Nachrichten aus der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft.

Dekan John Witcombe: Ein Besuch der St.-Pauls-Kathedrale, Odessa

Foto: Igor Nazarenko

John Witcombe, Dekan von Coventry, hat vom 4. bis 6. Juli 2024 die St.-Pauls-Kathedrale in Odessa/Ukraine besucht, ebenfalls ein Nagelkreuzzentrum. In einer bemerkenswerten Predigt im Sonntagsgottesdienst am 14. Juli 2024 in der Kathedrale von Coventry hat er über den Besuch berichtet und reflektiert. Wir haben den Text für Sie übersetzt und dokumentiert.

Kürzlich war ich zu einer Reise in die Ukraine eingeladen, um die lutherische St.-Pauls-Kathedrale in Odessa, eines unserer Nagelkreuzzentren, zu besuchen. Ich war schon einmal dort, nämlich 2013. Das war mein erstes Jahr als Dekan an der Kathedrale von Coventry, und zugleich das Jahr, in dem die St.-Pauls-Kathedrale Mitglied der Nagelkreuzgemeinschaft wurde. Seinerzeit ging es vor allem um die Anerkennung einer Kirche, die nach dem Ende der Sowjet-Ära renoviert und für Gottesdienste wiedereröffnet worden war. In Wahrheit war mir nicht wirklich klar, welche Bedeutung ihr Beitritt zur Nagelkreuzgemeinschaft haben würde. Aber schon kurz darauf, parallel zur russischen Annexion der Krim im Jahr 2014, brachen in der Ukraine zivile Unruhen aus. Wie wir erfuhren, trugen Gemeindemitglieder der St.-Pauls-Kathedrale das Nagelkreuz an Straßenecken. Um das Kreuz herum versammelten sich Christen vieler verschiedener Kirchen, um für Frieden zu beten.

Das war, bevor im Februar 2022 die Invasion in vollem Umfang begann. Der neue Pastor der Kirche, Alexander Gross, hatte mich gebeten, die Kirche anlässlich ihres 170-jährigen Bestehens schon im letzten Sommer zu besuchen. Das war letztlich nicht möglich. In diesem Sommer erneuerte Arne Bölt die Einladung. Ich hatte ihn zuvor schon in Rostock getroffen, wo er im Nagelkreuzzentrum Ev. Innenstadtgemeinde mitarbeitet. Er ist außerdem Mitglied des Leitungskreises der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft und verbrachte im Rahmen eines Sabbaticals einige Monate in Odessa. Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft hatte die Installation eines Sockels und eines Kunstwerks für das Nagelkreuz in der Kirche unterstützt. Ich war gebeten worden, die Installation zu segnen und ein wenig Zeit mit der Kirche und der Bürgergemeinde zu verbringen.

Anmerkung der Redaktion: Einen Bericht von Arne Bölt über seine Zeit in Odessa und das Kunstwerk finden Sie hier.

„Manchmal besteht unsere Aufgabe als Friedensstifter einfach darin, zu kommen, Solidarität zu zeigen und Zeugnis abzulegen“

Foto: Igor Nazarenko

Es stellte sich heraus, dass es genau der richtige Zeitpunkt für einen Besuch war. Manchmal passieren solche Dinge einfach. Die beiden Töchter von Pastor Gross waren von ihrem Studium in Amerika zurück und konnten übersetzen, und die ganze Familie reiste am nächsten Tag zu einem Jugendlager in die Tschechische Republik. Arne konnte mich vom Flughafen in Moldawien abholen und mich über die Grenze nach Odessa bringen. Mehrere Mitglieder der örtlichen christlichen und zivilen Gemeinschaft waren bei meinem Vortrag anwesend. Am nächsten Tag kam es erneut zu russischen Angriffen im ganzen Land.

