St. Paul, die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in Odessa, ist eine Kirchengemeinde mit 220 Jahren wechselvoller Geschichte. Seit zwölf Jahren ist St. Paul zudem Teil der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft.
Sabbatjahr in Odessa
Im Rahmen eines Sabbatjahres kann ich zweimal drei Monate in Odessa sein. Hier lebe ich in der Gemeinde mit den Menschen in Odessa zusammen. Wir beten am Sonntag im Gottesdienst. Wir verteilen Hilfsgüter, die großzügig aus dem Ausland geliefert werden. Und wir machen uns Sorgen um die Menschen, wenn wieder Luftalarm ist.
Ein Altarbild für
das Nagelkreuz in Odessa
Leben in Kriegszeiten
Viele unterschiedliche Menschen lerne ich hier kennen: Alteingesessene und Menschen, die auf der Flucht hier gestrandet sind. Sicher ist es in der Stadt nicht. Mehrere Raketenangriffe habe ich auch live miterlebt. Am nervigsten ist der Alarm mitten im Orgelkonzert oder im Unterricht. In einer kleinen Schule habe ich Grundschulkindern ein bisschen Deutsch beigebracht. Mit nicht gekannter Disziplin ziehen die Kinder bei einem Alarm ihre Sachen an und gehen in den Keller, wo es improvisiert für jedes Kind einen Platz gibt und der Unterricht weiter gehen kann. Internet ist natürlich im Keller verfügbar.
Die Menschen leben mit dem Krieg und sind dabei sehr müde. Nachts ist besonders oft Alarm.
Auch junge Soldaten traf ich. Sie sind seit dem Überfall an der Front ohne Heimaturlaub.
In Odessa gab es von Oktober bis Dezember 2023 Lebensmittel und auch Energie in ausreichender Menge. Der Nahverkehr funktionierte, wenn nicht durch Raketentreffer die Gleise beschädigt sind. Und auch die Eisenbahn fuhr wie gewohnt langsam, dafür pünktlich und mit praktischen Nachtzügen. So konnte ich für zwei Tage nach Kiew reisen, um Freunde zu besuchen und eine Theatervorstellung zu sehen. Der Zug brachte mich nach ruhiger Nachtfahrt morgens an den Hauptbahnhof und nahm mich am Abend wieder mit, so dass ich rechtzeitig am nächsten Morgen zum Gottesdienst wieder in Odessa war.
Die Menschen, die ich treffe, arbeiten unglaublich viel – als Theaterschauspieler oder Lehrerin und darüber hinaus immer auch noch in „Projekten für den Sieg“, wie z.B. „Brot backen für Dörfer an der Front“, „Tarnnetze knüpfen“ oder sie sind zudem Helfer:innen in der Industrie.
Ein so starkes Gefühl der Menschen, für ihr Land einzustehen, habe ich bei früheren Besuchen in der Ukraine nicht empfunden.
Das Nagelkreuz in Odessa
Der Pastor Aleksander Groß schreibt in einem Beitrag auf Facebook:
„Dieses Coventry-Kreuz hat heute eine besondere Bedeutung für uns. Wir leben in einem Krieg. Wir brauchen Frieden. Wir verstehen auch unsere Schuld. ‚Vater vergib‘ – so die Inschrift aus dem Coventry-Gebet und dem Gebet eines jeden von uns, ist jetzt über dem Nagelkreuz in der St. Pauls Kirche von Odessa abgebildet. Danke Gott für seine Liebe zu uns Sündern“ (übertragen aus dem russischen Arne Bölt).
Dass die Worte „Vater vergib“ nun über dem Nagelkreuz zu lesen sind, ist dem Künstler Tobias Kammerer zu verdanken. Die Kirche in Odessa wurde bereits bei dem Wiederaufbau von 2010 von ihm ausgestaltet und als jetzt die Frage aufkam, den Altar mit dem Nagelkreuz neu in das Gesamtwerk einzufügen, war er sofort dazu bereit, ein neues Altarbild zu schaffen. Die Gemeinde hatte beschlossen, dass die Worte „Vater vergib“ in Deutsch und Ukrainisch darauf abgebildet werden sollen. Dieses Kunstprojekt wurde von der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft unterstützt. Daneben sind auch direkt Spendengelder aus der Gemeinde in das Projekt geflossen. Ich konnte Herrn Kammerer in seinem Atelier besuchen und das Retabel abholen. Dann ging es auf die Reise nach Odessa.
Allerdings wird es lange dauern, bis die Menschen sich freitags zu einer Andacht vor dem Kreuz versammeln können. Im Moment hat dafür niemand am Freitagmittag Zeit.
Autor: Arne Bölt