüllt“ stand auf dem Schild, das Pfadfinder:innen am 1. Mai vor St. Clemens in Hannover hochhielten. Kein Promi, kein Politiker – und doch kein Platz mehr frei. Die Menschen kamen, weil sie etwas suchten: Trost, Hoffnung, Versöhnung. In einer Zeit voller Krisen war dieser Gottesdienst ein starkes Zeichen: Der Wunsch nach Frieden ist lebendig. Die Liturgie führte durch Klage, Gebet und Musik zu einem mutigen Trotzdem-Glauben. Psalm 139, das Glaubensbekenntnis von Seoul und das Versöhnungsgebet von Coventry rahmten die Predigt von Klaus Majoress: Anhand der Geschichte von Josef und seinen Brüdern (1. Mose 50) zeigte er, dass Versöhnung möglich ist – wenn wir nicht an Gottes Stelle urteilen, sondern vergeben. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen – aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Diese biblische Wende wurde zur Botschaft des Tages: Es gibt Hoffnung. Es gibt Versöhnung. Lesen Sie hier die Predigt zu 1. Mose 50, 15-21.

Liebe Gemeinde, „Und siehe, es war alles, alles gut!“ So endet Josef von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts. In diesem Satz mündet der phantastische Bericht einer aufregenden Reise voller Leiden und Verwirrung, voller Schuld und Versagen. „Und es war alles, alles gut!“ Solche Schlusssätze wünscht sich wohl jeder von uns für die Geschichte seiner eigenen Wanderungen – für die Wanderungen, zu denen wir oft mit klaren Zielen aufbrechen und in deren Verlauf wir doch auf Abwege und Irrwege geraten. Wir erfahren Schuld und werden schuldig. Wir leben uns auseinander: Brüche, Versagen, Versäumnisse … Ich könnte die Reihe grenzenlos fortsetzen – umso mehr, wenn ich auf das bedrückende Geschehen in der Weltgeschichte schaue, nicht nur in unseren Tagen. Wenn wir am Ende wenigstens sagen könnten: „Und es war alles, alles gut!“ Dann könnten wir die Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten auf uns nehmen, dann könnten wir mit Schuld und Versagen leben, dann könnten wir unseren Weg festen Schrittes und zügigen Ganges gehen. Aber wer kann das schon?

Beten und Feiern unter dem Nagelkreuz Foto: Stefan Schick

Beten und Feiern unter dem Nagelkreuz Foto: Stefan Schick

Aber anscheinend gibt es das, auch wenn es uns fremd klingt. Anscheinend gibt es das: am Ende einer Lebensgeschichte, die von viel Schuld und Bösem gekennzeichnet ist, in der Neid und Feindschaft zu schlimmen Verstrickungen führten. Es ist die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Was war geschehen? Rufen wir uns noch einmal ein paar Momente dieser eindrücklichen Erzählung in Erinnerung. Es begann damit, dass Jakob Joseph als seinen Lieblingssohn behandelte, ihn offenkundig bevorzugte. Das erzeugte Selbstüberschätzung bei Joseph, aber auch Neid bei seinen Brüdern. Er träumte von der Herrschaft über die Brüder und den Vater. Die Brüder aber duldeten die Überordnung Josephs nicht. Sie planten, ihn bei der erstbesten Gelegenheit umzubringen. Nur weil Juda und Ruben, die älteren Brüder, die anderen vom Mord abhielten, wird Joseph in eine Zisterne geworfen und als Sklave nach Ägypten verkauft. Die Brüder decken ihre Untat des Menschenhandels gegenüber ihrem Vater mit der Lüge von einem tödlichen Unfall zu. Keiner spürt Erbarmen mit dem Opfer, keiner übt Solidarität. Alle finden es richtig.

