Dekan John Witcombe: Ein Besuch der St.-Pauls-Kathedrale, Odessa

Foto: Igor Nazarenko

John Witcombe, Dekan von Coventry, hat vom 4. bis 6. Juli 2024 die St.-Pauls-Kathedrale in Odessa/Ukraine besucht, ebenfalls ein Nagelkreuzzentrum. In einer bemerkenswerten Predigt im Sonntagsgottesdienst am 14. Juli 2024 in der Kathedrale von Coventry hat er über den Besuch berichtet und reflektiert. Wir haben den Text für Sie übersetzt und dokumentiert.

Kürzlich war ich zu einer Reise in die Ukraine eingeladen, um die lutherische St.-Pauls-Kathedrale in Odessa, eines unserer Nagelkreuzzentren, zu besuchen. Ich war schon einmal dort, nämlich 2013. Das war mein erstes Jahr als Dekan an der Kathedrale von Coventry, und zugleich das Jahr, in dem die St.-Pauls-Kathedrale Mitglied der Nagelkreuzgemeinschaft wurde. Seinerzeit ging es vor allem um die Anerkennung einer Kirche, die nach dem Ende der Sowjet-Ära renoviert und für Gottesdienste wiedereröffnet worden war. In Wahrheit war mir nicht wirklich klar, welche Bedeutung ihr Beitritt zur Nagelkreuzgemeinschaft haben würde. Aber schon kurz darauf, parallel zur russischen Annexion der Krim im Jahr 2014, brachen in der Ukraine zivile Unruhen aus. Wie wir erfuhren, trugen Gemeindemitglieder der St.-Pauls-Kathedrale das Nagelkreuz an Straßenecken. Um das Kreuz herum versammelten sich Christen vieler verschiedener Kirchen, um für Frieden zu beten.

Das war, bevor im Februar 2022 die Invasion in vollem Umfang begann. Der neue Pastor der Kirche, Alexander Gross, hatte mich gebeten, die Kirche anlässlich ihres 170-jährigen Bestehens schon im letzten Sommer zu besuchen. Das war letztlich nicht möglich. In diesem Sommer erneuerte Arne Bölt die Einladung. Ich hatte ihn zuvor schon in Rostock getroffen, wo er im Nagelkreuzzentrum Ev. Innenstadtgemeinde mitarbeitet. Er ist außerdem Mitglied des Leitungskreises der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft und verbrachte im Rahmen eines Sabbaticals einige Monate in Odessa. Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft hatte die Installation eines Sockels und eines Kunstwerks für das Nagelkreuz in der Kirche unterstützt. Ich war gebeten worden, die Installation zu segnen und ein wenig Zeit mit der Kirche und der Bürgergemeinde zu verbringen.

Anmerkung der Redaktion: Einen Bericht von Arne Bölt über seine Zeit in Odessa und das Kunstwerk finden Sie hier.

„Manchmal besteht unsere Aufgabe als Friedensstifter einfach darin, zu kommen, Solidarität zu zeigen und Zeugnis abzulegen“

Foto: Igor Nazarenko

Es stellte sich heraus, dass es genau der richtige Zeitpunkt für einen Besuch war. Manchmal passieren solche Dinge einfach. Die beiden Töchter von Pastor Gross waren von ihrem Studium in Amerika zurück und konnten übersetzen, und die ganze Familie reiste am nächsten Tag zu einem Jugendlager in die Tschechische Republik. Arne konnte mich vom Flughafen in Moldawien abholen und mich über die Grenze nach Odessa bringen. Mehrere Mitglieder der örtlichen christlichen und zivilen Gemeinschaft waren bei meinem Vortrag anwesend. Am nächsten Tag kam es erneut zu russischen Angriffen im ganzen Land.

Manchmal besteht unsere Aufgabe als Friedensstifter einfach darin, zu kommen, Solidarität zu zeigen und Zeugnis abzulegen. Ich kann zwei Dinge bezeugen:

Erstens, dass das Leben in Odessa auf eine Weise weitergeht, die ganz normal zu sein scheint. Jemand dort sagte: „Wir verbringen nicht unsere ganze Zeit damit, uns einen Weg durch Bombenkrater zu bahnen.“ Wir saßen an einem Sommerabend im Freien und gingen auf der schönen, von Bäumen gesäumten Promenade oberhalb des Hafens spazieren, wir hörten den Straßenmusikern zu und genossen die Atmosphäre.

Zweitens, dass darunter eine ständige existenzielle Bedrohung durch Angriffe liegt und dass an meinem zweiten Abend Sirenen und Explosionsgeräusche in nicht allzu weiter Entfernung meinen Schlaf nahezu unmöglich machten.

„Ich bin kein Held“

Mitten in meinem Vortrag über die Arbeit von Coventry im Bereich Frieden und Versöhnung am Freitagmorgen wurde ich von Vladimir, einem der Organisatoren, unterbrochen. Er teilte mit, dass ein Raketenangriff angekündigt worden sei, und fragte, ob ich in den Luftschutzkeller gehen wolle. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Deshalb fragte ich die anderen, was sie tun würden. „Wir würden einfach hier bleiben“, sagten sie, aber ich müsse selbst entscheiden. Ich sagte, dass ich ebenfalls bleibe. Später, beim Mittagessen, wurde mir klar, wie viel meinen das meinen Gastgebern bedeutete. „Wir müssen hier bleiben“, sagten sie. „Das ist unsere Heimat, hier sind unsere Familien zu Hause. Du müsstest nicht hier sein, trotzdem hast du dich entschieden zu kommen. Das bedeutet uns sehr viel.“

Foto: Igor Nazarenko

Ich bin kein Held. Ich fühlte mich nicht besonders unsicher, als ich in die Ukraine reiste. Ich hatte meinen Gastgeber Arne und Lesya, meine Kontaktperson in Coventry, gefragt, ob es unvernünftig sei, in ein Kriegsgebiet zu fliegen. Auf der Website der Regierung ist es als rote Zone gekennzeichnet, in die man nicht reisen sollte. Aber man hatte mir gesagt, es sei in Ordnung. Und alles, was wir tun, hat ein Risiko. Also treffen wir unsere Entscheidungen auf der Grundlage dessen, was das Richtige ist, und im Gespräch mit den Menschen, die uns am nächsten stehen. Meine Frau Ricarda sagte: „Natürlich musst du hinfahren. Wozu ist die Nagelkreuzgemeinschaft da, wenn nicht, um einer Bitte nachzukommen, bei denen zu sein, die in einen Konflikt verwickelt sind?“

Also flog ich hin, um Zeugnis abzulegen, um bei ihnen zu sein und um ihre Geschichte nach Coventry zu bringen. Aber ich bin auch nach Odessa gereist, um von Coventry Zeugnis abzulegen, von unserer Geschichte, für sie. Was haben wir aus unserer Geschichte zu sagen? Wir haben zwei Dinge zu sagen:

„Wir kämpfen gegen das Böse und müssen uns gegen einen Angreifer verteidigen“

Das eine ist die existentielle Realität, dass Gottes Wille die Versöhnung aller Dinge ist. Es ist die Realität, die Propst Howard, der Leiter der Kathedrale, als sie bombardiert wurde, mit seinen Worten am Weihnachtstag 1940 bezeugte: „Wir versuchen, so schwer es auch sein mag, alle Gedanken an Rache zu verbannen… Wir werden versuchen, eine gütigere, einfachere, Christuskind-ähnlichere Welt in den Tagen nach diesem Konflikt zu schaffen.“ Doch in diesem Zusammenhang einfach von Versöhnung zu sprechen, kann – wie 1938 Chamberlains Aufruf zum Appeasement – wie eine Forderung wirken, dem Aggressor nachzugeben. Und viele in der Ukraine haben das Gefühl oder befürchten, dass der Westen genau das von ihnen verlangt.

Deshalb müssen wir uns auch an das andere erinnern, was Propst Howard in derselben Radiosendung sagte: „Wir rüsten uns, um die gewaltige Aufgabe, die Welt vor Tyrannei und Grausamkeit zu retten, zu Ende zu bringen… wir sind in tapferer Stimmung und können dem Empire ein tapferes Weihnachtsfest wünschen.“ Als ich für diese Predigt recherchierte, fiel mir auf, dass ich diese Zeilen normalerweise aus meinen Vorträgen entfernt habe. Tatsächlich stehen sie im selben Absatz wie seine Ablehnung der Rache. Die Sache ist die: Zwar sprechen wir von der größeren Hoffnung auf Versöhnung und halten an ihr als unserem Endziel fest. Aber wir kämpfen vielleicht gerade jetzt gegen das Böse, kämpfen wirklich, müssen uns gegen einen Angreifer verteidigen – auch wenn wir an der letzten Hoffnung auf Frieden festhalten.