Manchmal besteht unsere Aufgabe als Friedensstifter einfach darin, zu kommen, Solidarität zu zeigen und Zeugnis abzulegen. Ich kann zwei Dinge bezeugen:

Erstens, dass das Leben in Odessa auf eine Weise weitergeht, die ganz normal zu sein scheint. Jemand dort sagte: „Wir verbringen nicht unsere ganze Zeit damit, uns einen Weg durch Bombenkrater zu bahnen.“ Wir saßen an einem Sommerabend im Freien und gingen auf der schönen, von Bäumen gesäumten Promenade oberhalb des Hafens spazieren, wir hörten den Straßenmusikern zu und genossen die Atmosphäre.

Zweitens, dass darunter eine ständige existenzielle Bedrohung durch Angriffe liegt und dass an meinem zweiten Abend Sirenen und Explosionsgeräusche in nicht allzu weiter Entfernung meinen Schlaf nahezu unmöglich machten.

„Ich bin kein Held“

Mitten in meinem Vortrag über die Arbeit von Coventry im Bereich Frieden und Versöhnung am Freitagmorgen wurde ich von Vladimir, einem der Organisatoren, unterbrochen. Er teilte mit, dass ein Raketenangriff angekündigt worden sei, und fragte, ob ich in den Luftschutzkeller gehen wolle. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Deshalb fragte ich die anderen, was sie tun würden. „Wir würden einfach hier bleiben“, sagten sie, aber ich müsse selbst entscheiden. Ich sagte, dass ich ebenfalls bleibe. Später, beim Mittagessen, wurde mir klar, wie viel meinen das meinen Gastgebern bedeutete. „Wir müssen hier bleiben“, sagten sie. „Das ist unsere Heimat, hier sind unsere Familien zu Hause. Du müsstest nicht hier sein, trotzdem hast du dich entschieden zu kommen. Das bedeutet uns sehr viel.“

Foto: Igor Nazarenko

Ich bin kein Held. Ich fühlte mich nicht besonders unsicher, als ich in die Ukraine reiste. Ich hatte meinen Gastgeber Arne und Lesya, meine Kontaktperson in Coventry, gefragt, ob es unvernünftig sei, in ein Kriegsgebiet zu fliegen. Auf der Website der Regierung ist es als rote Zone gekennzeichnet, in die man nicht reisen sollte. Aber man hatte mir gesagt, es sei in Ordnung. Und alles, was wir tun, hat ein Risiko. Also treffen wir unsere Entscheidungen auf der Grundlage dessen, was das Richtige ist, und im Gespräch mit den Menschen, die uns am nächsten stehen. Meine Frau Ricarda sagte: „Natürlich musst du hinfahren. Wozu ist die Nagelkreuzgemeinschaft da, wenn nicht, um einer Bitte nachzukommen, bei denen zu sein, die in einen Konflikt verwickelt sind?“

Also flog ich hin, um Zeugnis abzulegen, um bei ihnen zu sein und um ihre Geschichte nach Coventry zu bringen. Aber ich bin auch nach Odessa gereist, um von Coventry Zeugnis abzulegen, von unserer Geschichte, für sie. Was haben wir aus unserer Geschichte zu sagen? Wir haben zwei Dinge zu sagen:

„Wir kämpfen gegen das Böse und müssen uns gegen einen Angreifer verteidigen“

Das eine ist die existentielle Realität, dass Gottes Wille die Versöhnung aller Dinge ist. Es ist die Realität, die Propst Howard, der Leiter der Kathedrale, als sie bombardiert wurde, mit seinen Worten am Weihnachtstag 1940 bezeugte: „Wir versuchen, so schwer es auch sein mag, alle Gedanken an Rache zu verbannen… Wir werden versuchen, eine gütigere, einfachere, Christuskind-ähnlichere Welt in den Tagen nach diesem Konflikt zu schaffen.“ Doch in diesem Zusammenhang einfach von Versöhnung zu sprechen, kann – wie 1938 Chamberlains Aufruf zum Appeasement – wie eine Forderung wirken, dem Aggressor nachzugeben. Und viele in der Ukraine haben das Gefühl oder befürchten, dass der Westen genau das von ihnen verlangt.

