80. Gedenktag der Bombardierung Coventrys
epd-Interview mit dem Vorsitzenden der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft
Aus Anlass des 80. Jahrestages der Zerstörung der Kathedrale von Coventry hat Dirk Baas vom Evangelischen Pressedienst (epd) ein Interview mit dem Vorsitzenden der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft, Dr. Oliver Schuegraf, geführt. Eine Kurzform des Interviews wurde am 14. November im epd veröffentlicht. Der epd war so freundlich, der Nagelkreuzgemeinschaft das volle Interview zur Verfügung zu stellen.
Friede, Gerechtigkeit und Versöhnung zusammenbringen
Von Dirk Baas (epd)
75 Jahre nach Kriegsende ist die Zahl der deutschen Nagelkreuzzentren auf 72 gewachsen. Welchen Herausforderungen sie sich im Ringen um Frieden und Versöhnung künftig stellen müssen, berichtet der Vorsitzende Oliver Schuegraf im epd-Interview.
Frankfurt a.M. (epd). Oliver Schuegraf, promovierter Theologe und seit 2011 Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland, bekennt: „Man sitzt oft zwischen den Stühlen, wenn man extremistische und gewalttreibende Positionen herausfordern und Friede, Gerechtigkeit und Versöhnung zusammenbringen will.“ Doch das weltweite Engagement lohne sich. Und: „Nichts zu tun, ist ja auch keine Alternative“.
epd: Herr Dr. Schuegraf, werfen wir zunächst einen Blick nach Großbritannien. Die Bombardierung und weitgehende Zerstörung Coventrys jährt sich zum 80. Mal. Wie präsent ist den Briten das Ereignis heute noch?
Oliver Schuegraf: In Coventry ist der 14. November 1940 weiterhin präsent im kollektiven Gedächtnis der Bewohnerinnen und Bewohner. Die alte und neue Kathedrale stehen mitten im Stadtzentrum. Studierende müssen dort vorbei, wenn sie von der Uni in die Fußgängerzone wollen. Bei schönem Wetter verbringen viele Büroangestellte ihre Mittagspause auf Bänken in der Ruine. So lädt die Kathedrale immer wieder zur Erinnerung ein, ja zwingt sogar dazu. Die Ruine ist ein Mahnmal, eine offene Wunde, die die Erinnerung an Leiden, Tod und Kreuz wachhält. An der erhaltenen Chorwand sind zwei Worte zu lesen: „Vater vergib“.
epd: Die Generation der Zeitzeugen stirbt. Droht die Gefahr, dass mahnende Stimmen zur Versöhnung verstimmen?
Schuegraf: Das glaube ich nicht. Wachsame Stimmen wird es auch geben, wenn die Generation der Zeitzeugen nicht mehr unter uns ist. Gerade in Coventry stellt man sich dieser Aufgabe. Die ganze Stadt versteht sich dezidiert als „City of Peace and Reconciliation“. So ist es auf allen Ortsschildern zu lesen, wenn man in die Stadt hineinkommt. Die intensive Partnerstadtarbeit und auch der Masterstudiengang „Peace and Conflict Studies“ an der Universität halten das Thema wach. Und dann gibt es natürlich auch noch die Versöhnungsarbeit der Kathedrale selbst.
epd: Und hier in Deutschland?
Schuegraf: Ich bin überrascht und beeindruckt, dass das Thema „Versöhnung“ eben kein alter Hut ist. Immer wieder suchen auch 75 Jahre nach Kriegsende Kirchengemeinden und christliche Institutionen den Weg in die Nagelkreuzgemeinschaft, wollen sich für Versöhnung zwischen einstigen Gegnern, aber auch in ihrem direkten Umfeld einsetzen. Wir müssen weiter unsere Stimme erheben gegen Fremdenfeindlichkeit und die Versuchung neuer Nationalismen.
epd: Gelebte Feindesliebe, das klingt nicht nach einer leichten Aufgabe. Wie lassen sich „normale“ Menschen dafür interessieren?
Schuegraf: Mein Eindruck ist, dass viele „normale“ Menschen dafür durchaus ansprechbar sind. Sie treten nach wie vor unserer Gemeinschaft als Einzelmitglied bei. Ganz „normale“ Kirchengemeinde machen sich auf den Weg, um Teil der Nagelkreuzgemeinschaft zu werden. In Deutschland ist unser Netzwerk in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Eine andere Frage ist dann natürlich, wie gut es uns gelingt, Feindesliebe auch zu leben.
epd: Wie gelingt das ganz praktisch?
