Mitgliederversammlung 2025: Eine Gemeinschaft im Ernstfall

Mitgliederversammlung in Münster 2025. Foto: Tobias Klein

Es gibt Zusammenkünfte, die äußerlich unspektakulär erscheinen und sich erst im Inneren als Räume geistiger Verdichtung erweisen. Wer am 14. November 2025 zur Mitgliederversammlung der Nagelkreuzgemeinschaft ins Johanniter-Gästehaus nach Münster kam, mochte zunächst ein vertrautes kirchliches Arbeitstreffen erwarten: Tagesordnungspunkte, Berichte, Beschlüsse. Doch schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass hier mehr geschah. Nicht routinierte Gremienarbeit stand im Mittelpunkt, sondern ein gemeinsames Ringen um Haltung – getragen von Menschen, die Versöhnung nicht als Begriff verwalten, sondern als Lebenspraxis kennen.

Rund achtzig Teilnehmende und Gäste waren angereist, viele seit Jahren oder Jahrzehnten mit der Nagelkreuzgemeinschaft verbunden, manche zum ersten Mal. Münster erwies sich dabei als stimmiger Ort: westfälisch zurückhaltend, verlässlich, begleitet von jenem feinen Novemberregen, der eher zur Sammlung als zur Zerstreuung einlädt.

Neben Vereinsregularien und inhaltlichem Austausch hatten auch Gedenken und Gebet Raum auf der Mitgliederversammlung. Foto: Tobias Klein

Kerzen, Konten und ein Elefant

Den Auftakt setzte eine Andacht von Oliver Schuegraf – liturgisch konzentriert, bewusst unspektakulär. Kerzen wurden entzündet: für die Konflikte der Welt ebenso wie für das, was jede und jeden persönlich bewegt und bedrückt. Kein Pathos, keine großen Gesten, sondern eine stille Einladung, das Private und das Politische nicht voneinander zu trennen. Der Raum schien sich zu verdichten; der Grundton des Wochenendes war gefunden.

Im anschließenden Geschäftsteil zeigte sich die Gemeinschaft von ihrer angenehm strukturierten Seite. Die Sache mit dem Plüschelefanten – einem Geschenk aus Coventry, benannt nach Benjamin Britten – wurde zum ersten kleinen Höhepunkt. Ein Elefant als Mahnung, nicht um den heißen Brei herumzureden: Es gibt schlechtere Maskottchen für eine Organisation, die sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlt.

Die Haushaltsfragen wurden effizient verhandelt, neue Kassenprüferinnen bestätigt, und Henning Menzel mit herzlichem Applaus als neuer Schatzmeister willkommen geheißen. Man merkte: Vertrauen ist hier kein abstrakter Begriff, sondern Arbeitsvoraussetzung.

Am Abend wandelte sich der Saal in eine erzählte Landschaft aus Erinnerung und Gegenwart. In ruhiger, präziser Sprache wurde die Geschichte Coventrys aufgerufen: die Bombennacht vor achtzig Jahren, die Radiobotschaft, die Nägel, das Kreuz. Selbst wer diese Geschichte zu kennen meinte, hörte neu hin – vielleicht auch deshalb, weil zur selben Stunde in der Kathedrale von Coventry der Zerstörung gedacht wurde. Erinnerung war an diesem Abend kein Rückblick aus sicherer Distanz, sondern ein Geschehen in der Gegenwart.

Vorstandstisch mit Elefant Benjamin. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Dann traten die neuen Nagelkreuzzentren nach vorn: vier Hamburger Hauptkirchen, Chemnitz, Recklinghausen, Kassel, Frankfurt am Main und Stutensee-Weingarten. Sie brachten Ausschnitte ihrer Arbeit mit – manchmal als Satz, manchmal als Bild oder Geste. Beim „Meet & Greet“ entstand ein Kaleidoskop deutscher Erinnerungskultur: vielfältig, verletzlich, erstaunlich hoffnungsvoll. Auch jene, die sich selbst eher als nüchtern oder realistisch verstehen, konnten sich der stillen Kraft dieser Begegnungen kaum entziehen.

Der Abend schloss mit einer Andacht, die Worte aus der Stuttgarter Schulderklärung, ein zeitgenössisches Gebet über Israel und Gaza und eine meditative Reflexion über Ratlosigkeit und Verantwortung zusammenführte. Es war einer der Momente, in denen man spürt: Großen Fragen kann man im gemeinsamen Glauben standhalten, auch wenn man die Antwort nicht kennt.

Kate Massey: Unsere neue Stimme in Coventry

Vielfalt war erlebbar beim „Meet & Greet“ der neuen Nagelkreuzzentren. Foto: Tim Wagner

Der Samstag begann mit einem Morgengebet, weit öffnend und von jener stillen Klarheit getragen, die Lieder wie „Morgenlicht leuchtet“ auch jenseits persönlicher Vorlieben entfalten können.

