Ein Nagel, der hält – Predigt zur Aufnahme der Sankt-Pauls-Gemeinde Frankfurt am Main in die Nagelkreuzgemeinschaft

Foto: Nagelkreuzgemeinschaft
Am 24. Oktober 2025 hat Pfarrerin Andrea Braunberger-Myers in der Alten Nikolaikirche am Römerberg, Frankfurt am Main, im Festgottesdienst zur Übergabe des Nagelkreuzes von Coventry an die Evangelische Sankt-Pauls-Gemeinde gepredigt. Ausgangspunkt der Predigt ist ein einfacher Nagel: ein Gegenstand, der verletzen kann – und der, einmal eingeschlagen, trägt, hält und verbindet. Von dort schlägt die Predigt den Bogen nach Coventry 1940, zur Entstehung des Nagelkreuzes und zur Bitte „Vater, vergib“, bis hin zu Jesaja 55. Sie versteht die Aufnahme in die Nagelkreuzgemeinschaft als öffentlich ausgesprochene Verpflichtung: zur Erinnerung an die Kriege, die von Deutschland ausgingen, zum Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus heute, zur Verteidigung der Menschenwürde und zur Wachhaltung demokratischer Verantwortung – in unmittelbarer Nähe der Paulskirche. Eine Zusammenfassung der Gottesdienste in Frankfurt, Kassel und Stutensee-Weingarten und Hintergründe zur Aufnahme der neuen Nagelkreuzzentren finden Sie [klick-hier] auf unserer Seite. Nachfolgend dokumentieren wir die Predigt.
Dear Canon Kate Massey, dear Richard Parker, our honored guests from Coventry,
liebe Gäste aus der Nagelkreuzgemeinschaft, und alle zusammen: Liebe Gemeinde!
Ich habe Ihnen meine Nägelbox mitgebracht. Normalerweise steht sie im Schrank bei Hammer und Zange und Schraubenzieher. Eine kleine Kiste voller Nägel, alle aus Metall, länger, kürzer, dicker, dünner – je nachdem, was man halt so braucht, um etwas festzunageln. Manche Nägel sind sehr spitz, andere etwas stumpfer. Alle noch unbenutzt, unverbogen und ohne Rost. Wenn ich einen Nagel in der Hand halte, weiß ich: Das ist ein Nagel, weil ein Nagel eben so aussieht – kleiner metallener Kopf, langer Schaft. Aber richtig Sinn macht ein Nagel erst, wenn er benutzt wird, wenn man ihn in die Hand nimmt und mit dem Hammer in die Wand schlägt. Möglichst ohne sich zu verletzten. Denn so ein Hammerschlag auf den Daumen oder Zeigefinger tut höllisch weh. Überhaupt, an so einem unscheinbaren Nagel kann man sich schwer verletzen: Sind Sie schon einmal barfuß in einen Nagel getreten? Oder haben sich einen Nagel versehentlich in die Hand getrieben? Oder Sie haben sich an einem rostigen alten Nagel gerissen und eine Blutvergiftung riskiert? Das sind Verletzungen, mit denen man lange zu tun hat. So ein Nagel kann ein gefährliches Instrument, ja eine Waffe sein.
Ist der Nagel aber erst einmal in die Wand oder die Tür oder ein Brett geschlagen, dann ist er ein unverzichtbarer Bestandteil des Ganzen. Ein Nagel mit Öse befestigt das Bild an der Wand. Ein oder mehrere Nägel halten das Regal oder den Schrank oder das Bett zusammen. Am Nagel in der Werkstatt hängt der Gartenkittel oder die Säge oder der Wasserschlauch. So ein Nagel ist deshalb seit Jahrtausenden ein äußerst nützliches Utensil, das Halt gibt, zusammenhält und für Ordnung sorgt.
14./15. November 1940: Die deutsche Wehrmacht bombardiert das mittelenglische Coventry. Weite Teile der historischen Altstadt fallen den Angriffen zum Opfer. Auch die gotische Kathedrale St. Michael. Unmittelbar nach der Zerstörung von Stadt und Kathedrale setzt das Domkapitel in Coventry auf Versöhnung statt Vergeltung. Das hätte auch anders kommen können: Bis heute rufen leider auch Geistliche aller Religionen zum Krieg auf, um Rache auszuüben und nationale oder religiöse Interessen zu verfolgen.
