Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und „klarer Kante“

Dr. Sebastian Kranich, Direktor der Ev. Akademie Thüringen. Foto: privat

Das war der Titel eines Vortrags von Dr. Sebastian Kranich beim Treffen der Region „Mitte“ am 9. März 2024. Kranich ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen. In seinem Vortrag blickt er unter anderem auf seine Kindheit und Jugend in der DDR zurück und nimmt eine eindeutige politische Haltung ein: „Die AfD zielt offensichtlich auf die Unterminierung der freiheitlichen Demokratie. Rechtsextremisten dürfen keinen Einfluss auf Regierungshandeln erlangen.“

Blick in den Rückspiegel

Ich fange mit einem biografischen Blick in den Rückspiegel meiner Kindheit an. Damit Sie wissen, mit wem sie es zu tun haben. Oder vorsichtiger: Damit sie wissen, was mich seinerzeit geprägt hat. Zugleich schwingen bei diesem Rückblick die heutigen Herausforderungen schon mit. Allein schon deshalb, weil ich mir hier und heute darüber Gedanken mache.

Ich komme aus Dresden. Meine Mutter hat den Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 als kleines Mädchen überlebt und immer eindrücklich von diesem Geschehen erzählt. Mein Vater hat ihn ebenfalls erlebt. Und zwar fünf Wochen vor seiner Geburt. Im Bauch seiner Mutter, die bei diesem Angriff verschüttet wurde. Ich kenne noch die Spuren des Krieges – die Semperoper, die Frauenkirche, das Dresdner Schloss als Ruinen.

Geboren bin ich 1969 im Diakonissenkrankenhaus Dresden. Seit 1965 war die Dresdner Diakonissenanstalt das zweite Nagelkreuzzentrum in der DDR. Wie sie wahrscheinlich wissen, halfen englische Freiwillige im Rahmen eines ökumenischen Jugendaufbaulagers beim Wiederaufbau des zerstörten Diakonissenmutterhauses in Dresden.

Gesungen habe ich als Kruzianer in der Dresdner Kreuzkirche – ebenfalls ein Nagelkreuzzentrum. Was ein Nagelkreuz ist, habe ich so schon in meiner Kindheit und Jugend mitbekommen. Der 13. Februar ist für mich bis heute ein wichtiges Datum. Das hat ganz wesentlich auch mit dem Kreuzchor zu tun. Die Aufführungen des Dresdner Requiems von Rudolf Mauersberger und – jährlich – der Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ in der Kreuzkirche mit ihren Kriegsspuren haben sich in meine Erinnerung eingebrannt.

Versöhnung – das war das große Thema der Gedenkgottesdienste, die nach den Konzerten stattfanden: Also Vergebung und Versöhnung mit Engländern und Amerikanern, wo die DDR-Staatspropaganda in den 1980er Jahren ganz andere Töne anschlug, auch an diesem Tag. Es ging um Versöhnung mit dem Blick zurück. Aber eben nicht nur. Es war eben auch ein Tag der unabhängigen Friedensbewegung, wo es um das ganz aktuelle atomare Wettrüsten ging.

Ich erinnere mich auch an den jährlichen Gang am 13. Februar mit der Kerze in der Hand aus der übervollen Kreuzkirche hinüber zur Ruine der Frauenkirche. Dort wurden die Kerzen dann an der Ruine abgestellt. Im Nachhinein betrachtet war das ein Vorläuferritual für die Kerzendemos der friedlichen Revolution.

Warum erzähle ich das? Weil für mich daran etwas klar wird, was so überhaupt stimmt:

Versöhnung und Protest gehören zusammen.

Ein Gottesdienst zum 13. Februar war zugleich eine Versöhnungs- und eine Protestveranstaltung: Versöhnung im Blick auf das Vergangene. Und Protest im Blick auf die Gegenwart. So wie der alte Versöhnungsbibelspruch „Schwerter zu Pflugscharen“ ein Protestspruch für die Gegenwart wurde. Ich habe ihn als Aufnäher auch getragen. Mit 12 ½ Jahren. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns dringend geraten wurde, ihn zu entfernen. Und ich mir aus Pappe einen CND-Anstecker („Campaign for Nuclear Disarmament” – „Kampagne für nukleare Abrüstung“) bastelte, den ich als „Ersatzsymbol“ trug.