Deshalb müssen wir uns auch an das andere erinnern, was Propst Howard in derselben Radiosendung sagte: „Wir rüsten uns, um die gewaltige Aufgabe, die Welt vor Tyrannei und Grausamkeit zu retten, zu Ende zu bringen… wir sind in tapferer Stimmung und können dem Empire ein tapferes Weihnachtsfest wünschen.“ Als ich für diese Predigt recherchierte, fiel mir auf, dass ich diese Zeilen normalerweise aus meinen Vorträgen entfernt habe. Tatsächlich stehen sie im selben Absatz wie seine Ablehnung der Rache. Die Sache ist die: Zwar sprechen wir von der größeren Hoffnung auf Versöhnung und halten an ihr als unserem Endziel fest. Aber wir kämpfen vielleicht gerade jetzt gegen das Böse, kämpfen wirklich, müssen uns gegen einen Angreifer verteidigen – auch wenn wir an der letzten Hoffnung auf Frieden festhalten.

Es war wirklich wichtig, dies in der Ukraine zu sagen. Nicht immer, wenn wir es wollen, können wir Versöhnung erreichen. Meine Gastgeber in Odessa sagten mir, meine schönen Worte – sich um einen Tisch zu versammeln, mutig unsere Unterschiede zu erforschen, Kunst zu nutzen, um uns zusammenzubringen – wären vor 2014, als Russland auf der Krim einmarschierte, vielleicht gut gewesen. Aber jetzt sei etwas anderes gefragt: Frieden mit Gerechtigkeit. Wir können nur mit denjenigen einen wirklichen Dialog führen, die bereit sind, die Wahrheit anzuerkennen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.

Auferstehung, Versöhnung und Verantworung: „Eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen“

„Resurrection“ und „Reconciliation“, Auferstehung und Versöhnung, sind die beiden Schlüsselbegriffe von Coventry. Einer meiner Gastgeber sagte zu mir: „Ich habe ein drittes ‚R‘ für dich: ‚Responsibility‘, Verantwortung.“ Damit traf er einen wichtigen Punkt: Auferstehung, Versöhnung und Verantwortung werden uns helfen, auf dem Weg zu einem gerechten Frieden voranzukommen. So lautet inzwischen auch der dritte Leitsatz unserer Nagelkreuzgemeinschaft: „Building a culture of peace an justice“ – „eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen“.

Autor: John Witcombe, Hochwürdiger Dekan von Coventry

 

„Mir fällt kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre“ – Eine Freiwillige berichtet aus Coventry

Foto: Sabrina Gröschel

Jährlich leisten junge Frauen oder Männer als Freiwillige des Nagelkreuzzentrums Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) einen zwölfmonatigen Friedensdienst an der Kathedrale von Coventry. Die Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. unterstützt diese Arbeit u. a. mit einem jährlichen finanziellen Zuschuss von zurzeit 4.000 €. Seit September 2023 ist Lea Rischmüller aus Hildesheim in Coventry. Vor einiger Zeit hat sie an Aktion Sühnezeichen über ihren Aufenthalt berichtet. Wir freuen uns, ihre ersten Eindrücke auch hier abdrucken zu können.