Es war wirklich wichtig, dies in der Ukraine zu sagen. Nicht immer, wenn wir es wollen, können wir Versöhnung erreichen. Meine Gastgeber in Odessa sagten mir, meine schönen Worte – sich um einen Tisch zu versammeln, mutig unsere Unterschiede zu erforschen, Kunst zu nutzen, um uns zusammenzubringen – wären vor 2014, als Russland auf der Krim einmarschierte, vielleicht gut gewesen. Aber jetzt sei etwas anderes gefragt: Frieden mit Gerechtigkeit. Wir können nur mit denjenigen einen wirklichen Dialog führen, die bereit sind, die Wahrheit anzuerkennen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.

Auferstehung, Versöhnung und Verantworung: „Eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen“

„Resurrection“ und „Reconciliation“, Auferstehung und Versöhnung, sind die beiden Schlüsselbegriffe von Coventry. Einer meiner Gastgeber sagte zu mir: „Ich habe ein drittes ‚R‘ für dich: ‚Responsibility‘, Verantwortung.“ Damit traf er einen wichtigen Punkt: Auferstehung, Versöhnung und Verantwortung werden uns helfen, auf dem Weg zu einem gerechten Frieden voranzukommen. So lautet inzwischen auch der dritte Leitsatz unserer Nagelkreuzgemeinschaft: „Building a culture of peace an justice“ – „eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen“.

Autor: John Witcombe, Hochwürdiger Dekan von Coventry

 

„Mir fällt kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre“ – Eine Freiwillige berichtet aus Coventry

Foto: Sabrina Gröschel

Jährlich leisten junge Frauen oder Männer als Freiwillige des Nagelkreuzzentrums Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) einen zwölfmonatigen Friedensdienst an der Kathedrale von Coventry. Die Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. unterstützt diese Arbeit u. a. mit einem jährlichen finanziellen Zuschuss von zurzeit 4.000 €. Seit September 2023 ist Lea Rischmüller aus Hildesheim in Coventry. Vor einiger Zeit hat sie an Aktion Sühnezeichen über ihren Aufenthalt berichtet. Wir freuen uns, ihre ersten Eindrücke auch hier abdrucken zu können.

Ich bin Lea Rischmüller, 19 Jahre alt und mein Weg zu ASF hat eigentlich in Weston-super-Mare angefangen, der englischen Partnerstadt meiner Heimatstadt Hildesheim. Wann immer ich hier jemandem davon erzähle, schaue ich in entsetzte Gesichter – die Stadt ist wohl nicht unbedingt für ihre Schönheit bekannt. Aber dorthin habe ich mit 14 einen Austausch gemacht und hatte seitdem so ein Gefühl, dass ich gerne mal eine längere Zeit in Großbritannien verbringen würde. Auch wenn ich als unabhängige kleine Schwester natürlich gerne behaupten würde, dass ich selbst das Konzept Freiwilligendienst für mich entdeckt hätte, war es wohl meine große Schwester, durch die ich darauf gestoßen bin. Ich interessiere mich außerdem sehr für Politik und Geschichte, also habe ich mich im Herbst letzten Jahres bei mehreren Freiwilligendienstorganisationen beworben, die Projekte in der politischen bzw. historischen Bildungsarbeit und in Großbritannien anbieten. Der Bewerbungsprozess hatte mich schon in ein, zwei mittelschwere persönliche Krisen gestürzt, als im Februar 2023 das Angebot von ASF kam, dass ich mit ihnen einen Freiwilligendienst in der Kathedrale von Coventry in England machen könnte. Das hat sich direkt ziemlich richtig angefühlt, ich habe den unterzeichneten Vertrag abgeschickt und mich gefreut. Mit dem großen Muffensausen musste ich dann hauptsächlich in der Woche vor meiner Ausreise fertig werden. Ich weiß noch genau, wie ich krank in meinem Bett lag und mich selbst ganz wehleidig gefragt habe, warum ich überhaupt jemals nach England wollte, obwohl das ja unendlich weit weg ist; was passiert, wenn ich dort krank werde und sich niemand um mich kümmert; und mir eingeredet habe, dass ich nicht mal ein paar Tage in Coventry überstehen werde. So drehte sich die Gedankenspirale in mir abwärts, aber egal, wie sehr ich mich in meinem vermeintlichen Leid gesuhlt habe, für einen Rückzieher war es eh zu spät. Am 4. September 2023 saß ich letztendlich doch mit meinen zwei Koffern und meinem Rucksack im Zug auf dem Weg zum Vorbereitungsseminar.

Hilltop – Ausgangspunkt der „Coventry Story”

Die Seminartage in Krakau und London waren aufregend und cool, aber vor allem auch zu viel. Zu viele neue Menschen, zu viele Eindrücke und zu viel Realisation, dass dieses Auslandsjahr, was ich mir so lange in meinem Kopf ausgemalt habe, jetzt wirklich passiert. Zehn Tage später sind meine Mitfreiwillige Blanka und ich dann entsprechend übermüdet und überfordert in Coventry angekommen. Dort wurden wir sehr nett von Alice, der Zuständigen für Freiwillige in der Kathedrale, empfangen und in ihrem kleinen roten Fiat einzeln (für drei Menschen und vier Koffer war leider nicht genug Platz) vom Bahnhof zu unserer Wohnung gebracht. Was genau wir in den ersten Tagen gemacht haben, verschwimmt ein bisschen in meinen Erinnerungen, aber wir wurden auf jeden Fall sehr vielen Mitarbeitenden an der Kathedrale vorgestellt und haben versucht, uns in den Gebäuden und Fluren zurechtzufinden. Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie am Tag der offenen Tür an meiner weiterführenden Schule und war mir sehr sicher, dass ich mich regelmäßig verlaufen werde.

Foto: Nosipho Radebe

Rückblickend betrachtet ist es aber gar nicht so kompliziert: Ich verbringe den Großteil meiner Zeit auf „Hilltop“, einem Hügel mitten im Stadtzentrum, auf dem alle Gebäude der Kathedrale liegen. Dort befindet sich auch Dewis Lodge, ein verwinkelter Hausteil, der seit Jahren von immer wechselnden Freiwilligen, Praktikanten, Orgelschülerinnen und jetzt eben Blanka und mir bewohnt wird. Jeden Morgen laufe ich dann links eine schmale Kopfsteinpflastergasse hinauf, die sich vor allem bei Nässe als ernstzunehmende Gefahr für Leib und Leben entpuppt, und sehe als erstes die Ruinen der alten Kathedrale. Die wurde zerstört, als Coventry 1940 von der Luftwaffe zerbombt wurde. Anstatt sie wieder aufzubauen oder die noch stehenden Wände komplett abzureißen wurde direkt an die alten Mauern 1962 eine neue Kathedrale gebaut. Mein liebstes Gebäude ist aber St. Michael’s House direkt nebenan, dort sind die Büros vom Events- und vom CCN-Team, also den Teams, denen ich hauptsächlich zugeteilt bin. Mittwochs und donnerstags arbeite ich mit Alice für die „Community of the Cross of Nails“ (CCN), eine internationale Gemeinschaft christlicher Kirchen, die aus dem Versöhnungsgedanken nach der Zerstörung der alten Kathedrale entstanden ist. Der damalige Propst hat, anstatt Rache zu schwören, angefangen, Kontakt mit anderen zerstörten Städten und Kirchen vorrangig in Deutschland zu knüpfen. Diesen wurde dann irgendwann Kreuze aus Dachnägeln des eingefallenen Kirchendachs als Symbol der Verbundenheit überreicht und somit hat sich die „Coventry Story“, wie sie hier genannt wird, als Inspiration für Friedens- und Versöhnungsarbeit etabliert. Ein großer Teil der Arbeit der CCN ist es, Pilgerreisen nach Coventry anzubieten. In meiner Zeit hier habe ich deswegen schon eine Gruppe aus den Hamburger Hauptkirchen und eine aus verschiedenen Kirchen nahe Karlsruhe mitbetreut, die Seminare und Führungen zur Geschichte der Stadt und zur Versöhnungsarbeit bekommen haben. Ansonsten designe ich an meinen CCN-Tagen zum Beispiel den Newsletter oder bearbeite Anfragen aus Partnergemeinden.

