Geschichte trifft Versöhnung: Regionaltreffen der Nagelkreuzzentren in Neuendettelsau 2025

Altarkreuz aus Stahl erinnert an die Muna in Neuendettelsau. Foto: Tobias Klein
Mitten in Neuendettelsau, einem kleinen fränkischen Ort mit großer kirchlicher Geschichte, trafen sich am 17. Mai 2025 die bayerischen Nagelkreuzzentren zu ihrem Regionaltreffen. Was diesen Tag besonders machte, war die eindrückliche Verbindung von Historie und Gegenwart: Auf dem Gelände, wo im Zweiten Weltkrieg eine Munitionsanstalt Bomben für Luftangriffe – wohl auch auf Coventry – produzierte, versammelten sich heute Christen, um für Frieden und Versöhnung zu arbeiten. Vertreterinnen und Vertreter aus Würzburg, Nürnberg, München, Dachau und Neuendettelsau kamen in der Augustana-Hochschule zusammen und erlebten einen Tag voller Austausch, Gedenken und gemeinsamer Inspiration. Bereits ein herzlicher Empfang am Vormittag stimmte die Teilnehmenden auf den intensiven Tag ein. In einer bewegenden Einleitung führte Dr. Janning Hoenen, Mitgastgeber aus Neuendettelsau, in die Geschichte des Treffensortes ein. Schon hier wurde deutlich, dass Neuendettelsau mehr ist als ein Dorf auf dem Land: Durch das Wirken von Pfarrer Wilhelm Löhe wuchs es im 19. Jahrhundert von einem unscheinbaren Dorf zu einem Zentrum des bayerischen Protestantismus mit globaler Wirkung – Sitz einer Diakonissenanstalt, Ausgangspunkt weltweiter Mission und heute Heimat von gleich zwei Nagelkreuzen. Diese besondere Mischung aus historischer Verantwortung und engagierter Versöhnungsarbeit prägte den ganzen Tag und weckte gespanntes Interesse auf das Programm.
Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Nagelkreuz in der Campuskapelle. Foto: Tobias Klein
Den Auftakt bildete ein Besuch der Augustana-Hochschule, der theologischen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Im Konferenzraum der Campushochschule wurden wir von der Hochschulgemeinschaft empfangen. Dr. Hoenen hieß uns offiziell willkommen und spannte in seinem Vortrag den Bogen von der Gründung der Hochschule bis zur jüngsten Vergangenheit. Besonders nachhaltig beeindruckte seine Schilderung, wie tief Neuendettelsau in die Wirren des Zweiten Weltkriegs verstrickt war: Die Augustana steht nämlich auf dem Gelände einer ehemaligen Wehrmacht-Munitionsanstalt, kurz Muna, in der ab 1934 massenhaft Granaten und Bomben hergestellt wurden. Diese Waffen fanden vermutlich – in tragischer Ironie der Geschichte – auch beim Bombenkrieg gegen England Verwendung. Mit der Entmilitarisierung nach 1945 erfuhr das Areal jedoch eine völlige Umwidmung: 1947 beschloss die Landessynode die Gründung der Augustana-Hochschule als unabhängige theologische Lehrstätte in kirchlicher Trägerschaft. In den folgenden Jahren zog die Hochschule nach und nach in die ehemaligen Kasernen und Verwaltungsgebäude der Muna ein. Aus Orten der Zerstörung wurden Orte des Lernens: Wo einst Offiziershäuser und Truppenunterkünfte standen, entstanden Hörsäle, Wohnheime, Mensa und Verwaltung. 1966 wurde eine eigene Kapelle errichtet, deren großes Altarkreuz aus Stahl bewusst an die Vergangenheit des Geländes erinnert.