Dann trat Kate Massey ans Mikrofon, seit Juni 2025 Canon für Kunst und Versöhnung an der Kathedrale von Coventry. Ihren Bericht aus Coventry begann sie, ganz britisch, mit einem Schuss Selbstironie: Ja, es gebe eine neue Canon for Arts and Reconciliation in Coventry – brillant und witzig, wie man höre. „Ich bin vielleicht keines von beidem“, sagte sie, „aber immerhin neu.“ Der Saal lachte – und Kate hatte die Herzen der Zuhörerschaft schon mit dem ersten Satz erobert.

Sie erzählte sie von ihrem eigenen Weg: Von ihrer Zeit als Gemeindepfarrerin in einem Stadtteil, in dem 67 Prozent für den Brexit stimmten, von kirchlichen Auseinandersetzungen um Frauenordination und die volle Teilhabe von LGBTQ+-Christen, von ihrer Doktorarbeit über Versöhnung in kirchlichen Konflikten. Kein Heldenepos, sondern ehrliche Handarbeit im Feld der Risse. Und schnell war klar: Diese Frau weiß, wovon sie spricht, wenn sie „Reconciliation“ sagt.

Erfahrungen austausche, Kontakte knüpfen – auch dafür war in Münster genug Zeit. Foto: Tim Wagner

Schon drei Wochen nach ihrem Amtsantritt landete sie mitten im internationalen Rückgrat des Netzwerks: dem „International Reps Meeting“, das etwa alle 18 Monate in Coventry stattfindet. Dann kommen dort die Vorsitzenden – oder die vergleichbaren Verantwortungsträger – all jener Länder zusammen, die wie Deutschland ihre Nagelkreuzzentren in nationalen Verbänden organisieren. Delegierte aus Deutschland, Kanada, den USA, Großbritannien und Irland, den Niederlanden und Südafrika – drei Tage Diskussionen, Lernen, Lachen, Beten, Streiten. Herausgekommen sind konkrete Projekte: neue Kommunikationswege, um Geschichten aus den Zentren sichtbarer zu machen; eine geplante Nagelkreuz-Gebets-App; eine Struktur für Einzelmitgliedschaften in Regionen ohne bestehende Modelle; Fokusgruppen mit jungen Menschen, die erklären sollen, wie Versöhnung heute eigentlich klingt; und die Planung eines großen internationalen Treffens im Jahr 2027.

Massey stellte fest, dass die Frage nach der „nächsten Generation“ inzwischen zum roten Faden geworden ist. Die ICONS, das Netzwerk der Nagelkreuz-Schulen, wachsen; eine neue Mitarbeiterin – einst Freiwillige in Coventry – koordiniert die Arbeit; die BBC wird ICONS in einer „Songs of Praise“-Adventssendung porträtieren. Und dann eine Szene, die im Saal besonders hängenblieb: ihr Besuch an der Europaschule in Frankfurt am Main. Abiturient:innen, die auf Englisch über LGBTQ+-Rechte, Rassismus, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung debattieren, bevor überhaupt jemand „Coventry“ sagt – klug, direkt, unerschrocken. „Ich kam gar nicht mehr dazu, meinen Vortrag zu halten“, erzählte Kate lachend. Eine Schulpartnerschaft ist in Arbeit.

Der Blick in Coventry geht weiter hinaus: Massey berichtete von wachsenden Kontakten nach Australien und Neuseeland; von Māori-geprägten Versöhnungsprozessen, die mühsam und teuer waren, aber Wandel gebracht haben; Kirchen in Ost- und Westaustralien, die sich mit Fragen indigener Rechte beschäftigen; der Idee einer Gruppe innerhalb der Nagelkreuzgemeinschaft, die postkoloniale Themen bearbeitet – gemeinsam mit kanadischen Partnern.

Canon Kate Massey berichtete aus Coventry. Foto: Tim Wagner

Dass Versöhnungsarbeit nach wie vor dringend ist, zeigte sich auch, als sie über das aktuelle Jahr sprach: über die Ukraine, Russland, Israel und Palästina. Coventry hielt eine Mahnwache zum zweiten Jahrestag der Hamas-Angriffe, kurz nach einem antisemitischen Attentat in Manchester. Jüdische Partner:innen kamen, palästinensische Christ:innen, der Rektor des Tantur-Instituts in Jerusalem. Und sie erzählte von „Gracious Dialogue“ – einem Format, das Gemeinden helfen soll, wenn die Israel-Frage sie innerlich spaltet. Bibel, Geschichte, persönliche Stimmen – ein zarter, aber präziser Werkzeugkasten für schwierige Gespräche. Ein ähnliches Format zu politischen Gräben sei bereits in Planung.

Zum Schluss sprach sie über die Pilgerfahrten, die die Kathedrale zweimal jährlich anbietet – „ein Segen“, wie sie sagte –, und über ihren Wunsch, die Verbindung zwischen Coventry und den Zentren noch enger zu knüpfen. Mehr Kolleg:innen aus Coventry sollen künftig Pilgerfahrten mitgestalten. Damit die Pilgernden profitieren – und Coventry am Draht der vielfältigen Versöhnungsarbeit in den Nagelkreuzzentren in aller Welt bleibt.