Schuegraf: Für Versöhnung und Frieden zu arbeiten, heißt für uns: die Wunden der Geschichte heilen, mit Unterschieden leben, Vielfalt feiern sowie eine Kultur des Friedens schaffen. Wie das konkret aussieht, ist von Nagelkreuzzentrum zu Nagelkreuzzentrum sehr unterschiedlich. Eine Stärke der Gemeinschaft ist aber, dass sie keine enge Definition von Versöhnung vorgibt, sondern dass jedes Zentrum selbst klären muss, wie Versöhnung im Geiste Coventrys gelebt wird. Für viele deutsche Zentren spielt das Leid des Bombenkrieges eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur. Aus dieser Erfahrung heraus engagieren sie sich heute für die Verständigung unter den Religionen, setzen sich für Flüchtlinge ein, fördern internationale Jugendarbeit, bieten eine offene und inklusive CityKirchen-Arbeit an oder arbeiten die Unrechtsgeschichte an politischen Häftlingen in der DDR auf, um nur ein paar unterschiedliche Bespiele zu nennen.
epd: Nagelkreuzzentrum zu werden ist an Vorgaben geknüpft. Wie vollzieht sich dieser Prozess?
Schuegraf: Meist beginnt der Prozess mit einem Anruf. Jemand ist auf die Gemeinschaft gestoßen und möchte wissen, ob sie etwas für seine bzw. ihre Institution ist. Dann gibt es eine längere Phase des gegenseitigen Kennenlernens: Ein Mitglied unseres Vorstandes besucht das potenzielle Zentrum. Auf alle Fälle macht sich eine Delegation von dort auf nach Coventry, um an einer sogenannten Pilgrimage (Pilgertage) teilzunehmen, um die Kathedrale, ihr geistliches Leben und ihre Arbeit genauer kennenzulernen. Schließlich spricht die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft eine Empfehlung gegenüber Coventry aus. Ganz am Ende steht dann ein Festgottesdienst, in dem ein Nagelkreuz übergeben wird.
epd: Ziel ist es auch, im „Geist von Coventry“ zu leben? Wie muss man sich das im Alltag der Gruppen oder Gemeinden vorstellen?
Schuegraf: Hier gibt es keine festen Vorschriften. Wir sind keine kommunitäre Gemeinschaft mit einer Ordensregel. Wir haben allerdings eine Art Lebensregel, die für manche Mitglieder und Zentren als eine Hilfe für ihr geistliches Leben erfahren wird. Sie soll keine Fesseln anlegen, kann aber als innere Orientierung und gemeinschaftliche Ausrichtung für Gebet, Bewahrung der Schöpfung und Suche nach Versöhnung dienen. Ich gebe allerdings zu, dass dieser Text schon etwas in die Jahre gekommen ist. Was uns allen jedoch wichtig ist, ist das Versöhnungsgebet von Coventry aus dem Jahr 1958, das jeden Freitag um 12 Uhr gebetet wird. Die sieben Gebetsbitten mit ihrem jeweilen Ruf „Vater vergib“ sind die spirituelle Mitte unserer Gemeinschaft.
epd: Jungen Menschen den „Geist von Europa“ nahezubringen dürfte deutlich schwieriger werden, wo Großbritannien die EU verlässt.
Schuegraf: Ja, aber die Brexit-Diskussionen haben gezeigt, dass gerade für die meisten jungen Menschen in Großbritannien ein geeintes Europa eine Selbstverständlichkeit ist. Ältere Menschen haben dem Brexit zu einer Mehrheit verholfen. Plötzlich stehen das selbstverständliche Miteinander und gewachsene Freundschaften auf dem Spiel.
Ich bin überzeugt, dass die Nagelkreuzzentren einen wichtigen Beitrag zur Verständigung leisten können. Britische und deutsche Nagelkreuzzentren sollten die Zusammenarbeit intensivieren, Begegnungsmöglichkeiten schaffen. Schlimm wäre es, wenn zukünftig die rechtlichen Voraussetzungen für Begegnungen, Studienreisen und Volontariate schwieriger werden.
epd: Die weltweite Kriegskultur ist noch immer ungebrochen, wie zuletzt das Beispiel Berg-Karabach zeigt. Kann man da nicht müde werden im Friedensengagement?
Schuegraf: Klar, und manchmal habe ich das Gefühl, dass das Engagement von Versöhnungssuchenden noch komplexer und anstrengender sein kann als von Friedensaktivistinnen- und -aktivsten. Man sitzt man oft zwischen den Stühlen, wenn man extremistische und gewalttreibende Positionen herausfordern will. Unsere Vision ist eine Welt, in der jeder Mensch Liebe und Fürsorge für seinen Mitmenschen zeigt. Eine Welt, in der die anderen, die Fremden mit ihren verschiedenen Gaben wertgeschätzt werden. Das ist ein Engagement, bei dem man müde werden kann, bei dem es für mich mehr Fragen als Antworten gibt, bei dem ich immer wieder scheitern werde. Aber nichts zu tun, ist ja auch keine Alternative.