Schottischer Volkstanz unterm Nagelkreuz

Montags, dienstags und freitags bin ich wiederum beim Arts-&-Events-Team, was abgesehen von mir aus Georgia, Molly und Tim besteht. Die drei sind Mitte zwanzig und nutzen die Räume der alten und neuen Kathedrale für alle möglichen Events. Manche sind monatlich angesetzt, wie zum Beispiel Filmscreenings, Yoga-Stunden oder das „Let’s chill: Baby-Hangout“.

Weihnachtliches Fotoshooting mit dem Eventsteam
Foto: Sarah Scouller

Bei letzterem können Eltern mit ihren Babys einen Vormittag lang auf einer großen Spielmatte vor dem Buntglasfenster in der neuen Kathedrale spielen (klang auch nach einem etwas komischen Konzept für mich, aber die Kinder scheinen unter dem Licht vom Fenster und so in der Ruhe der Kirche sehr gut entspannen zu können). Und dann stehen immer wechselnde Veranstaltungen an, die teilweise vom Team selbst und teilweise von externen Veranstaltern ausgerichtet werden. Seit ich hier bin, gab es schon ein Herbstfest in den Ruinen, mehrere klassische Konzerte und Kunstausstellungen, einen großen Flohmarkt, ein Wein-Tasting und vieles mehr. Das Spektrum des Möglichen ist auf jeden Fall breit, was mich anfangs auf jeden Fall positiv überrascht bis ein bisschen verwirrt hat. Dass eine Kirche für so viele Veranstaltungen genutzt wird, die wenig bis gar nichts mit Gott oder Glauben zu tun haben, kannte ich von zuhause nicht in dem Ausmaß. Wobei es auch hier natürlich Grenzen gibt: alles, was mit Halloween oder ähnlich ketzerischen Festen zu tun hat, ist zum Beispiel Tabu. Da jede Woche unterschiedliche Veranstaltungen anstehen, habe ich keinen festen Arbeitsablauf. An Tagen mit Events helfe ich vorher meistens beim Getränke einkaufen, Stühle stellen, dekorieren, Bar aufbauen oder sonstigen Vorbereitungen. Die Arbeit bei den Veranstaltungen an sich besteht dann manchmal aus Tickets kontrollieren, Getränke und Snacks verkaufen und selbst mitmachen, manchmal auch nur aus Toiletten zeigen und im Hintergrund bereitstehen, falls die Veranstalter:innen Probleme haben. Mein Highlight bis jetzt war auf jeden Fall das Step-into-Christmas-Weekend (die Elton-John-Referenz habe ich erst sehr spät verstanden) am ersten Adventswochenende. Freitagabends ging es mit einem Ceilidh los, das ist ein schottisch-irischer Volkstanz. Dafür haben wir die Kathedrale von allen Stühlen befreit, es kam eine traditionelle Band und eine Ansagerin und man hat in Paaren verschiedene Tänze beigebracht bekommen. Wir haben Glühwein und Mince Pies verkauft, immer abwechselnd selbst mitgetanzt und die Stimmung war super.

Verantwortung übernehmen

Am Samstag hatten wir dann einen vollen Tag mit zwei Vorführungen des Weihnachtsfilms „Nativity!“, der in Coventry spielt und teilweise in den Ruinen gedreht wurde, und einem kleinen Weihnachtsmarkt mit lokalen Hersteller:innen von Schmuck, Weihnachtskarten, Deko etc. in der Kathedrale. Darber habe ich mich am meisten gefreut, denn es war mein erstes kleines Projekt, die Stände dafür auszuwählen. Man konnte sich online bewerben, ich habe mir die Bewerbungen angeschaut, die besten ausgewählt und mit den Standbetreiber:innen über alle Details gemailt. Das klingt jetzt vielleicht nicht so weltbewegend, aber das war das erste Mal, dass ich die Hauptverantwortung für etwas hatte und die Stände an dem Tag dann in echt zu sehen, war ein sehr cooles Gefühl.

Step-into-Christmas-Weihnachtsmarkt
Foto: Lea Rischmüller

Was allerdings auch zu meinem Arbeitsalltag gehört, ist, dass ich an Tagen ohne Veranstaltungen noch oft ins Büro komme, ohne zu wissen, was ich heute zu tun habe. Ich gestalte dann Poster, bastele Deko, suche Fotos oder Videos für Social Media raus, recherchiere für anstehende Events und mache (elementar wichtiger Freiwilligen-Job!) Tee für alle. Hin und wieder sitze ich auch nur da, unterhalte mich mit den anderen und warte, bis es wieder etwas für mich zu tun gibt. An manchen Tagen stört mich das gar nicht, an anderen komme ich mir dadurch ein bisschen wie die nutzlose Praktikantin vor. Wahrscheinlich gehört das auch teilweise zur Position einer Freiwilligen dazu, aber ich hoffe trotzdem, dass ich in der Zukunft noch mehr feste Aufgaben bekomme, an denen ich arbeiten kann, ohne auf meine Kolleg:innen angewiesen zu sein.

Generell bin ich aber sehr glücklich mit meinem Projekt. Das Arbeitsumfeld ist total herzlich, ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt, falls ich irgendeine Aufgabe noch nie gemacht habe und mich erstmal einfinden muss und ich freue mich über jede Zeit mit meinen Kolleg:innen. Ob wir nur im Büro sitzen, gemeinsam Mittagspause machen, bei den Events an der Bar stehen, vorher zusammen kochen und essen oder außerhalb der Arbeit etwas unternehmen – ich habe sie einfach sehr gerne um mich und sie sind eine große Stütze für mich.

Heiligabend bei Wildfremden im Wohnzimmer

Das mag bis jetzt nicht so rüberkommen, aber ich gebe mir tatsächlich Mühe, mir auch ein bisschen ein Leben außerhalb der Kathedrale aufzubauen. Jeden Donnerstagabend singe ich daher im Chor der Warwick Universität und fühle mich seit der ersten Probe sehr wohl dort. Die Gruppe besteht zum einen aus Rentner:innen, mit denen ich in den Pausen sehr gerne einen kleinen Plausch halte, und zum anderen natürlich aus Student:innen, von denen manche mehr und manche weniger offen für Menschen von außerhalb sind. Ich gebe auf jeden Fall mein Bestes, aufgeschlossen zu sein, auf die Leute um mich herum zuzugehen und zum Beispiel im Fall von Amélie hat das sehr gut geklappt.

Foto: Lea Rischmüller

Sie studiert im ersten Semester englische Literatur, singt genauso wie ich 2. Sopran, und seitdem wir das erste Mal in einer Probe nebeneinandersaßen, verbringen wir auch außerhalb des Chores sehr viel Zeit zusammen. Irgendwann hat sie mich sogar eingeladen, über Weihnachten zu ihr und ihrer Familie nach Worcester zu kommen und genau das ist jetzt der Plan. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass ich nicht wie meine Mitfreiwilligen für die Feiertage nach Hause fliegen, sondern das so als Teil meines Auslandsjahres hier erleben will, und besser als bei der Familie einer Freundin könnte ich es mir nicht vorstellen. Ob ich das immer noch so cool finde, wenn ich Heiligabend bei wildfremden Eltern im Wohnzimmer sitze, weiß ich nicht, aber das werde ich jetzt wohl herausfinden.

„Get in the bin!“ und Pride-Ohrringe

Ein zusätzlicher Punkt, der für mein Auslandsjahr hier gesprochen hat, war, dass ich Lust hatte, den ganzen Tag eine andere Sprache, am liebsten Englisch, zu sprechen. Über zu wenig Englisch kann ich mich hier auf jeden Fall nicht beschweren, ich kann mich ja anders als andere ASF-Freiwillige nicht mal mit meiner Mitfreiwilligen, die aus Polen kommt, auf Deutsch unterhalten. Dementsprechend denke ich im Alltag gar nicht mehr so viel über den Sprachenunterschied nach und gebe einfach mein Bestes, mich verständlich auszudrücken. Nur wenn jemand beispielsweise ironische Kommentare macht oder meine Kolleg:innen in schnelle Schlagabtausche über irgendwelche englischen Serien oder Bücher geraten, muss ich mein wissendes Gesicht auflegen, ohne wirklich etwas zu verstehen. Dann sitze ich daneben, versuche nachzuvollziehen, was sie meinen und höre manchmal auch nur sehr interessiert zu, welche Sprüche und Redewendungen sie so benutzen. Einer meiner Favoriten stammt aus Georgias Wortschatz. Wenn sie geschockt von dem ist, was ihr jemand erzählt oder etwas gar nicht glauben kann, kommt immer ein sehr empörtes „get in the bin!“ von ihr. Ich würde an der Stelle vielleicht mit „als ob“ oder „das kann doch nicht wahr sein“ reagieren, aber „get in the bin“ trifft das Gefühl viel besser, finde ich. Einen weiteren Favoriten habe ich das erste Mal bei Mary gehört. Sie ist hier Kanonikerin, trägt Pride-Ohrringe, hat ein eigenes Andachtsformat eingeführt, in dem sie sich dem christlichen Glauben über Kunst und Musik nähert und ist einfach die coolste Geistliche, die ich je getroffen habe. Wenn ich eine Aufgabe für sie erledige oder ihr einen Gefallen tue, bedankt sie sich manchmal nicht nur, sondern sagt „You’re a star!“. Und was soll ich sagen, wenn Mary das zu mir sagt, fühle ich mich jedes Mal wie die wertvollste Person der Welt.