Beim Rundgang über den parkähnlichen Campus konnten wir diese Geschichte förmlich atmen. Zwischen alten Bunkerwällen und neuen Institutsgebäuden erläuterte uns Dr. Hoenen anschaulich die Funktionen der zentralen Gebäude. Ein Höhepunkt war der Besuch der Campuskapelle – dem spirituellen Herz der Hochschule. Dort steht heute eines der beiden Nagelkreuze von Neuendettelsau. Im Juni 2017 wurde die Augustana-Hochschule offiziell in die internationale Nagelkreuzgemeinschaft aufgenommen; in einem feierlichen Gottesdienst überreichte eine Delegation aus Coventry das Nagelkreuz für die Kapelle. Seither engagiert sich die Hochschule sichtbar für die Versöhnungsarbeit. Studierende und Dozierende gedenken hier jedes Jahr der Zerstörung Coventrys und beteiligen sich regelmäßig am Freitagsgebet für den Frieden.
Diakonissenanstalt Neuendettelsau (Diakoneo)

Nagelkreuz in der Diakonissenanstalt. Foto: Tobias Klein
Nach einem Mittagessen in der Mensa, das reichlich Gelegenheit zum persönlichen Austausch bot, führte unser Weg am frühen Nachmittag vom Campus hinüber zur traditionsreichen Diakonissenanstalt Neuendettelsau – heute bekannt als Diakoneo. Schwester Ruth Gänstaller, eine erfahrene Diakonisse, übernahm herzlich die Führung unserer Gruppe. Schon unterwegs blieb sie mit uns an bedeutungsvollen Stationen stehen: Unweit der Hochschule erinnert ein schlichter Gedenkstein an die Fremd- und Zwangsarbeiter, die in der Muna schuften mussten. Andächtig versammelten wir uns um dieses Mahnmal, während Schwester Ruth von den Schicksalen der Menschen berichtete, die in Neuendettelsau Zwangsarbeit leisten mussten – ein Kapitel, das dem Ort bis heute ins Gewissen schreibt. Wenige Schritte weiter erhob sich das historische Mutterhaus der Diakonissengemeinschaft. Hier, wo seit dem 19. Jahrhundert Diakonissen in Gemeinschaft lebten und wirkten, schauten wir in einen Innenhof voller Geschichte. Neuendettelsau war 1854 durch Pfarrer Wilhelm Löhe zur Keimzelle der bayerischen Diakonie geworden: Löhe gründete damals die erste Diakonissenanstalt in Bayern. Junge Frauen wurden in diesem „Mutterhaus“ zu Krankenschwestern und Fürsorgerinnen ausgebildet, um landauf, landab notleidenden Menschen beizustehen. Aus bescheidenen Anfängen wuchs in den folgenden Jahrzehnten ein umfangreiches Werk der Nächstenliebe. Heute – mehr als 170 Jahre später – zählt Diakoneo mit über 200 Einrichtungen und rund 10.000 Mitarbeitenden zu den größten diakonischen Trägern in Deutschland.
Doch auch die dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte sind an Neuendettelsau nicht vorübergegangen – im Gegenteil: Gerade weil die Diakonissenanstalt einst eine der größten Heil- und Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung im ganzen Reich war, hinterließ das NS-Regime hier tiefe Wunden. Schwester Ruth erzählte sichtlich bewegt von den Ereignissen der Jahre 1940/41: Unter dem zynischen Decknamen „Euthanasie“ wurden ab Herbst 1940 über 1.200 hilfsbedürftige Menschen aus Neuendettelsau und seinen Außenstellen in staatliche Heilanstalten deportiert. Von diesen wurden mehr als 800 in Tötungsanstalten wie Hartheim bei Linz ermordet; viele weitere starben unter den grausamen Bedingungen der Anstaltspsychiatrie. Besonders erschütternd ist, dass zu den ersten Opfern alle Bewohner jüdischen Glaubens zählten. Vor unseren Augen stand plötzlich das Bild der grauen Busse, in denen die Ordensschwestern ihre Schutzbefohlenen damals hilflos ziehen lassen mussten.