Ohne es zu wissen, treffen die Brüder nach vielen Jahren wieder auf ihr Opfer. Diesmal sind sie die Bittsteller – Wirtschaftsflüchtlinge, würde man heute wohl sagen. Sie bitten um Korn, da eine Hungersnot in Israel herrschte und die Getreidespeicher in Ägypten dank der klugen Vorratswirtschaft voll sind. Joseph ist inzwischen durch seine Traumdeutungen zu hohem Ansehen am pharaonischen Königshof gelangt. Er gibt sich nicht zu erkennen und versöhnt sich auch nicht mit den Brüdern, vielmehr lässt er sie die ganze Härte seiner Machtposition spüren. Er wirft ihnen Spionage vor, zwingt sie, von der Familie zu sprechen, zwingt sie, den jüngsten Bruder Benjamin zu holen. Er lässt sie spüren, wie es ist, wenn man unbarmherziger Willkür ausgesetzt ist, stellt ihre Familiensolidarität auf die Probe.

Und es geschieht das Dramatische: Die Brüder kommen zur Einsicht ihrer Schuld. Wahrlich, wir sind schuldig gegenüber unserem Bruder, dessen Herzensangst wir sahen, als er uns anflehte, aber wir haben nicht darauf gehört. Darum kommt diese Not jetzt über uns. Und genau an diesem Punkt geschieht das Entscheidende, liebe Gemeinde, das Eigentliche der Geschichte. Genau an diesem Punkt führt uns diese Geschichte in das Zentrum biblischen Glaubens. Aber Joseph weinte! Und er sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, stehe ich denn an Gottes statt? (Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich ein großes Volk am Leben zu erhalten. So fürchtet euch nicht, ich will euch und eure Kinder versorgen.) Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Wie entscheidend, liebe Gemeinde, ist diese Kehrtwende, wie entscheidend dieser Augenblick. Joseph reagiert nicht mit Vorwürfen, nicht mit Bestrafung, nicht mit weiteren Verstrickungen. Nein: Er weinte! Genau da geschieht Versöhnung: Joseph weiß um Gottes Heilsplan, der ein großes Volk am Leben erhalten will. Und er weiß, dass er selbst nicht unbeteiligt ist an der Schuldgeschichte seiner Familie und dass es letztlich nur Gottes Urteil sein kann, das über unserem Leben gesprochen wird. Das lässt ihn frei werden für Vergebung und Versöhnung, das macht ihn frei für einen neuen Anfang.

Und beides, liebe Gemeinde, führt in die Freiheit der Gotteskindschaft, beides eröffnet Zukunft, lässt uns nach vorne blicken, lässt unseren Weg weitergehen, lässt Vergangenes Vergangenheit sein. Es verharmlost Schuld nicht, aber es lässt Versöhnung zu. Fürchtet euch nicht, stehe ich denn an Gottes statt? Oder, um es mit der Kirchentagslosung zu sagen: mutig, stark, beherzt – „Wachet, steht im Glauben, seid mutig und stark. Alle eure Dinge lasst in Liebe geschehen.“ So diese Worte im 1. Korintherbrief, Kapitel 16, aus denen das Kirchentagsmotto stammt.

Vokalensemble „Les voix parlantes“ Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Vokalensemble „Les voix parlantes“ Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Da, liebe Gemeinde, setzt Versöhnung an. Stehe ich denn an Gottes statt? Habe ich denn das Recht, ein endgültiges Urteil über einen Menschen zu sprechen? Vielleicht liegt Thomas Mann nicht so ganz schief, wenn er am Ende seines Romans Joseph und seine Brüder Joseph sagen lässt: Aber wenn es um Verzeihung geht unter den Menschen, so bin ich’s, der euch darum bitten muss – denn ihr musstet die Bösen spielen, damit alles so käme.