Erster Besuch von zuhause
Foto: Nosipho Radebe

Ich hoffe, es kommt rüber, dass ich hier eine sehr gute Zeit habe und mich grundsätzlich wirklich wohl fühle. Trotzdem gibt es auch regelmäßig Tage, an denen ich mich sehr allein fühle, vor allem wenn ich gerade lange mit jemandem zuhause telefoniert habe oder nachdem meine beste Freundin und ihre Mutter, mit denen ich eine sehr tolle Woche hier hatte, wieder abgereist waren. Ich fühle mich dann räumlich, aber auch emotional so weit weg von allen, die ich vermisse, dass ich richtig traurig werde. Wahrscheinlich wird mich dieses Gefühl auch in den nächsten Monaten weiter begleiten, faktisch bin ich ja auch ziemlich weit weg und ziemlich allein.

Immer wenn ich allerdings darüber nachdenke, ob es die richtige Entscheidung war, nach Coventry zu kommen, fällt mir kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre. Es fühlt sich total richtig an, hier zu sein und ich bin sehr froh, dass sich die krank im Bett liegende und panikschiebende Lea Ende August nicht dazu entschieden hat, die Idee mit dem Freiwilligendienst in England doch noch spontan über Bord zu werfen!

Ich möchte mich abschließend beim Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD), bei der Evangelischen Landeskirche Hannovers, bei der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. und bei der Kathedrale von Coventry für die Unterstützung meines Dienstes bedanken. Natürlich geht auch ein sehr großes Danke an meine ASF-Pat:innen – und Chapeau, wenn Sie nicht schon nach der Hälfte dieses Berichtes das Lesen aufgegeben haben!

Autorin: Lea Rischmüller

Region „Mitte“ hat sich in der Weimarer Herderkirche getroffen

Foto: Tabea Kormeier

Bei herrlichem Sonnenschein trafen sich am 9. März 2024 die Vertreter:innen der Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder der Region Mitte in Weimar. Es war bereits das 10. Treffen. Besonders erfreulich: Die Zahl der Teilnehmer:innen wächst! Dieses Jahr waren es Vertreter:innen aus 11 von 16 Zentren der Region. Die ausgebliebenen Zentren hatten im Vorfeld die Möglichkeit erhalten, schriftlich von ihrer Arbeit zu berichten und so ebenfalls „anwesend“ zu sein. Auch Informationen von der Vorstandsarbeit des Vereins fanden auf diese Weise ihren Weg zu den Teilnehmer:innen.

Die Zusammenkunft begann mit einer Andacht am Nagelkreuz in der Herderkirche, die von Pfarrer Sebastian Kircheis gestaltet wurde. Im Anschluss führte Superintendent Heinrich Herbst unter dem Leitgedanken „Narben und Wunden aus der Vergangenheit“ durch die Kirche. Manche Verletzungen, wie etwa abgeschlagene Köpfe, bleiben bestehen, erzählen aber trotzdem ihre Geschichte. Andere Narben konnten geheilt werden, zum Beispiel eine beschädigte Bibel.

Im nahe gelegenen Herderzentrum lernten sich die Anwesenden näher kennen, insbesondere indem sie von der Arbeit in ihren Zentren berichteten. So fanden sich auch Ansprechpartner:innen für die Vernetzung und Zusammenarbeit bei konkreten Themen. Deutlich wurde auch der Wunsch nach einem Wandernagelkreuz: Immer mehr Zentren arbeiten in ökumenischer Besetzung oder bringen das Nagelkreuz und seine Intentionen vermehrt in den öffentlichen Raum. Schwerpunkte der an allen Orten regelmäßig gehaltenen Gebete sind vor allem die aktuellen Kriege und die anstehenden Wahlen mit dem befürchteten Rechtsruck.

Foto: Teresa Tenbergen

Passend dazu war das Thema des Vortrages nach dem Mittagessen gewählt. Dr. Sebastian Kranich, Direktor der Ev. Akademie Thüringen, sprach zu „Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und ‚klarer Kante‘“. Nach einer anfänglichen biografischen Selbstverortung setzte Kranich vier Schwerpunkte: Die Frage, was überhaupt Versöhnung sei. Was es heißt, miteinander zu reden. Was mit „klarer Kante“ sei. Und schließlich ein Rückgriff auf Bonhoeffer und seine Rechenschaft nach zehn Jahren Nationalsozialismus in Deutschland.

Während der durch Paulus geprägte Gedanke des Bedarfs eines Gesandten zur Vermittlung zwischen unterschiedlichen Positionen in der anschließenden Diskussion weniger eine Rolle spielte, zeigten Gedanken zum Setting eines Dialogs rege Resonanz. Neben der grundlegenden Bereitschaft und Fähigkeit, einander zuzuhören und verstehen zu wollen, ist es erforderlich, genau hinzuhören. Denn Hass macht ungenau, führt zu Verallgemeinerungen und unberechtigter Ablehnung. Weiter blieb der Gedanke hängen, dass es für die Bereitschaft der Selbsthinterfragung und Öffnung der eigenen Position wichtig ist, in einem kleinen Rahmen zu sprechen. In großen Versammlungen neigen die Teilnehmenden stärker dazu, sich selbst zu behaupten und die eigene Position wirksam dazustellen.

Möglicherweise gilt hier das Wort Jesu von der Versammlung von zwei oder drei in einen ganz anderen Kontext: Jesus ist ebenfalls Vorbild und Maßstab für einerseits das Verstehen und andererseits das „klare-Kante-Zeigen“, wenn er beispielsweise die Händler aus dem Tempel wirft. Diesen Weg schlägt, so die Befürchtung mancher Teilnehmer, gerade die Kirche ein, wenn sie rechtsorientierten Parteien den Zugang zu Podien verwehrt, weil diese eben kirchen- und auch demokratiefeindlich sind. Schließlich nutzte der Referent Gedanken von Bonhoeffer, um den eigenen Standort und das eigene Nicht-/Handeln kritisch zu reflektieren. Die anschließende Diskussion vertiefte die Überlegungen und nutzte dabei den kleinen Rahmen zu einem offenen Austausch der Gedanken.

Nach einem Kaffee gab es schließlich noch eine Stadtführung, bei der allerdings schon manche Teilnehmer:innen „verloren“ gingen. Das Gruppenfoto ist deshalb nicht mehr ganz vollzählig ist. Aber, vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr – sicher mit noch mehr Teilnehmer:innen! Die Region hat bereits eine Einladung der Nagelkreuzbewerber aus Chemnitz angenommen und sich für den 8. März 2025 dort verabredet. Gern dürfen Sie sich diesen Termin bereits notieren.

Autorin: Tabea Kormeier

 

Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und „klarer Kante“

Dr. Sebastian Kranich, Direktor der Ev. Akademie Thüringen. Foto: privat

Das war der Titel eines Vortrags von Dr. Sebastian Kranich beim Treffen der Region „Mitte“ am 9. März 2024. Kranich ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen. In seinem Vortrag blickt er unter anderem auf seine Kindheit und Jugend in der DDR zurück und nimmt eine eindeutige politische Haltung ein: „Die AfD zielt offensichtlich auf die Unterminierung der freiheitlichen Demokratie. Rechtsextremisten dürfen keinen Einfluss auf Regierungshandeln erlangen.“

Blick in den Rückspiegel

Ich fange mit einem biografischen Blick in den Rückspiegel meiner Kindheit an. Damit Sie wissen, mit wem sie es zu tun haben. Oder vorsichtiger: Damit sie wissen, was mich seinerzeit geprägt hat. Zugleich schwingen bei diesem Rückblick die heutigen Herausforderungen schon mit. Allein schon deshalb, weil ich mir hier und heute darüber Gedanken mache.