Ich bin Lea Rischmüller, 19 Jahre alt und mein Weg zu ASF hat eigentlich in Weston-super-Mare angefangen, der englischen Partnerstadt meiner Heimatstadt Hildesheim. Wann immer ich hier jemandem davon erzähle, schaue ich in entsetzte Gesichter – die Stadt ist wohl nicht unbedingt für ihre Schönheit bekannt. Aber dorthin habe ich mit 14 einen Austausch gemacht und hatte seitdem so ein Gefühl, dass ich gerne mal eine längere Zeit in Großbritannien verbringen würde. Auch wenn ich als unabhängige kleine Schwester natürlich gerne behaupten würde, dass ich selbst das Konzept Freiwilligendienst für mich entdeckt hätte, war es wohl meine große Schwester, durch die ich darauf gestoßen bin. Ich interessiere mich außerdem sehr für Politik und Geschichte, also habe ich mich im Herbst letzten Jahres bei mehreren Freiwilligendienstorganisationen beworben, die Projekte in der politischen bzw. historischen Bildungsarbeit und in Großbritannien anbieten. Der Bewerbungsprozess hatte mich schon in ein, zwei mittelschwere persönliche Krisen gestürzt, als im Februar 2023 das Angebot von ASF kam, dass ich mit ihnen einen Freiwilligendienst in der Kathedrale von Coventry in England machen könnte. Das hat sich direkt ziemlich richtig angefühlt, ich habe den unterzeichneten Vertrag abgeschickt und mich gefreut. Mit dem großen Muffensausen musste ich dann hauptsächlich in der Woche vor meiner Ausreise fertig werden. Ich weiß noch genau, wie ich krank in meinem Bett lag und mich selbst ganz wehleidig gefragt habe, warum ich überhaupt jemals nach England wollte, obwohl das ja unendlich weit weg ist; was passiert, wenn ich dort krank werde und sich niemand um mich kümmert; und mir eingeredet habe, dass ich nicht mal ein paar Tage in Coventry überstehen werde. So drehte sich die Gedankenspirale in mir abwärts, aber egal, wie sehr ich mich in meinem vermeintlichen Leid gesuhlt habe, für einen Rückzieher war es eh zu spät. Am 4. September 2023 saß ich letztendlich doch mit meinen zwei Koffern und meinem Rucksack im Zug auf dem Weg zum Vorbereitungsseminar.

Hilltop – Ausgangspunkt der „Coventry Story”

Die Seminartage in Krakau und London waren aufregend und cool, aber vor allem auch zu viel. Zu viele neue Menschen, zu viele Eindrücke und zu viel Realisation, dass dieses Auslandsjahr, was ich mir so lange in meinem Kopf ausgemalt habe, jetzt wirklich passiert. Zehn Tage später sind meine Mitfreiwillige Blanka und ich dann entsprechend übermüdet und überfordert in Coventry angekommen. Dort wurden wir sehr nett von Alice, der Zuständigen für Freiwillige in der Kathedrale, empfangen und in ihrem kleinen roten Fiat einzeln (für drei Menschen und vier Koffer war leider nicht genug Platz) vom Bahnhof zu unserer Wohnung gebracht. Was genau wir in den ersten Tagen gemacht haben, verschwimmt ein bisschen in meinen Erinnerungen, aber wir wurden auf jeden Fall sehr vielen Mitarbeitenden an der Kathedrale vorgestellt und haben versucht, uns in den Gebäuden und Fluren zurechtzufinden. Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie am Tag der offenen Tür an meiner weiterführenden Schule und war mir sehr sicher, dass ich mich regelmäßig verlaufen werde.

Foto: Nosipho Radebe

Rückblickend betrachtet ist es aber gar nicht so kompliziert: Ich verbringe den Großteil meiner Zeit auf „Hilltop“, einem Hügel mitten im Stadtzentrum, auf dem alle Gebäude der Kathedrale liegen. Dort befindet sich auch Dewis Lodge, ein verwinkelter Hausteil, der seit Jahren von immer wechselnden Freiwilligen, Praktikanten, Orgelschülerinnen und jetzt eben Blanka und mir bewohnt wird. Jeden Morgen laufe ich dann links eine schmale Kopfsteinpflastergasse hinauf, die sich vor allem bei Nässe als ernstzunehmende Gefahr für Leib und Leben entpuppt, und sehe als erstes die Ruinen der alten Kathedrale. Die wurde zerstört, als Coventry 1940 von der Luftwaffe zerbombt wurde. Anstatt sie wieder aufzubauen oder die noch stehenden Wände komplett abzureißen wurde direkt an die alten Mauern 1962 eine neue Kathedrale gebaut. Mein liebstes Gebäude ist aber St. Michael’s House direkt nebenan, dort sind die Büros vom Events- und vom CCN-Team, also den Teams, denen ich hauptsächlich zugeteilt bin. Mittwochs und donnerstags arbeite ich mit Alice für die „Community of the Cross of Nails“ (CCN), eine internationale Gemeinschaft christlicher Kirchen, die aus dem Versöhnungsgedanken nach der Zerstörung der alten Kathedrale entstanden ist. Der damalige Propst hat, anstatt Rache zu schwören, angefangen, Kontakt mit anderen zerstörten Städten und Kirchen vorrangig in Deutschland zu knüpfen. Diesen wurde dann irgendwann Kreuze aus Dachnägeln des eingefallenen Kirchendachs als Symbol der Verbundenheit überreicht und somit hat sich die „Coventry Story“, wie sie hier genannt wird, als Inspiration für Friedens- und Versöhnungsarbeit etabliert. Ein großer Teil der Arbeit der CCN ist es, Pilgerreisen nach Coventry anzubieten. In meiner Zeit hier habe ich deswegen schon eine Gruppe aus den Hamburger Hauptkirchen und eine aus verschiedenen Kirchen nahe Karlsruhe mitbetreut, die Seminare und Führungen zur Geschichte der Stadt und zur Versöhnungsarbeit bekommen haben. Ansonsten designe ich an meinen CCN-Tagen zum Beispiel den Newsletter oder bearbeite Anfragen aus Partnergemeinden.

