Drei neue Nagelkreuzzentren in sechs Tagen

Seit dem 26. Oktober stehen drei weitere Nagelkreuze in Deutschland. Foto: Karsten Socher

Eine Woche, drei Orte, drei Gottesdienste – und drei neue Nagelkreuze. Ende Oktober ist die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft sichtbar gewachsen: Kassel, Frankfurt am Main und Stutensee-Weingarten gehören nun zu unserem weltweiten Versöhnungsnetzwerk. Canon Kate Massey und Richard Parker brachten die Kreuze persönlich von Coventry nach Deutschland. Die Liturgie der Übergabe war an allen drei Orten dieselbe. Alles andere nicht. In Kassel fiel die Aufnahme mit dem Jahrestag der Bombennacht von 1943 zusammen. In Frankfurt fand sie in der Alten Nikolaikirche am Römerberg statt, wenige Schritte von Paulskirche und Römer entfernt. In Stutensee-Weingarten stand die Erinnerung an die Bombardierung vom 2. Februar 1945 im Mittelpunkt, bei der Menschen in den Dörfern ebenso ums Leben kamen wie eine britische Bomberbesatzung. Entsprechend der Geschichte der Orte und Fragen, die dort gestellt werden, unterschieden sich Musik, Gebete und Worte. Was die drei Gottesdienste verband, war der öffentliche Empfang des Nagelkreuzes, verbunden mit einem feierlichen und würdigen Bekenntnis zu Frieden und Versöhnung.

Gottesdienst in der Martinskirche Kassel. Foto: Karsten Socher

Kassel: Aufnahme am Jahrestag der Bombennacht

Am 22. Oktober erhielt die Martinskirche Kassel ihr Nagelkreuz – am Jahrestag der Bombennacht von 1943, in der über 10.000 Menschen starben. Die Kirche wurde damals schwer getroffen, zerbrach mit der Stadt und wurde später zum zentralen Erinnerungsort. Der Tag der Übergabe verband so Vergangenheit und Gegenwart auf besondere Weise.

Der ökumenische Gottesdienst war reich an Musik, kunstvoll mitgestaltet von der Kantorei St. Martin unter der Leitung von Eckhard Manz. Johannes Brahms’ Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“ ließ die Klage Hiobs hörbar werden. Wolf Biermanns „Wann ist denn endlich Frieden?“ stellte die Frage nach dem Ende der Gewalt mit scharfem Nachdruck. Choräle wie „Die Nacht ist vorgedrungen“ und „Freunde, dass der Mandelzweig“ gaben der Gemeinde Stimme für Hoffnung und Zukunft.

Kantorei St. Martin Kassel. Foto: Karsten Socher

Viele Mitwirkende prägten die Feier: Bischöfin Beate Hofmann, Stadtdekan Michael Glöckner, Pastoralreferent Stefan Ahr, Kirchenrat Hans Helmut Horn und Oberbürgermeister Sven Schoeller. Grußworte kamen von der Kulturplattform St. Martin und von der Nagelkreuzgemeinschaft. Die Predigt hielt Kate Massey.

Unter der Überschrift „Unser Weg nach Coventry“ sprach die Gemeinde selbst: Rafael Gleichmann, ein Konfirmand, erzählte von Streit und Versöhnung im Alltag. Prof. Ingrid Lübke, Kirchenvorsteherin, erinnerte an ihre Nachkriegskindheit und an Erfahrungen der Versöhnung mit Frankreich. Zwei Generationen, zwei Stimmen – beide machten deutlich, dass das Nagelkreuz nicht nur Zeichen, sondern Auftrag ist. Ihre Gedanken können Sie hier nachlesen.

Besonderer Bestandteil des Gottesdienstes war das Gedenken an die Bombennacht. Die Osanna-Glocke, die 1943 zerbrach und später neu gegossen wurde, erklang. Während ihres Läutens hielt die Gemeinde in Stille inne. Dass sie heute wieder läutet, ist ein starkes Zeichen: Zerstörung hat nicht das letzte Wort. Wie in Coventry wird Erinnerung hier selbst zum Beginn neuer Hoffnung.

Kate Massey, Antje Biller, Andrea Braunberger-Myers und Richard Parker (v.l.n.r.) in Frankfurt. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Die Martinskirche knüpft an das Erinnern auch Konsequenzen: Ökumenische und interreligiöse Gottesdienste, Engagement im Kirchenasyl, ein „Tisch für alle“ auf dem Martinsplatz, Veranstaltungen zum Tod von Walter Lübcke.

Frankfurt: Ein Nagelkreuz am Römerberg

Zwei Tage später wurde die Evangelische Sankt-Pauls-Gemeinde Frankfurt am Main in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Ort der Feier war die Alte Nikolaikirche am Römerberg – ein Platz, an dem sich deutsche Geschichte wie unter einem Brennglas bündelt. 1933 wurden hier Bücher verbrannt, in den Bombennächten brannte die Altstadt, gleich nebenan die Paulskirche, Symbol der Demokratie. Inmitten dieses Gefüges steht die Nikolaikirche – seit Jahren täglich geöffnet, eine offene Stadtkirche im Strom der Stadt.