Ich komme aus Dresden. Meine Mutter hat den Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 als kleines Mädchen überlebt und immer eindrücklich von diesem Geschehen erzählt. Mein Vater hat ihn ebenfalls erlebt. Und zwar fünf Wochen vor seiner Geburt. Im Bauch seiner Mutter, die bei diesem Angriff verschüttet wurde. Ich kenne noch die Spuren des Krieges – die Semperoper, die Frauenkirche, das Dresdner Schloss als Ruinen.

Geboren bin ich 1969 im Diakonissenkrankenhaus Dresden. Seit 1965 war die Dresdner Diakonissenanstalt das zweite Nagelkreuzzentrum in der DDR. Wie sie wahrscheinlich wissen, halfen englische Freiwillige im Rahmen eines ökumenischen Jugendaufbaulagers beim Wiederaufbau des zerstörten Diakonissenmutterhauses in Dresden.

Gesungen habe ich als Kruzianer in der Dresdner Kreuzkirche – ebenfalls ein Nagelkreuzzentrum. Was ein Nagelkreuz ist, habe ich so schon in meiner Kindheit und Jugend mitbekommen. Der 13. Februar ist für mich bis heute ein wichtiges Datum. Das hat ganz wesentlich auch mit dem Kreuzchor zu tun. Die Aufführungen des Dresdner Requiems von Rudolf Mauersberger und – jährlich – der Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ in der Kreuzkirche mit ihren Kriegsspuren haben sich in meine Erinnerung eingebrannt.

Versöhnung – das war das große Thema der Gedenkgottesdienste, die nach den Konzerten stattfanden: Also Vergebung und Versöhnung mit Engländern und Amerikanern, wo die DDR-Staatspropaganda in den 1980er Jahren ganz andere Töne anschlug, auch an diesem Tag. Es ging um Versöhnung mit dem Blick zurück. Aber eben nicht nur. Es war eben auch ein Tag der unabhängigen Friedensbewegung, wo es um das ganz aktuelle atomare Wettrüsten ging.

Ich erinnere mich auch an den jährlichen Gang am 13. Februar mit der Kerze in der Hand aus der übervollen Kreuzkirche hinüber zur Ruine der Frauenkirche. Dort wurden die Kerzen dann an der Ruine abgestellt. Im Nachhinein betrachtet war das ein Vorläuferritual für die Kerzendemos der friedlichen Revolution.

Warum erzähle ich das? Weil für mich daran etwas klar wird, was so überhaupt stimmt:

Versöhnung und Protest gehören zusammen.

Ein Gottesdienst zum 13. Februar war zugleich eine Versöhnungs- und eine Protestveranstaltung: Versöhnung im Blick auf das Vergangene. Und Protest im Blick auf die Gegenwart. So wie der alte Versöhnungsbibelspruch „Schwerter zu Pflugscharen“ ein Protestspruch für die Gegenwart wurde. Ich habe ihn als Aufnäher auch getragen. Mit 12 ½ Jahren. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns dringend geraten wurde, ihn zu entfernen. Und ich mir aus Pappe einen CND-Anstecker („Campaign for Nuclear Disarmament” – „Kampagne für nukleare Abrüstung“) bastelte, den ich als „Ersatzsymbol“ trug.

In der Friedensgruppe „Gewaltlos leben“, zu der ich seit dem Sommer 1988 gehörte, wurde gern von den Falken und den Tauben gesprochen. Also von Leuten, die mehr auf klare Kante setzten und Leuten, die mehr auf Verständigung und Dialog aus waren. Beide Gruppen aber gehörten zur selben Friedensgruppe, die – Nebenbemerkung – heute noch existiert. Zu einer Gruppe, deren Mitglieder eine Selbstverpflichtung unterschrieben hatten. Orientiert an den 10 Geboten der Gewaltlosigkeit von Martin Luther King. Einer Gruppe, deren zweites Gebot heißt: Ich verpflichte mich „Nie zu vergessen, dass ich mit meinem gewaltlosen Leben Gerechtigkeit für alle und Versöhnung suche.“ Und ich greife vor: Auch heute gehören beide Gruppen von Menschenkindern – symbolisch gesprochen Falken und Tauben – zur Kirche.

Versöhnung und Protest: Das gehörte damals auch bei vielen zusammen, die den Waffendienst in der NVA verweigerten oder den Wehrdienst überhaupt. Auch ich war Bausoldat 1988/89, die meiste Zeit in Merseburg. Aus den Erfahrungen und Briefen der Zeit habe ich ein Buch gemacht, Titel: Erst auf Christus hören, dann auf die Genossen. Bausoldatenbriefe. Merseburg, Wolfen, Welzow 1988/89, Halle 2006. Darin gebe ich mir Rechenschaft über die Zeit und präsentiere Dokumente und damit eben auch den O-Ton der Zeit. Ich habe nochmal reingesehen, was dort zu unserem Thema zu finden ist. Und habe mir die Lebensregel der Nagelkreuzgemeinschaft durchgelesen. Auf diese Weise bin ich auf einen Brief gestoßen, den ich am 3. Februar 1989 an meine damalige Freundin geschrieben habe, in dem es heißt:

„Was erwartest Du vom Leben? Die Frage ist falsch gestellt. Aber typisch für in der DDR erzogene oder lebende Leute. Erschreckend typisch für unsere Generation. Diese ‚gib‘ Haltung. Der Staat, Gesellschaft oder Eltern oder sonstwas geben nämlich immer. Von hinten und vorne versorgt. Es wir alles für Dich oder allen mit Dir gemacht. Von der Wiege bis zur Bahre durchgeplant. Spielst Du einigermaßen mit, dann gibt’s gesicherten Krippenplatz, Kindergarten, Schulbildung, Lehre, Armee, Beruf, Rente, Volkssolidarität, Begräbnis. Die Passivisten. Die, die erwarten.

Meine Frage ist: Was willst Du mit deinem, dir gegebenen Leben anfangen? Du hast die völlig freie Entscheidung. Ne Quatsch; Du musst Dir die Entscheidungsfreiheit nehmen. Gegen ziemlich viele Widerstände sogar. Was will ich also. Ich will, dass das Militär, die Unterdrückung, die Gewalt, der Hass, die Umweltzerstörung, der sinnlose Mord durch Hochrüstung, die Glaubens- und Gewissensbespitzelung und, und, und … – also die ganze Gottlosigkeit der kaputten Welt endlich aufhört. Ein reichhaltiger Aufgabenkatalog! Nicht zu schaffen? Keine Chance? Weltfremde Hirngespinste?

Und da wären wir schon bei Frage zwei. Was ist das Wesentliche an Christus? Das nur auf seinem Weg oder mit seiner Hilfe etwas zu erreichen ist.“

Also: Was machen wir? Was lassen wir mit uns machen – und was nicht? Und schließlich: Was machen wir anders? Ganz große Themen des Lebens – große Politik – ganz konkreter Protest im Brief eines 19-Jährigen. Aber springen wir aus der späten DDR direkt ins Heute:

Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und „klarer Kante“

„Wenn ich der Frage nachgehe, wo sich das Festhalten am Ideal der Versöhnung in der aktuellen politischen gesellschaftlichen und politischen Debatte spiegelt, springt mir der Begriff ‚Dialog‘ ins Auge. „‚Wir müssen wieder mehr miteinander reden.‘ – die Inflationsrate dieses Satzes übertrifft die der steigenden Lebenshaltungskosten.“ So schrieb der Theologe Frank Richter, bis 2016 Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen und Organisator geschützter Formate des Dialogs gesellschaftlicher Gruppen, kürzlich (Zeitzeichen, 12/2023, S. 35 [Bezahlschranke]). Ich verstehe ihn gut. Denn hier kommt es nicht auf Sonntagsreden an, sondern auf Genauigkeit. Hierzu vier Punkte:

1. Was ist das überhaupt – Versöhnung?

Dazu Auszüge aus einem Beitrag der Erlanger Neutestamentlerin Christina Eschner in der gleichen Ausgabe der Zeitzeichen (Zeitzeichen, 12/2023, S. 26 ff. [Bezahlschranke]): Die neutestamentliche Wissenschaft ist sich heute mehrheitlich einig: Bei Paulus hat Versöhnung einen eigenen Hintergrund. Dieser liegt nicht in der hebräischen Bibel, sondern in der hellenistischen Diplomatie. In zeitgenössischen Texten begegnet die Rede von der Versöhnung besonders häufig im politischen Kontext. Hier handelt es sich zumeist im militärischen Sinne um die Aussöhnung von verfeindeten Staaten, die sich miteinander in einem Krieg befinden. Versöhnung steht in enger Verbindung mit der Beendigung eines Krieges durch ein Friedensabkommen. Bei dieser zwischen(stadt)staatlichen Versöhnung spielen Gesandte eine große Rolle, die das Versöhnungsangebot überbringen und so den Friedensschluss aushandeln.