Schottischer Volkstanz unterm Nagelkreuz

Montags, dienstags und freitags bin ich wiederum beim Arts-&-Events-Team, was abgesehen von mir aus Georgia, Molly und Tim besteht. Die drei sind Mitte zwanzig und nutzen die Räume der alten und neuen Kathedrale für alle möglichen Events. Manche sind monatlich angesetzt, wie zum Beispiel Filmscreenings, Yoga-Stunden oder das „Let’s chill: Baby-Hangout“.

Weihnachtliches Fotoshooting mit dem Eventsteam
Foto: Sarah Scouller

Bei letzterem können Eltern mit ihren Babys einen Vormittag lang auf einer großen Spielmatte vor dem Buntglasfenster in der neuen Kathedrale spielen (klang auch nach einem etwas komischen Konzept für mich, aber die Kinder scheinen unter dem Licht vom Fenster und so in der Ruhe der Kirche sehr gut entspannen zu können). Und dann stehen immer wechselnde Veranstaltungen an, die teilweise vom Team selbst und teilweise von externen Veranstaltern ausgerichtet werden. Seit ich hier bin, gab es schon ein Herbstfest in den Ruinen, mehrere klassische Konzerte und Kunstausstellungen, einen großen Flohmarkt, ein Wein-Tasting und vieles mehr. Das Spektrum des Möglichen ist auf jeden Fall breit, was mich anfangs auf jeden Fall positiv überrascht bis ein bisschen verwirrt hat. Dass eine Kirche für so viele Veranstaltungen genutzt wird, die wenig bis gar nichts mit Gott oder Glauben zu tun haben, kannte ich von zuhause nicht in dem Ausmaß. Wobei es auch hier natürlich Grenzen gibt: alles, was mit Halloween oder ähnlich ketzerischen Festen zu tun hat, ist zum Beispiel Tabu. Da jede Woche unterschiedliche Veranstaltungen anstehen, habe ich keinen festen Arbeitsablauf. An Tagen mit Events helfe ich vorher meistens beim Getränke einkaufen, Stühle stellen, dekorieren, Bar aufbauen oder sonstigen Vorbereitungen. Die Arbeit bei den Veranstaltungen an sich besteht dann manchmal aus Tickets kontrollieren, Getränke und Snacks verkaufen und selbst mitmachen, manchmal auch nur aus Toiletten zeigen und im Hintergrund bereitstehen, falls die Veranstalter:innen Probleme haben. Mein Highlight bis jetzt war auf jeden Fall das Step-into-Christmas-Weekend (die Elton-John-Referenz habe ich erst sehr spät verstanden) am ersten Adventswochenende. Freitagabends ging es mit einem Ceilidh los, das ist ein schottisch-irischer Volkstanz. Dafür haben wir die Kathedrale von allen Stühlen befreit, es kam eine traditionelle Band und eine Ansagerin und man hat in Paaren verschiedene Tänze beigebracht bekommen. Wir haben Glühwein und Mince Pies verkauft, immer abwechselnd selbst mitgetanzt und die Stimmung war super.