Die Liturgie nahm diesen Ort ernst. Die Versöhnungslitanei von Coventry wurde gebetet, wo Frankfurt seine eigenen Schuldgeschichten kennt. In ihrer Predigt spannte Pfarrerin Andrea Braunberger-Myers den Bogen vom einfachen Nagel – der verletzen kann, aber auch verbindet und trägt – zur Geschichte Coventrys und zu Jesaja 55: Gottes Wort kommt nicht leer zurück, sondern hat den Auftrag, Frieden und Versöhnung zu schaffen. Daraus leitete sie für die Evangelische Sankt-Pauls-Gemeinde Frankfurt am Main einen klaren Auftrag hier am Römerberg ab: Schuld benennen, Antisemitismus und Rassismus entgegentreten, für Menschenrechte einstehen und die demokratische Verantwortung der Paulskirche wachhalten. Den Wortlaut der Predigt können Sie hier nachlesen.“

Auch die Musik setzte Akzente. Charles Wesleys „Jesus, lover of my soul” aus dem 18. Jahrhundert sang von Zuflucht im Sturm – ein Bild, das sich in einer Stadt, die Krieg und Zerstörung erlebt hat, sofort erschließt. Am Ende erklang John Rutters „The Lord bless you and keep you”. Der alte Segensspruch Israels, neu vertont, wurde zu einer Zusage, die über den Gottesdienst hinausreichte. Gesungen wurde in deutscher und englischer Sprache – auch das ein starkes Symbol für die Verbundenheit über Völker und Nationen hinweg.

In Stutensee-Weingarten wurden gleich zwei Nagelkreuze übergeben. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Mit dem Kreuz von Coventry wurde die Sankt-Pauls-Gemeinde in dem bestätigt, was hier längst geschieht: Erinnerung an die Bombennächte und die verbrannten Bücher, Stolpersteinführungen, das Projekt „Beim Namen nennen“, das die Toten im Mittelmeer ins Gedächtnis ruft. Offene Kirche, tägliche Andachten, musikalische Vespern – mitten in der Stadt, im Gespräch mit ihrer Geschichte.

Stutensee-Weingarten: Zwei Kreuze für eine Region

Am 26. Oktober schließlich nahm der Evangelische Kooperationsraum Stutensee-Weingarten das Nagelkreuz in Empfang. Gefeiert wurde in der Michaeliskirche in Blankenloch, einem der Zentren des Zusammenschlusses mehrerer Gemeinden nördlich von Karlsruhe. Canon Kate Massey übergab gleich zwei Kreuze: eines bleibt in Blankenloch, das andere geht als Wandernagelkreuz nach Staffort.

Die Geschichte, die diesen Ort prägt, reicht zurück in die Nacht vom 2. Februar 1945. Eigentlich galt der Angriff Karlsruhe, doch durch verwehte Markierungen trafen die Bomben Staffort-Büchenau und umliegende Dörfer. Menschen starben, Häuser brannten, auch eine britische Bomberbesatzung kam ums Leben. Bis heute erinnert eine Gedenktafel an sie – Ausdruck einer Haltung, die nicht nur das eigene Leid im Blick behält, sondern auch das der anderen.

Gottesdienst in der Alten Nikolaikirche in Frankfurt a. M. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Diese Bereitschaft, an die ganze Geschichte zu erinnern, ist zum Markenzeichen der Gemeinden geworden. Sie pflegen seit Jahren Kontakte nach England, haben Pilgerfahrten nach Coventry unternommen und den Austausch mit Stafford gesucht. Versöhnung bleibt hier nicht abstrakt, sondern konkret: in Begegnungen über Grenzen hinweg, in Gedenkfeiern, die Opfer und Täter gleichermaßen benennen.

Darum war es folgerichtig, dass Stutensee-Weingarten ein Nagelkreuz erhielt. Pfarrer Holger Müller hatte die Verbindung zur Gemeinschaft schon länger als Einzelmitglied getragen. Nun ist aus der persönlichen Beziehung ein gemeinsames Zeichen geworden, das die ganze Region einschließt. Dass ein Kreuz bleibt und das andere wandert, macht sichtbar: Versöhnung ist nicht an einzelne Orte gebunden, sondern ein Projekt vieler Gruppen und Gemeinden.

Wachsende Gemeinschaft

Canon Kate Massey aus Coventry. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Mit Kassel, Frankfurt und Stutensee-Weingarten sind in nur einer Woche drei neue Nagelkreuzzentren hinzugekommen; in den vergangenen zwei Jahren waren es insgesamt neun. Das zeigt, wie lebendig die Botschaft des Nagelkreuzes in Deutschland ist – und wie vielfältig die Orte sind, an denen sie Gestalt gewinnt: von der Großstadtkirche bis zum Dorf, von historischen Erinnerungsstätten bis zu Gemeinden, die im Alltag Türen offenhalten.

Dass diese Orte nun Teil der Gemeinschaft sind, ist das Werk vieler: Pfarrerinnen und Kirchenvorsteher, Chöre und Ehrenamtliche, Gemeindeglieder, die Texte vorbereitet, Kerzen entzündet und Lieder gesungen haben. Sie alle tragen die Überzeugung, dass Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben dürfen – wie die vielen Menschen weltweit, die mit einem Nagelkreuz in ihren Kirchen und Herzen für Frieden und Versöhnung eintreten.

Auf der Mitgliederversammlung im November in Münster wird es Gelegenheit geben, die neuen Zentren kennenzulernen und erste persönliche Beziehungen mit den „Neuen“ zu knüpfen.

Autoren: Niels Faßbender, Christian Roß

 

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