Auch Paulus verwendet Versöhnung in diesem Sinne. Versöhnung zwischen Gott und Mensch bedeutet somit nichts anderes als Versöhnung im zwischenmenschlichen Bereich. Paulus bestimmt seinen Dienst genauer als „Dienst der Versöhnung“ und seine Verkündigung als „Wort von der Versöhnung“. Diese Botschaft von der Versöhnung versteht Paulus genauer als Bitte, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Sich selbst bezeichnet Paulus als einen Gesandten, der diese Bitte Gottes zur Versöhnung überbringt.

Bei Paulus wird Gott nicht versöhnt oder lässt sich, einer menschlichen Bitte folgend, umstimmen. Denn für Paulus ist der Tod Christi, der zur Versöhnung der Glaubenden mit Gott führt, gerade der deutlichste Ausdruck der Liebe Gottes. „Lasst euch versöhnen mit Gott“ bedeutet: Gebt eure Feindschaft gegen Gott auf. Gott bietet somit von sich aus die Versöhnung an und fordert die Menschen auf, sein Versöhnungsangebot anzunehmen. Verwirklicht wird Versöhnung nur bei denen, die Gottes Friedensangebot annehmen.

2. Was heißt miteinander reden – auch auf diesem Hintergrund?

Es stimmt, was Frank Richter in den Zeitzeichen schreibt: Es braucht dazu eine Bereitschaft und die Fähigkeit, anderen zuzuhören und sie zu verstehen. Private, familiäre und öffentliche Gespräche zeigen oft, wie schwierig das ist. Aber auch Gespräche im Seniorenkreis oder im Gemeindekirchenrat. Denn wenn Empathie und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel fehlen, dann erleben wir Gespräche als sinnlos und manchmal sogar kontraproduktiv. Und wahrscheinlich sind sie das auch. Die Publizistin Carolin Emcke bringt es auf diesen Punkt: „Gehasst wird ungenau.“

Das positiv und zum Guten gewendet: Immer dann, wenn ich mir zumute, genau hinzuschauen, hinzuhören, dann wächst mein Verständnis für den jeweils anderen – gerade mit seinen Selbstwidersprüchen, mit dem Unfertigen und den Ambivalenzen. Dann wächst mein Verständnis als notwendige Voraussetzung für Versöhnung. Und es braucht dafür Orte und Formate: Das ist nicht die Talkshow. Und das ist auch nicht die Volksversammlung.

Wer Dialoge und Gespräche organisiert weiß: Je größer eine Versammlung ist, desto stärker neigen die Teilnehmenden dazu, sich selbst zu behaupten und die eigene Position wirksam darzustellen. Je kleiner und vertrauter eine Versammlung dagegen ist, desto leichter fällt es, das Eigene einmal loszulassen. Sie kennen das vielzitierte Jesus-Wort: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dieses Wort meint nicht nur das Übliche. Es deutet womöglich auch an, dass sich bestimmte Erkenntnisse nur in einem von Vertrautheit und Nähe geprägten Raum entwickeln können. Das ist eine seelsorgerliche und therapeutische Erfahrung.

Es scheint mir aber auch fruchtbar im Blick auf unsere virtuellen und sozialen Filterblasen. Die Jugendbildung der Evangelischen Akademie Thüringen betreibt seit 2019 das Projekt „Bubble-Crasher: Raus aus der Filterblase“. Im letzten Jahr wurde es mit dem 3. Preis beim Thüringer Demokratiepreis ausgezeichnet. Die Idee dahinter ist: Mit Leuten ins Gespräch kommen, die anders sind und denken als ich. Die Hauptmethode ist dabei: „Mehr fragen, weniger sagen.“

Dazu werden die eigenen Bubbles erst identifiziert, um sie danach ganz bewusst und zeitlich begrenzt zu verlassen. Das Erkenntnisinteresse ist, wie gesagt: Warum denken manche Menschen ganz anders als ich? Und: In welchen Punkten sind wir uns näher, als wir denken?

Dazu ein kurzer Praxis-Anwendungs-Bericht von Dr. Annika Schreiter, Studienleiterin für politische Jugendbildung in unserer Thüringer Akademie aus dem Jahr 2022: „Vergangenen Montag war es in Erfurt kalt und regnerisch. Auf dem Anger stehen sechs junge Menschen beisammen und schauen sich zaghaft um. ‚Hier ist doch überhaupt niemand, der demonstrieren möchte! Nur jede Menge Polizei‘, meint Inga. Der Blick auf Twitter verrät mir etwas anderes. Unter dem Hashtag #ef0702 steht: ‚Auf dem Anger befinden sich aktuell 150 Schwurblis, in Gruppen gefächert.‘ – Moment, Schwurblis?

Wir stehen doch auch hier! Doch dann wird es immer voller. ‚Jetzt oder nie: Wenn ihr ins Gespräch kommen wollt, sprecht Leute an!‘, sage ich. Die Sechs nicken, sie haben Fragen im Gepäck: Warum nehmen Sie hier teil? Was ist Ihr Ziel oder was soll sich ändern? Wie erfahren Sie von diesen Spaziergängen? Welche Sorgen treiben Sie um? Wie sehen Sie die anderen Teilnehmenden? Nun sprechen die sechs die Leute an, die sich zu einem sogenannten Spaziergang versammelt haben. Dabei hören sie einiges, was sie schon wussten: Skepsis und Wut gegenüber der Presse, Unverständnis für die strikten Pandemie-Maßnahmen und vehemente Ablehnung der viel diskutierten Impfpflicht. Urplötzlich werden alle Gespräche abgebrochen. Aus den aufgefächerten Grüppchen wird ein Zug von ca. 150 Menschen, die laut skandierend und mit Polizeibegleitung Richtung Fischmarkt ziehen.

Im Auswertungsgespräch sprechen wir im Anschluss über das, was wir erfahren haben. ‚Das ist wirklich eine richtige Bubble‘, stellt Katharina fest. ‚Die treffen sich da jede Woche und viele kennen sich untereinander.‘ Auch wurde das absichtliche Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei ganz deutlich. ‚Ich war überrascht, wie nett viele waren‘, bemerkt Fabienne. ‚Ins Gespräch zu kommen war total einfach. Nur weiß ich nicht, ob wir eine gemeinsame Gesprächsgrundlage finden könnten.‘ Zwar seien viele der dort genannten Probleme welche, die die Bubble Crasher selbst auch sehen. Nur kommen sie zu anderen Schlüssen. ‚Was ich schwer finde anzuhören, sind diese Vergleiche: Masken sind Mist, aber keine Folter!‘ Trotzdem finden es alle wichtig, das Gespräch zu suchen, auch wenn es bis zur Verständigung ein weiter Weg ist.“

3. Was ist mit klarer Kante?

Sehr kurz: Jesus, wie wir in den Evangelien von ihm lesen, hat beides gemacht: Er war bereit mit jedem und jeder zu reden und sich zusammen an den Tisch zu setzen. Zugleich hat er Haltung gezeigt und Kante gezeigt. Ich nenne nur die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel und die Gerichtsgleichnisse mit ihren ganz klaren Ansagen. In dieser Spannung leben wir als Christen in seiner Nachfolge bis heute.

Ich habe vor ein paar Jahren ein Podium mit Frank Hiddemann (Gera) und Lothar König (Jena) organisiert. Pfarrer Frank Hiddemann hatte damals zuvor Gespräche mit der AfD moderiert. Jugendpfarrer Lothar König war mit der antifaschistischen Jungen Gemeinde Mitte Jena auf vielen Demos seit den 1990er Jahren aktiv.