Verantwortung übernehmen

Am Samstag hatten wir dann einen vollen Tag mit zwei Vorführungen des Weihnachtsfilms „Nativity!“, der in Coventry spielt und teilweise in den Ruinen gedreht wurde, und einem kleinen Weihnachtsmarkt mit lokalen Hersteller:innen von Schmuck, Weihnachtskarten, Deko etc. in der Kathedrale. Darber habe ich mich am meisten gefreut, denn es war mein erstes kleines Projekt, die Stände dafür auszuwählen. Man konnte sich online bewerben, ich habe mir die Bewerbungen angeschaut, die besten ausgewählt und mit den Standbetreiber:innen über alle Details gemailt. Das klingt jetzt vielleicht nicht so weltbewegend, aber das war das erste Mal, dass ich die Hauptverantwortung für etwas hatte und die Stände an dem Tag dann in echt zu sehen, war ein sehr cooles Gefühl.

Step-into-Christmas-Weihnachtsmarkt
Foto: Lea Rischmüller

Was allerdings auch zu meinem Arbeitsalltag gehört, ist, dass ich an Tagen ohne Veranstaltungen noch oft ins Büro komme, ohne zu wissen, was ich heute zu tun habe. Ich gestalte dann Poster, bastele Deko, suche Fotos oder Videos für Social Media raus, recherchiere für anstehende Events und mache (elementar wichtiger Freiwilligen-Job!) Tee für alle. Hin und wieder sitze ich auch nur da, unterhalte mich mit den anderen und warte, bis es wieder etwas für mich zu tun gibt. An manchen Tagen stört mich das gar nicht, an anderen komme ich mir dadurch ein bisschen wie die nutzlose Praktikantin vor. Wahrscheinlich gehört das auch teilweise zur Position einer Freiwilligen dazu, aber ich hoffe trotzdem, dass ich in der Zukunft noch mehr feste Aufgaben bekomme, an denen ich arbeiten kann, ohne auf meine Kolleg:innen angewiesen zu sein.

Generell bin ich aber sehr glücklich mit meinem Projekt. Das Arbeitsumfeld ist total herzlich, ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt, falls ich irgendeine Aufgabe noch nie gemacht habe und mich erstmal einfinden muss und ich freue mich über jede Zeit mit meinen Kolleg:innen. Ob wir nur im Büro sitzen, gemeinsam Mittagspause machen, bei den Events an der Bar stehen, vorher zusammen kochen und essen oder außerhalb der Arbeit etwas unternehmen – ich habe sie einfach sehr gerne um mich und sie sind eine große Stütze für mich.

Heiligabend bei Wildfremden im Wohnzimmer

Das mag bis jetzt nicht so rüberkommen, aber ich gebe mir tatsächlich Mühe, mir auch ein bisschen ein Leben außerhalb der Kathedrale aufzubauen. Jeden Donnerstagabend singe ich daher im Chor der Warwick Universität und fühle mich seit der ersten Probe sehr wohl dort. Die Gruppe besteht zum einen aus Rentner:innen, mit denen ich in den Pausen sehr gerne einen kleinen Plausch halte, und zum anderen natürlich aus Student:innen, von denen manche mehr und manche weniger offen für Menschen von außerhalb sind. Ich gebe auf jeden Fall mein Bestes, aufgeschlossen zu sein, auf die Leute um mich herum zuzugehen und zum Beispiel im Fall von Amélie hat das sehr gut geklappt.

Foto: Lea Rischmüller

Sie studiert im ersten Semester englische Literatur, singt genauso wie ich 2. Sopran, und seitdem wir das erste Mal in einer Probe nebeneinandersaßen, verbringen wir auch außerhalb des Chores sehr viel Zeit zusammen. Irgendwann hat sie mich sogar eingeladen, über Weihnachten zu ihr und ihrer Familie nach Worcester zu kommen und genau das ist jetzt der Plan. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass ich nicht wie meine Mitfreiwilligen für die Feiertage nach Hause fliegen, sondern das so als Teil meines Auslandsjahres hier erleben will, und besser als bei der Familie einer Freundin könnte ich es mir nicht vorstellen. Ob ich das immer noch so cool finde, wenn ich Heiligabend bei wildfremden Eltern im Wohnzimmer sitze, weiß ich nicht, aber das werde ich jetzt wohl herausfinden.