Erfahrungsaustauch beim Regionaltreffen

Regionaltreffen Bayern in Neuendettelsau. Foto: Tobias Klein
Nach diesem Gang durch die Geschichte empfing uns das Diakoneo-Zentrum mit offenen Armen. Bei Kaffee und hausgebackenem Kuchen kamen wir mit Schwestern, Mitarbeitenden und Gästen ins Gespräch. Hier, im modernen Begegnungsraum des Schwesternhauses, schlug die Stimmung des Tages einen hoffnungsvollen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft. Im Mittelpunkt stand nun die Nagelkreuzgemeinschaft als weltweites Netzwerk des Friedens. In einer angeregten Runde tauschten wir uns über die Erfahrungen unserer jeweiligen Nagelkreuzzentren aus. Gemeinsam schmiedeten wir Pläne für die weitere regionale Zusammenarbeit. So wurde beschlossen, das nächste Regionaltreffen in Nürnberg abzuhalten – ein Beschluss, der allgemein begrüßt wurde. Zugleich wurden Neuigkeiten aus der bayerischen Kirche bekannt: Mit großer Freude hörten wir, dass sogar das Landeskirchenamt in München erwägt, Nagelkreuzzentrum zu werden. Drei Vertreter:innen der Kirchenleitung verfolgten als Gäste unsere Diskussion – ein Zeichen dafür, welche Bedeutung die Versöhnungsarbeit inzwischen auf allen Ebenen gewinnt. In diesem Zusammenhang kam die Sprache auch auf eine mögliche Pilgerreise nach Coventry, der Geburtsstätte des Nagelkreuzes. Die Vorstellung, gemeinsam – Veteranen wie Neuinteressierte – nach Coventry zu reisen, um dort den Geist der Versöhnung unmittelbar zu erleben, begeisterte uns alle.
Als sich der Tag dem Ende zuneigte, versammelten wir uns noch einmal in der Kirche St. Laurentius, um den Abschluss in würdiger Weise zu begehen. St. Laurentius – eine helle, schlichte Kirche mitten im Diakoniegelände – beherbergt das zweite Nagelkreuz von Neuendettelsau. Jeden Freitag um Mittag findet hier ein öffentliches Nagelkreuzgebet statt; die Türen stehen allen offen, die mitbeten oder einfach einen Moment innehalten möchten. An diesem Abend aber erlebten wir eine Nagelkreuz-Andacht, die viele von uns tief bewegte. Besonders beeindruckend war das Versöhnungsgebet in einfacher Sprache, das hier in St. Laurentius üblich ist. Weil in der Gemeinde auch viele Menschen mit Behinderung mitfeiern, wird das berühmte Coventry-Gebet behutsam in klare, leicht verständliche Worte gefasst. So beteten wir gemeinsam – ohne Barrieren in Sprache oder Verständnis – die Bitten um Vergebung: „Dass Menschen andere wegen ihrer Hautfarbe nicht mögen. Vater, vergib.“ und „Dass wir uns nicht genug um Menschen kümmern, die ohne Heimat und auf der Flucht sind. Vater vergib.“ Jeder Satz war zugleich schlicht und kraftvoll.
Schließlich traten wir, erfüllt von den Eindrücken des Tages, die Heimreise an. Neuendettelsau hat uns an diesem Samstag gezeigt, dass es ein „Dorf mit globaler Wirkung“ geblieben ist: Einst Ausgangsort von Mission und Diakonie, dann gezeichnet von den Verirrungen der Geschichte, ist es heute ein lebendiger Doppel-Ort der Versöhnung. Sowohl die Augustana-Hochschule als auch Diakoneo tragen das Nagelkreuz als Symbol und Verpflichtung – in der akademischen Theologie wie im praktischen Dienst am Nächsten. Ihr gemeinsames Engagement strahlt weit über die Region hinaus.
Autor: Nagelkreuzgemeinschaft, mit Beiträgen von Tobias Klein, Judith Einsiedel und Dr. Janning Hoenen