Anders 1940 an der Kathedrale von Coventry: Aus drei mittelalterlichen Zimmermannsnägeln, die verbrannt im Schutt der zerstörten Ruine gefunden wurden, formte man ein Kreuz – das ursprüngliche Nagelkreuz von Coventry, als Symbol der Hoffnung und des Glaubens in Unheilszeiten. Denn das ist es schon immer gewesen, das Kreuz, Symbol der Hoffnung und des Glaubens! Seit jenem Tag in Jerusalem, als Jesus Christus an einem Kreuz starb und zumindest einer der Evangelisten, Lukas, als letzte Worte Jesu überliefert (Lukas 23,14): „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Und mehr noch, viel mehr: Drei Tage später erstand Jesus von den Toten und gehört seitdem zu den Lebenden. Das sprach sich erst langsam, tastend, zögernd herum, dann immer schneller und kräftiger: Jesus lebt und wir, die wir zu ihm gehören, mit ihm! Das Kreuz wurde das Symbol der Christenheit, weltweit bekannt und erkannt. Wenn tagtäglich Touristen unsere Alte Nikolaikirche durch die offene Tür betreten, erkennen sie mit einem Blick zum Altar, wo sie sind, nämlich in einer christlichen Kirche. Das Kreuz zeigt es ihnen.
Dompropst Howard ließ 1940 die Worte Father, forgive („Vater, vergib“) in die Ruinen des gotischen Chores der Kathedrale einmeißeln. „Vater, vergib“: Diese Worte stellen heute den Kern der Versöhnungslitanei von Coventry dar, auf die sich alle Mitglieder der Nagelkreuzgemeinschaft verpflichtet haben – und wir als Paulsgemeinde ab heute auch. Wir haben das Gebet eben schon gehört und mitgebetet. Es ist zukünftig in der Nagelkreuzecke an der Südwestseite unserer Kirche nachzulesen und gerne mitzubeten.
Jedes Kreuz, auch das Nagelkreuz, orientiert sich am Kreuz Jesu Christi. Der Gedanke der Vergebung und der Versöhnung im Namen Gottes aber stammt aus der hebräischen Bibel und ist viele hundert Jahre älter, nachzulesen etwa im Buch des Propheten Jesaja – Jesaja 55,6-13: „Suchet den Herrn, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt sie wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem Herrn soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.“ (Lutherübersetzung 2017)
Eine große Friedensvision, die die ganze Welt umfasst – auch die Ukraine, den Sudan und Israel und Palästina und ihre Nachbarländer! Eine Welt, in der die Waffen endgültig schweigen, in der alle genug zum Leben haben, in der die Natur buchstäblich jubelt vor Freude und die Menschen sich vom Wort Gottes ernähren. Genau darum geht es in der Nagelkreuzgemeinschaft, die inzwischen weltweit über 300 Zentren zählt und in dieser Woche in Deutschland um drei weitere Zentren wächst. Und darauf wollen wir uns verpflichten, wenn wir heute als St. Paulsgemeinde in Frankfurt der Nagelkreuzgemeinschaft beitreten: auf ein ehrliches Gedenken in Frankfurt an die Kriege, die Deutschland verursacht und blutig gegen andere geführt hat, auf das Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus heute, auf den mitfühlenden Blick gegenüber leidenden Menschen, auf Standhaftigkeit, wenn Menschenrechte verletzt werden, auf das ständige Erinnern an die schon 1848 in unserer Frankfurter Paulskirche formulierten demokratischen Regeln des Zusammenlebens.
Deshalb: Vater, vergib!
Also nicht um der eigenen Ehre willen, sondern „zum Ruhm und zur Ehre Gottes, und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.“ (Jesaja 55, 13) Das sog. Stuttgarter Schuldbekenntnis, dessen 80. Jahrestag wir am letzten Wochenende begangen haben, war 1945 ein erster und aus heutiger Sicht unzureichender Versuch, das Versagen der Ev. Kirche im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu benennen und zu bekennen. Der erste Kirchenpräsident unserer Ev. Landeskirche in Hessen und Nassau, Martin Niemöller, hat daran mitgewirkt. Er hat auch diese Alte Nikolaikirche nach ihrer Sanierung von Kriegsschäden im Januar 1949 wieder eingeweiht. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis heißt es u.a.: „…wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Und ja, das alles müssen wir leider bis heute lernen, als Christen und Christinnen in Frankfurt und in Deutschland und in der weiten Welt: genauer hinsehen, Schuld mutiger bekennen, treuer und stetiger beten, fröhlicher glauben, vorbehaltloser lieben.
Deshalb: Vater, vergib!
Das Nagelkreuz von Coventry soll uns hier an diesem Ort ab jetzt stetige Erinnerung und Mahnung, auch Aufforderung dazu sein, für heutige und zukünftige Generationen. Daran machen wir uns fest wie an einem professionell in die Wand geschlagenen Nagel, der Halt gibt und ordnet und zusammenhält. Und Gottes Wort in Jesus Christus, das wir hören und beten und tun, wird nicht leer zu uns zurückkommen. Sondern ihm wird gelingen, wozu Gott es gesandt hat, zu Frieden und Versöhnung.
Deshalb: Vater, vergib!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Autorin: Andrea Braunberger-Myers, Pfarrerin