„Get in the bin!“ und Pride-Ohrringe

Ein zusätzlicher Punkt, der für mein Auslandsjahr hier gesprochen hat, war, dass ich Lust hatte, den ganzen Tag eine andere Sprache, am liebsten Englisch, zu sprechen. Über zu wenig Englisch kann ich mich hier auf jeden Fall nicht beschweren, ich kann mich ja anders als andere ASF-Freiwillige nicht mal mit meiner Mitfreiwilligen, die aus Polen kommt, auf Deutsch unterhalten. Dementsprechend denke ich im Alltag gar nicht mehr so viel über den Sprachenunterschied nach und gebe einfach mein Bestes, mich verständlich auszudrücken. Nur wenn jemand beispielsweise ironische Kommentare macht oder meine Kolleg:innen in schnelle Schlagabtausche über irgendwelche englischen Serien oder Bücher geraten, muss ich mein wissendes Gesicht auflegen, ohne wirklich etwas zu verstehen. Dann sitze ich daneben, versuche nachzuvollziehen, was sie meinen und höre manchmal auch nur sehr interessiert zu, welche Sprüche und Redewendungen sie so benutzen. Einer meiner Favoriten stammt aus Georgias Wortschatz. Wenn sie geschockt von dem ist, was ihr jemand erzählt oder etwas gar nicht glauben kann, kommt immer ein sehr empörtes „get in the bin!“ von ihr. Ich würde an der Stelle vielleicht mit „als ob“ oder „das kann doch nicht wahr sein“ reagieren, aber „get in the bin“ trifft das Gefühl viel besser, finde ich. Einen weiteren Favoriten habe ich das erste Mal bei Mary gehört. Sie ist hier Kanonikerin, trägt Pride-Ohrringe, hat ein eigenes Andachtsformat eingeführt, in dem sie sich dem christlichen Glauben über Kunst und Musik nähert und ist einfach die coolste Geistliche, die ich je getroffen habe. Wenn ich eine Aufgabe für sie erledige oder ihr einen Gefallen tue, bedankt sie sich manchmal nicht nur, sondern sagt „You’re a star!“. Und was soll ich sagen, wenn Mary das zu mir sagt, fühle ich mich jedes Mal wie die wertvollste Person der Welt.

Erster Besuch von zuhause
Foto: Nosipho Radebe

Ich hoffe, es kommt rüber, dass ich hier eine sehr gute Zeit habe und mich grundsätzlich wirklich wohl fühle. Trotzdem gibt es auch regelmäßig Tage, an denen ich mich sehr allein fühle, vor allem wenn ich gerade lange mit jemandem zuhause telefoniert habe oder nachdem meine beste Freundin und ihre Mutter, mit denen ich eine sehr tolle Woche hier hatte, wieder abgereist waren. Ich fühle mich dann räumlich, aber auch emotional so weit weg von allen, die ich vermisse, dass ich richtig traurig werde. Wahrscheinlich wird mich dieses Gefühl auch in den nächsten Monaten weiter begleiten, faktisch bin ich ja auch ziemlich weit weg und ziemlich allein.

Immer wenn ich allerdings darüber nachdenke, ob es die richtige Entscheidung war, nach Coventry zu kommen, fällt mir kein Ort ein, an dem ich gerade lieber wäre. Es fühlt sich total richtig an, hier zu sein und ich bin sehr froh, dass sich die krank im Bett liegende und panikschiebende Lea Ende August nicht dazu entschieden hat, die Idee mit dem Freiwilligendienst in England doch noch spontan über Bord zu werfen!

Ich möchte mich abschließend beim Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD), bei der Evangelischen Landeskirche Hannovers, bei der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. und bei der Kathedrale von Coventry für die Unterstützung meines Dienstes bedanken. Natürlich geht auch ein sehr großes Danke an meine ASF-Pat:innen – und Chapeau, wenn Sie nicht schon nach der Hälfte dieses Berichtes das Lesen aufgegeben haben!