Trotz all unserer gegenteiligen Erfahrung bleibt Versöhnung der Anspruch Gottes an uns. In einer Zeit, in der sich die Gottvergessenheit immer tiefer festsetzt, dürfen wir den Menschen die Botschaft von Gottes Nähe nicht verweigern, können wir das Wort von der Versöhnung nicht bei uns behalten. In einer Zeit, in der sich viele nicht nur gegen die Versöhnung Gottes sperren, sondern auch unversöhnlich miteinander umgehen, bekommt die Rolle als Botschafter an Christi statt klare Konturen. Das Wort von der Versöhnung wartet darauf, dass wir ihm mit unserem Leben entsprechen – mutig, stark und beherzt.

„Es war alles, alles gut“ – ob es das gibt? Die Antwort entscheidet sich daran, ob wir fragen: Stehe ich denn an Gottes statt? Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn.

Autor: Klaus Majoress, Superintendent a. D., Nagelkreuzzentrum Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg

 

Mehr als 1.000 Besucher:innen an unserem neuen Stand auf dem Kirchentag

Er war nicht zu übersehen: Unser neu konzipierter Informationsstand feierte beim Evangelischen Kirchentag 2025 in Hannover Premiere – und wurde zum Publikumsmagnet. Drei Tage lang war unser großer Stand auf dem Markt der Möglichkeiten in Halle 5 durchgehend gut besucht: Über 1.000 Menschen kamen mit uns ins Gespräch, bastelten Nagelkreuze, lösten unser Versöhnungsgebets-Quiz oder nahmen ein Statement für TikTok auf.

Rund 20 Freiwillige aus Zentren in ganz Deutschland haben den Stand engagiert betreut – mit Begeisterung, Kompetenz und einem offenen Ohr für die vielen Fragen und Eindrücke der Besucher:innen. Unsere Giveaways waren heiß begehrt, besonders die Postkarten mit dem Versöhnungsgebet. Zahlreiche Gespräche drehten sich um die persönliche Bedeutung von Versöhnung und darum, wie sich aus Schuld und Fremdheit neue Verbindungen schaffen lassen.

„Versöhnung ist…“ auf TikTok

Die beiden beleuchteten Pixlip-Displays zogen die Blicke bereits von Weitem auf sich. Das mehrsprachige Rätsel zum Versöhnungsgebet wurde gerne als Einstieg in weiterführende Gespräche genutzt. Die interaktive Landkarte am Touchscreen ermöglichte es, sich durch das Netzwerk der Nagelkreuzzentren zu klicken – so entstanden neue Kontakte und Ideen für gegenseitige Besuche oder Kooperationen. Ein Highlight war das Social-Media-Angebot: Viele Jugendliche – aber nicht nur – nahmen die Gelegenheit wahr, ein eigenes Statement zu filmen: „Versöhnung ist …“. Sie sind nach wie vor auf unserem TikTok-Kanal anzusehen.

Unsere Gemeinschaft ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen. In Deutschland stehen inzwischen mehr als 80 Nagelkreuze. Dieser Entwicklung und der damit verbundenen wachsenden Bedeutung wollten wir auch auf dem Kirchentag Ausdruck verleihen. Der Vorstand hat sich deshalb entschieden, unseren Auftritt deutlich zu vergrößern und mit einem neuen, inhaltlich wie visuell überzeugenden Standkonzept aufzutreten.

Stand ab sofort auch zur Ausleihe verfügbar

Die starke Nachfrage hat gezeigt: Diese Entscheidung war richtig. Der großzügige Aufbau hat nicht nur Raum für mehr Begegnung und Gespräche geschaffen, sondern auch neue kreative Formate ermöglicht. Und: Die Investition lohnt über den Kirchentag hinaus. Der neue Stand steht ab sofort allen interessierten Zentren zur Ausleihe zur Verfügung. Wer also eine eigene Ausstellung, einen Gottesdienst oder ein Bildungsformat plant, kann den Stand nutzen, um die Idee des Nagelkreuzes sichtbar zu machen. Weitere Informationen zur Ausleihe finden Sie hier in unserem Service-Angebot.

Autor: Niels Faßbender