Am Ende blieb der Eindruck einer Kathedrale, die sich nicht nur als Ort des Rückblicks und der Erinnerung versteht, sondern vor allem pulsierender Knotenpunkt internationaler Versöhnungsarbeit ist – mit einer neuen Canon, die diesen Puls hörbar macht und ihm eine Stimme gibt.

Die anschließenden Berichte aus den Zentren zeichneten ein vielstimmiges Bild: vom Diebstahl eines Nagelkreuzes in Dachau, über Jubiläen in Dresden und Ausstellungen in Chemnitz bis hin zu musikalischen Jugendprojekten in Darmstadt. Unterschiedliche Orte, unterschiedliche Kontexte – verbunden durch dieselbe Hoffnung, dass aus erlittenem Schmerz Zukunft entstehen kann.

Rund 80 Teilnehmer:innen und Gäste waren zur Tagung nach Münster angereist. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Miteinander reden in Zeiten des Krieges zwischen Russland und der Ukraine

Der thematische Schwerpunkt des Wochenendes hätte leicht zu einer jener gut gemeinten Podiumsrunden werden können, bei denen man nichts erfährt, was man nicht längst weiß. Doch es kam anders. Ein Pfarrer aus Russland und ein Pfarrer aus Odessa berichteten von Bombennächten, von Tagen ohne Strom, vom Leben unter Bedingungen, die man sich hierzulande kaum vorstellen kann. Sie erzählten von verschleppten Kindern, von gefallenen Männern und vom Leid der Geflohenen; der eine in Sorge vor dem nächsten Angriff, der andere in Sorge, was ein offenes Wort auslösen könnte.

Und plötzlich war Krieg nicht mehr eine Nachricht, sondern ein menschliches Gegenüber. Ihre Berichte – bewusst geschützt, nicht für die Öffentlichkeit gedacht – trafen einen Punkt, an dem Worte knapp werden und Zuhören schwerfällt. Der Raum wurde still. Dann noch stiller. Momente, in denen zu spüren war, dass Worte nicht reichten für das, was Menschen einander antun oder erleiden müssen; Momente, in tiefem Mitgefühl verbunden mit den Menschen im Krieg.

Sprechen im und über den Krieg war der Schwerpunkt des Samstagnachmittags. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Im anschließenden World Café sprach die Gemeinschaft weiter – in kleinen Gruppen, tastend, ehrlich. Mit Ernst, mit Humor. Mit der Erkenntnis, dass Schweigen helfen kann. Dass Besuch helfen kann und Geld im Zweifel mehr als Sachspenden. Und dass Zuhören nicht keine schwache, sondern eine mutige und ermutigende Form der Solidarität ist. Dass Annäherung beginnt, wenn Menschen Fragen stellen und die Antworten nicht scheuen – selbst wenn sie schmerzen. An diesem Nachmittag tat niemand so, als könne man dem ausweichen.

Den Tag beschloss eine Abendandacht von Antje Biller. „Wir pflügen und wir streuen“ – ein Lied über das Säen ohne Gewissheit der Ernte. Der Tag hatte von Menschen erzählt, die säen: Worte, Gesten, Begegnungen. Zugleich stand die Erfahrung im Raum, dass vieles davon unsichtbar bleibt oder scheinbar wirkungslos verhallt. Die Nacht begann mit dem Zuspruch: Wachstum und Gedeihen liegen in Gottes Hand.

Von Gott gehalten auf dem Weg der Versöhnung

Der Sonntag begann mit einem dankbaren Rückblick auf eine dichte, zugleich wohltuend unaufgeregte Versammlung – und fasste damit zusammen, was das Wochenende insgesamt geprägt hatte: Zeit für Wiedersehen und Kennenlernen, für Erfahrungsaustausch, für stilles Erinnern auch an die, die nicht oder nicht mehr da waren. Getragen wurde all dies von einer professionellen, unaufdringlichen Gastlichkeit des Hauses und seiner Mitarbeitenden.

Am Sonntag endete das Treffen mit einem Gottesdienst in der Münsteraner Andreaskirche. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Der abschließende Gottesdienst im Nagelkreuzzentrum St. Andreas nahm die Fäden des Wochenendes auf: eine gemeinsame Predigt von Oliver Schuegraf und Kate Massey, ein Grußwort aus Russland, gemeinsames Essen. Im Zentrum stand ein Vers aus Jesaja 49: „Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet.“ Kate Massey entfaltete ihn als Zusage des Gehaltenseins – auch in einer brüchigen Welt. Erinnerung erschien nicht als Last, sondern als Bindung; Versöhnung als Beginn dort, wo Menschen einander nicht aus den Händen fallen.

Was bleibt von dieser Mitgliederversammlung? Vielleicht die Erfahrung, dass Versöhnungsarbeit weder veraltet noch naiv ist. Dass sie lebt, weil Menschen sie leben. Und dass unsere Gemeinschaft in einer Zeit lauter, erschöpfter Debatten eine seltene Qualität bewahrt: Leise zu sprechen, ohne leise zu sein im Anspruch.

Oder, wie es an diesem Wochenende zu hören war: Versöhnung ist kein Zustand. Sie bleibt ein Weg – aus Worten, aus Taten, aus Beziehungen.

Autor: Niels Faßbender

 

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

drei × vier =