Autorin: Lea Rischmüller

CCN-Sunday 2024

König Charles III. legt Kranz am Mahnmal St. Nikolai nieder

Bürgermeister Peter Tschentscher (links) und König Charles III. (rechts) während der Gedenkveranstaltung am Mahnmal St. Nikolai. Im Hintergrund Eva-Maria Tschentscher (links) und Königin-Gemahlin Camilla (mitte). Foto der Senatskanzlei Hamburg

König Charles III. und seine Frau Königin-Gemahlin Camilla haben am 31. März 2023 auf Ihrer Deutschlandreise auch das Mahnmal St. Nikolai in Hamburg besucht und einen Kranz zum Gedenken an die Opfer der alliierten Luftangriffe auf Hamburg vor achtzig Jahren niedergelegt.

Begleitet wurde das Königspaar von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau Elke Büdenbender sowie dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher und seiner Frau Eva-Maria Tschentscher.
Die Gäste erhielten einen würdigen Empfang durch die Geschäftsführung des Förderkreises Mahnmal St. Nikolai e. V., Dr. Nele Fahnenbruck, sowie durch den Ersten Vorsitzenden des Vorstands, Dr. Martin Vetter. Nachdem der Hamburger Knabenchor gesungen hatte und die „Versöhnungslitanei von Coventry“ durch Bischöfin Kirsten Fehrs verlesen wurde, legten die Gäste Kränze und Blumen auf dem Platz des Mahnmals nieder. Anschließend begrüßten die Gäste auch die versammelten Vorstandsmitglieder und Mitarbeitenden des Mahnmals St. Nikolai und lauschten zum krönenden Abschluss Werner Lamm am Carillon.
Der Besuch des britischen Königs, des Bundespräsidenten und des Ersten Bürgermeisters anlässlich des Gedenkens an die Opfer der vor knapp achtzig Jahren als „Operation Gomorrha“ bekannten Bombardierungen Hamburgs ist eine ehrenvolle Würdigung – für das Mahnmal, aber auch für die Gedenk- und Erinnerungsarbeit, die von den vielen haupt- und ehrenamtlichen Menschen um das Mahnmal St. Nikolai in Hamburg geleistet wird.

Treffen der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft 2023

Treffen der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft, 24.-28. Mai 2023 Auf was können Sie sich freuen? Vom 24. bis 28. Mai 2023 kommen Vertreterinnen und Vertreter aus Nagelkreuzzentren weltweit zu einer Konferenz und […]

Nagelkreuzsonntag – Gottesdienst aus Südafrika

Am 25. September 2022 ist es wieder so weit: Die weltweite Nagelkreuzgemeinschaft feiert Nagelkreuzsonntag. Dieses Jahr werden die Nagelkreuzzentren Südafrikas den Gottesdienst vorbereiten. Er wird ganz im Zeichen des jüngst […]

Gedenken an die Zerstörung von Lidice und Ležáky Juni 1942

Auch wenn gegenwärtig wohl die meisten Gedanken um den Krieg in der Ukraine und die Angst um dessen Ausweitung kreisen, denken wir schon seit einiger Zeit und immer wieder an […]

Es herrscht Krieg mitten in Europa

In den letzten Wochen hatte Dean John Witcombe im „Thought for the Week“ (Gedanken der Woche) noch auf Frieden in der Ukraine gehofft und für ihn gebetet. Doch mittlerweile herrscht […]

Nagelkreuzzentren beten für Frieden in der Ukraine

In vielen deutschen Nagelkreuzzentren finden in diesen Tagen Friedensgebete statt. Einige davon wollen wir auf der Webseite mit diesem Beitrag dokumentieren und anregen, ebenfalls Fürbitte für den Frieden in der […]

Gebet für Nagelkreuzzentrum in Odessa

Die Kathedrale von Coventry ruft auf zum Friedensgebet in Zeiten des Konflikts: Seit 2013 ist die lutherische Kirchengemeinde St. Paul in Odessa Teil der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft. St. Paul war eine […]