Am Anfang dieses Jahres kam in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKMD) erneut die Idee auf: Gemeinden sollen Wählerforen organisieren unter Einschluss von AfD-Kandidaten, geleitet von geschulten Moderatoren und Moderatorinnen. Nach „Potsdam“ (Correctiv-Recherche über das Treffen von Rechtsextremen in einer Potsdamer Villa) hieß es dann wieder: Kein Podium, keine Bühne der AfD. Das war und ist auch der Kurs der Evangelischen Akademie Thüringen und aller Evangelischen Akademien im Dachverband der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD). Die ostdeutschen Akademiedirektoren – eine Direktorin darunter – haben sich kürzlich mit einer ersten Stellungnahme zur Demokratie zu Wort gemeldet, Überschrift: „Konsens und Konflikt“. Ich sage darin: „Die AfD ist eine kirchenfeindliche Partei. Ihre Propaganda ist unvereinbar mit dem ethischen Kern des Christentums.“

In diesem Sinne habe ich auch schon 2019 nach der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Thüringer Ministerpräsidenten – mit Stimmen der AfD – öffentlich erklärt:

„Formal war diese Wahl korrekt. Legitim war sie nicht. Denn die AfD zielt offensichtlich auf die Unterminierung der freiheitlichen Demokratie, zu der die Evangelischen Kirchen in Deutschland als „Angebot und Aufgabe“ (Demokratiedenkschrift 1985) eindeutig stehen. Deshalb ist es erschreckend, wenn diese Wahl und die damit verbundenen Vorgänge von manchen im Nachhinein verkannt, verharmlost oder sogar gutgeheißen werden. Rechtsextremisten dürfen keinen Einfluss auf Regierungshandeln erlangen. Das muss Konsens unter Demokraten sein.“

Und klar war ich damals mit auf der großen Demo in Erfurt, wie jetzt am 20. Januar auch wieder.

4. Eine Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer

Ich denke, wir müssen uns immer wieder neu fragen: Was ermöglicht Versöhnung. Und: Was steht Versöhnung entgegen? Denn schließlich gibt es auch eine falsch verstandene Toleranz und einen feigen, falschen und bequemen Frieden. Davor warnen schon die Propheten.

Doch kann andererseits auch das eigene Herz der Versöhnung entgegenstehen. Zu dieser Spannung sind mir in den letzten Jahren ein paar Zeilen von Dietrich Bonhoeffer wichtig geworden: Zum Jahreswechsel 1942/43 zieht Bonhoeffer „Nach zehn Jahren Rechenschaft“ und schreibt: „Wir stehen mitten in einem Prozess der Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten.“

Und er warnt deutlich: „Wenn man nicht mehr weiß, was man sich und anderen schuldig ist, wo das Gefühl für menschliche Qualität und die Kraft, Distanz zu halten, erlischt, dort ist das Chaos vor der Tür. Wo man um materieller Bequemlichkeiten duldet, dass die Frechheit einem zu nahe tritt, dort hat man sich bereits selbst aufgegeben, dort hat man die Flut des Chaos an der Stelle des Dammes, an die man gestellt war, durchbrechen lassen und sich schuldig gemacht am Ganzen.“

Doch zugleich schreibt er auch: „Die Gefahr, uns in die Menschenverachtung hineintreiben zu lassen, ist sehr groß. Wir wissen wohl, dass wir kein Recht dazu haben, und dass wir dadurch in das unfruchtbarste Verhältnis zu den Menschen geraten.“

Zudem gilt: „Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd.“ Und schließlich ist mit Bonhoeffer daran zu erinnern: „Gott selbst hat die Menschen nicht verachtet, sondern ist Mensch geworden um der Menschen willen.“

Autor: Sebastian Kranich, Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen.

Die Redaktion dankt dem Autor, dass er den Text seines Vortrags unentgeltlich zur Veröffentlichung auf unserer Homepage und in unserem Freundesbrief zur Verfügung gestellt hat.

Einen Bericht über das Treffen der Region „Mitte“ am 9. März 2024 in Weimar finden Sie hier.

25 Jahre Nagelkreuz für die Militärseelsorge: Feierlicher Konvent in Strausberg

Foto: Azayan

Das Evangelische Militärdekanat Mitte erneuerte während seines Gesamtkonvents im Februar 2024 in Strausberg bei Berlin seine Mitgliedschaft in der Nagelkreuzgemeinschaft. Anlass war die Verleihung des Nagelkreuzes an den damaligen „Beauftragten für die Seelsorge an Soldaten in den neuen Bundesländern“ vor 25 Jahren.

Damals, am 12. Februar 1999, hatte nicht nur die Dresdner Frauenkirche ihr bekanntes Turmkreuz aus Coventry erhalten. Am gleichen Tag überreichte der seinerzeitige Dekan der Kathedrale John Petty auch ein Nagelkreuz an Dr. Werner Krätschell. Dieser hatte auf Bitte des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, 1997 den Aufbau der Militärseelsorge in den „neuen Bundesländern“ übernommen.

Zwar ist das Amt des „Beauftragten“ längst abgeschafft und die evangelische Seelsorge für die Soldatinnen und Soldaten wird seit 2004 auch in den östlichen Bundesländern von der Evangelischen Kirche in Deutschland wahrgenommen. Das Nagelkreuz gibt es allerdings noch immer. Es hat seine Heimat inzwischen beim Evangelischen Militärdekanat Mitte in Berlin. Es wandert durch die Pfarrämter des Dekanatsbereichs, wo es die Gottesdienste und Andachten bereichert. Auch bei zwei Auslandseinsätzen in Afghanistan und im Kosovo war es mit dabei.

Foto: Azayan

Schon bevor Krätschell das Kreuz in Coventry erhielt, war es als Versöhnungsbotschafter auf Schiffen der britischen und deutschen Marine unterwegs. Verliehen war es damals an Militärpfarrer Herbert Tratz, Mitgründer und Mitglied des ersten Vorstandes der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. Es blickt auf eine Geschichte sowohl im Bereich des ehemaligen Nord- als auch Ost-Konvents der Evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr zurück. Inzwischen sind beide Konvente zum Dekanat Mitte vereint. Damit steht das Kreuz neben seiner Versöhnungsbotschaft auch als verbindendes Symbol für den zusammengewachsenen Konvent.

Der Jubiläumsgottesdienst wurde am 28. Februar 2024 im Saal des Strausberger „Zentrums für Informationsarbeit der Bundeswehr“ gehalten. Militärpfarrer Matthias Spikermann erinnerte in seiner Predigt an die Versöhnungsidee von Coventry. Seitens der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. erneuerte anschließend Felicitas Weileder die Verleihung des Nagelkreuzes nun an den zusammengewachsenen Konvent Mitte. Anschließend sprachen Weileder und Dr. Krätschell die Versöhnungslitanei von Coventry. Das Gebet ist auch im Evangelischen Gesang- und Gebetbuch für Soldaten abgedruckt.

Als weitere Gäste waren Dr. Jan Kingreen von der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und Friedensbeauftragter der EKBO, Pfarrerin Angelika Behnke von der Dresdner Frauenkirche und die Vertreter des Nagelkreuzzentrums der Berliner Martin-Luther-Gedächtniskirche Klaus Wirbel, Gerd Niehoff und Rainer Drews zugegen. Im Anschluss an den Abendmahlsgottesdienst sorgte ein Empfang für Gelegenheit zum ausgiebigen Gedankenaustausch.

Foto: Azayan

Für die Organisation der Jubiläumsveranstaltung und die Liturgie des Festgottesdienstes verantwortlich waren Militärpfarrerin Inga Troue, Militärpfarrer Michael Blaszcyk und Militärpfarrer Matthias Spikermann. Die musikalische Ausgestaltung übernahm Pfarrhelfer Kay Dobberstein, welcher inzwischen selbst seit 25 Jahren seinen Dienst in der Militärseelsorge verrichtet.

Autor: Matthias Spikermann

 

Region „Südwest“ hat sich im Haus der Ev. Kirche Pforzheim getroffen

Foto: Gernot Härdt

Im Haus der Ev. Kirche in Pforzheim trafen sich am 9. März 2024 Vertreter:innen der zwölf Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder der Region Südwest. Die rund 25 Teilnehmerinnen waren u. a. aus Württemberg, Darmstadt, Saarbrücken, Offenburg, Karlsruhe und natürlich aus Pforzheim angereist.

Christian Roß berichtete aus der Arbeit des Leitungskreises. Die Teilnehmer:innen regten an, über einen Neuzuschnitt der ausgedehnten Region nachzudenken. Ihren Berichten war zudem zu entnehmen, dass die Beteiligung an den Andachten unterschiedlich ist. Die Zentren mit eher schwacher Resonanz ließen sich ermutigen, trotzdem „dranzubleiben“, um den Versöhnungsgedanken weiterzutragen.

