Was Versöhnung bedeutet – zwei Stimmen aus Kassel

Rafael Gleichmann. Foto: Karsten Socher

Zwei Stimmen, zwei Generationen, zwei Blickwinkel: Der eine erzählt aus der Erfahrung des Alltags – von Streit, Missverständnissen und der manchmal schwierigen Suche nach einem neuen Anfang. Die andere spricht mit der Erinnerung an Krieg und Zerstörung und mit der Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Bei der Nagelkreuzübergabe in Kassel berichteten Konfirmand Rafael Gleichmann und Kirchenvorstandsmitglied Prof. Ingrid Lübke im Gedenk- und Festgottesdienst, was sie sich unter Versöhnung vorstellen. Gemeinsam zeigen beide Texte, dass Versöhnung weder abstrakt noch fern ist, sondern mitten in unserem Leben geschieht – heute, hier und jetzt. Anschließend sind ihre Texte dokumentiert. Einen Bericht über die Nagelkreuzübergabe finden Sie hier.

Rafael Gleichmann

Streiten mag ich gar nicht und ich bin auch nicht der Typ dafür. Aber manchmal passiert es einfach. Ein falsches Wort, oder ein blöder Blick – und schon ist schlechte Stimmung. Das ist nicht schön und ich fühle mich auch nicht gut dabei.

Dann möchte man sich wieder vertragen, aber das ist manchmal ganz schön schwierig. Die Sichtweisen und Standpunkte sind dann vielleicht verschieden, man muss aber zueinander finden oder Kompromisse schließen. Dazu muss man miteinander reden. Oder manchmal redet man eine gewisse Zeit nicht miteinander und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus. Das Problem ist gar nicht mehr so wichtig und man kann es mit wenigen Sätzen klären.

Versöhnung heißt für mich, den ersten Schritt zu machen – oder wenigstens offen zu sein, wenn der andere ihn macht. Das ist gar nicht so einfach. Ich glaube, Versöhnung bedeutet nicht, dass man alles vergisst oder so tut, als wäre nichts passiert. Es heißt eher, dass man bereit ist zuzuhören, zu verstehen und loszulassen. Und vielleicht lernt man dabei sogar etwas über sich selbst. Zum Beispiel, dass man Fehler zugeben kann. Oder dass man jemanden wirklich gern hat – trotz allem.

Ich finde, die Welt wäre viel besser, wenn mehr Menschen sich versöhnen könnten. So wie Kinder und Jugendliche könnten auch Erwachsene, Religionen und sogar Länder aufeinander zugehen. Man muss nicht beste Freunde werden, aber dem Gegenüber respektvoll zu begegnen, wäre gut für alle Menschen. Es gäbe weniger Krieg und mehr Frieden.

Versöhnung ist kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil – es zeigt Stärke. Und vielleicht auch ein bisschen Mut.

Ingrid Lübke. Foto: Karsten Socher

Ingrid Lübke

Trotz Zerstörung der Kathedrale und vieler Toter und Verletzter starteten Menschen in Coventry nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zeichen der Versöhnung in Zusammenarbeit mit Kirchen, Schulen und Städten in vielen Ländern Europas und weltweit. Soll Versöhnung immer erst nach kriegerischen und gewalttätigen Auseinandersetzungen ein Thema sein? Nein. Ich plädiere für Versöhnung heute und jetzt.

Als mitten im Zweiten Weltkrieg Geborene habe ich konkret erfahren, was Krieg für uns Menschen bedeutet. Diese Erlebnisse ließen mich zur Einsicht kommen, dass Konflikte nicht mit Gewalt, sondern in Diskussionen, Verhandlungen und mit Kompromissen ausgetragen werden können und müssen. In den 1950er Jahren konnte ich als Jugendliche an Projekten der Versöhnung in Frankreich mitwirken. So konnte – leider erst über den Gräbern – die Ideologie überwunden werden, und es entstand eine Basis für ein friedlicheres Europa mit vielen versöhnten Staaten und Kulturen.

Unterschiedliche Positionen von Menschen, Machthabern oder Staaten und Institutionen führen immer wieder zu Konflikten, denen wir uns nicht entziehen dürfen. Als Christin setze ich mich dafür ein, den Konflikten nicht konfliktscheu aus dem Wege zu gehen. Wir sollten jedoch dazu beitragen, sie im Austausch der Meinungen und mit gegenseitigem Respekt für unterschiedliche Positionen und Forderungen, ohne Gewalt, im Sinne der Bergpredigt zu lösen. Es ist oft nicht leicht, dem „Schwarz-Weiß-Denken“ oder der vereinfachenden Zuordnung des Konflikts auf einen Sündenbock zu begegnen. Aber Konflikte mit militärischer Gewalt lösen zu wollen, diese Strategie lehne ich ab, weil sie mit der Tötung unzähliger, oft unschuldiger Menschen verbunden ist und bei der atomaren Bewaffnung zu unvorhersehbaren Zerstörungen auf unserem Planeten führt.

Nicht militärische Aufrüstung, sondern Friedensarbeit zum Erhalt guter Lebensbedingungen für alle Menschen auf unserer in ihrer Existenz bedrohten Erde – das bewegt meinen Glauben, meine Hoffnung und mein Handeln. Im Sinne der Nagelkreuzgemeinschaft gibt es für Versöhnung und Frieden immer wieder neue Anstöße, in Kassel und weltweit.