Foto: Hans Gölz-Eisinger

Gegenstand der Überlegungen war auch, den Begriff „Nagelkreuz“ in der Bezeichnung der Andachten durch Wörter wie Friedensgebet, ökumenisches Mittagsgebet o. ä. zu ersetzen, um Außenstehende nicht abzuschrecken. Beraten wurde auch die zukünftige Gestaltung der Nagelkreuz-Jugendarbeit (u. a. Fahrt nach Coventry) und die Einrichtung einer Online-Cloud zum Austausch von Materialien und Informationen.

Foto: Hans Gölz-Eisinger

Roland Ganninger führte die Teilnehmer durch die Stadtkirche Pforzheim und informierte über die Geschichte der Kirche und des dortigen Nagelkreuzes. Den Abschluss des Treffens bildete eine Andacht bei einem Puzzle mit den Namen der Partnergemeinden der Stadt Pforzheim. Das Puzzle soll bis zum Ende des Ukrainekrieges in der Kirche ausliegen und steht unter dem Leitgedanken „Damit aus Fremden Freunde werden“. Das nächste Regionaltreffen Südwest findet am 22. März 2025 in der Ludwigskirche Saarbrücken statt.

Autor: Gernot Härdt

 

25 Jahre Nagelkreuz auf Hiddensee: Symposium „Sehnsucht nach Frieden und Wege dahin“

Inselkirche Kloster/Hiddensee
Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Seit 25 Jahren gehört die Kirchengemeinde Kloster zur Nagelkreuzgemeinschaft. Im April 1999 erhielt sie das Nagelkreuz. Dieses Jubiläum bot Anlass zu einem Symposium, das am Wochenende nach Ostern in Kloster auf Hiddensee zum Thema: „Sehnsucht nach Frieden und Wege dahin“ stattfand. Etwa 60 Teilnehmende kamen aus verschiedenen Nagelkreuzzentren zusammen und gingen der Frage nach, wie die Kriege unserer Zeit uns im Denken und Handeln herausfordern. Welche Schritte auf dem Weg des Friedens können wir gehen? Welche Möglichkeiten und Aufgaben haben wir?

Eine erste Antwort gab Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau, in der voll besetzten Inselkirche. Er berichtete über Hintergründe des Krieges Russlands gegen die Ukraine und stellte fest: Wenn wir nicht die Zuversicht haben, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, dann werden wir es auch nicht tun. Wir müssen uns unserer Stärken bewusst sein.

Zuversicht und Hoffnung! Wie gewinnen wir sie? Durch eine Kultur des Erinnerns, betonte Oliver Schuegraf, Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. Wir müssen uns von Geschichten gelingender Versöhnung tragen lassen und das Nagelkreuz ist eine solche Geschichte. 1940, als deutsche Bomber die englische Stadt Coventry und ihre Kathedrale zerstört hatten, verzichtete der damalige Propst Richard Howard auf Vergeltungsrhetorik. Stattdessen rief er auf, zu Versöhnung offen zu bleiben. „Vater vergib!“. Diese Worte schrieb er an den Altar und aus dem zerbombten Gebälk fügte er Nägel zu einem Kreuz zusammen. So schuf er ein Symbol, das die Friedensbotschaft Jesu in besonderer Weise als Zentrum des christlichen Glaubens vergegenwärtigt. Wege wurden vorbereitet, die nach Ende des Krieges begehbar waren und die Menschen aus verfeindeten Ländern wieder zusammenbrachten. Es wuchs ein Netzwerk für Frieden und Versöhnung mit heute über 250 Nagelkreuzzentren weltweit – 70 davon in Deutschland. Ihr Leitbild ist es, Wunden der Geschichte zu heilen, mit Unterschieden zu leben sowie eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit zu schaffen.

Schuegraf stellte die Frage, ob es Zeiten und Situationen gibt, an denen die Suche nach Frieden und Versöhnung nicht durchdringen kann, bzw. noch schärfer: An denen vielleicht die Forderung nach Frieden und Versöhnung gar nicht angemessen ist? Sollte es solche Zeiten geben, was ist dann in der Zwischenzeit? In Gesprächsgruppen und in einem Podiumsgespräch wurde darüber nachgedacht. Disputanten waren der sächsische Kirchenzeitungsredakteur Stefan Seidel – gerade hat er sein Buch „Entfeindet Euch“ publiziert –, der ehemalige UN-Sonderbeauftragte Martin Kobler und der Agrarwissenschaftler Joachim von Braun, u. a. stellvertretender Präsident der Welthungerhilfe. Betont wurde, dass Krieg in Köpfen von Menschen entsteht und auch nur dort sein Ende findet. Wichtig sei es, in einer Zeit, in der die öffentliche Debatte zunehmend von Kriegsrhetorik geprägt ist, auch eine Sprache des Friedenswillens wach zu halten. Nie dürfe aufgegeben werden, das Gespräch selbst mit Kriegstreibern zu suchen. Es gehört zur Friedensverantwortung, dies immer und immer wieder zu tun. Irgendwann werden auch Feinde wieder zusammenleben müssen. Opfer müssen Tätern vergeben, Täter müssen zur Sühne bereit sein. Vergebung und Versöhnung – im Wissen darum, dass Schuldzusammenhänge umfassend sind, können sie gelingen. Zugleich gilt: Frieden, der nicht nach Gerechtigkeit fragt, kann es nicht geben. Ein Wertekanon, an dem Schuld benennbar und in ihrer Schwere unterscheidbar bleibt, ist unverzichtbar. Um ihn gilt es zu streiten. Internationales Recht muss gelten und Umsetzung finden.

Waffen liefern – ja oder nein? In die Ukraine? Nach Israel? Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Einigkeit bestand im Wissen darum, dass jede mögliche Entscheidung mit Schuld verbunden ist. Und dass uns nichts von der Verantwortung entbindet, für Frieden und Versöhnung einzustehen. Wichtig ist es, sich in der Sehnsucht nach Frieden vereint zu wissen. Und im Gebet verbunden zu sein: „Vater vergib!“

Autor: Dr. Konrad Glöckner

 

Oliver Schuegraf als Landesbischof eingeführt

Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Am 25. Mai 2024 wurde der Vorsitzende der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V., Dr. Oliver Schuegraf, in sein Amt als Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe eingeführt. Während eines Festgottesdienstes in Bückeburg (Niedersachsen) wurde er vom Leitenden Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, Ralf Meister, für seinen Dienst verpflichtet.

Anfang November 2023 hatte die Landessynode Schuegraf einstimmig in das Leitungsamt gewählt (siehe Bericht). In seiner Predigt rief der neue Landesbischof dazu auf, trotz der gegenwärtigen Krisen auf Gottes Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit zu vertrauen. Zudem betonte er, dass sich der christliche Glaube und die Unterstützung von rechtsextremen Parteien gegenseitig ausschließen.

An dem Festgottesdienst wirkten unter anderem der Dekan der Kathedrale von Coventry, John Witcombe, der nigerianische lutherische Erzbischof Musa Panti Filibus, die Vorsitzende des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt aus Schwerin, und Privatdozent Dr. Achim Budde, Direktor der Katholischen Akademie in Bayern, mit.

Auch war die deutsche und internationale Nagelkreuzgemeinschaft gut vertreten: Aus Großbritannien war neben Witcombe auch Dr. Sarah Hills, ehemalige Kanonikerin für Versöhnung an der Kathedrale, angereist. Außerdem nahmen Mitglieder des Vorstands der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft und mit Hannelore Schüller eine Companion der Kathedrale teil. Witcombe überbrachte in seinem Grußwort, das er in deutscher Sprache einleitete, Grüße aus Coventry und von der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft.

Schuegraf ist seit 2011 Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. und seit Mai 2023 zudem „Canon Theologian“ (Ehrenmitglied des Kapitels einer Kathedrale der Kirche von England) der Kathedrale von Coventry. Deshalb hob Witcombe hervor, dass es für ihn ein „bemerkenswertes Zeugnis des Evangeliums der Versöhnung ist, dass ein deutscher lutherischer Geistlicher zum Personal der im Zweiten Weltkrieg zerstörten und 1962 wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry gehört und unseren Dienst in der ganzen Welt vertritt“. Er dankte Schuegraf für seine Freundschaft, seinen Rat und seine Unterstützung bei der gemeinsamen Arbeit für Versöhnung innerhalb der Nagelkreuzgemeinschaft und bei den vielen Reisen, sei es nach England, in die Niederlande, die Vereinigten Staaten von Amerika oder nach Südafrika. Er schloss mit den besten Wünschen für das neue Amt.

Diesen Wünschen schließt sich die Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. an und wünscht ihrem Vorsitzenden Gottes Segen und Rat für seine neue Tätigkeit.

Autorin: Felicitas Weileder