In der Friedensgruppe „Gewaltlos leben“, zu der ich seit dem Sommer 1988 gehörte, wurde gern von den Falken und den Tauben gesprochen. Also von Leuten, die mehr auf klare Kante setzten und Leuten, die mehr auf Verständigung und Dialog aus waren. Beide Gruppen aber gehörten zur selben Friedensgruppe, die – Nebenbemerkung – heute noch existiert. Zu einer Gruppe, deren Mitglieder eine Selbstverpflichtung unterschrieben hatten. Orientiert an den 10 Geboten der Gewaltlosigkeit von Martin Luther King. Einer Gruppe, deren zweites Gebot heißt: Ich verpflichte mich „Nie zu vergessen, dass ich mit meinem gewaltlosen Leben Gerechtigkeit für alle und Versöhnung suche.“ Und ich greife vor: Auch heute gehören beide Gruppen von Menschenkindern – symbolisch gesprochen Falken und Tauben – zur Kirche.

Versöhnung und Protest: Das gehörte damals auch bei vielen zusammen, die den Waffendienst in der NVA verweigerten oder den Wehrdienst überhaupt. Auch ich war Bausoldat 1988/89, die meiste Zeit in Merseburg. Aus den Erfahrungen und Briefen der Zeit habe ich ein Buch gemacht, Titel: Erst auf Christus hören, dann auf die Genossen. Bausoldatenbriefe. Merseburg, Wolfen, Welzow 1988/89, Halle 2006. Darin gebe ich mir Rechenschaft über die Zeit und präsentiere Dokumente und damit eben auch den O-Ton der Zeit. Ich habe nochmal reingesehen, was dort zu unserem Thema zu finden ist. Und habe mir die Lebensregel der Nagelkreuzgemeinschaft durchgelesen. Auf diese Weise bin ich auf einen Brief gestoßen, den ich am 3. Februar 1989 an meine damalige Freundin geschrieben habe, in dem es heißt:

„Was erwartest Du vom Leben? Die Frage ist falsch gestellt. Aber typisch für in der DDR erzogene oder lebende Leute. Erschreckend typisch für unsere Generation. Diese ‚gib‘ Haltung. Der Staat, Gesellschaft oder Eltern oder sonstwas geben nämlich immer. Von hinten und vorne versorgt. Es wir alles für Dich oder allen mit Dir gemacht. Von der Wiege bis zur Bahre durchgeplant. Spielst Du einigermaßen mit, dann gibt’s gesicherten Krippenplatz, Kindergarten, Schulbildung, Lehre, Armee, Beruf, Rente, Volkssolidarität, Begräbnis. Die Passivisten. Die, die erwarten.

Meine Frage ist: Was willst Du mit deinem, dir gegebenen Leben anfangen? Du hast die völlig freie Entscheidung. Ne Quatsch; Du musst Dir die Entscheidungsfreiheit nehmen. Gegen ziemlich viele Widerstände sogar. Was will ich also. Ich will, dass das Militär, die Unterdrückung, die Gewalt, der Hass, die Umweltzerstörung, der sinnlose Mord durch Hochrüstung, die Glaubens- und Gewissensbespitzelung und, und, und … – also die ganze Gottlosigkeit der kaputten Welt endlich aufhört. Ein reichhaltiger Aufgabenkatalog! Nicht zu schaffen? Keine Chance? Weltfremde Hirngespinste?

Und da wären wir schon bei Frage zwei. Was ist das Wesentliche an Christus? Das nur auf seinem Weg oder mit seiner Hilfe etwas zu erreichen ist.“

Also: Was machen wir? Was lassen wir mit uns machen – und was nicht? Und schließlich: Was machen wir anders? Ganz große Themen des Lebens – große Politik – ganz konkreter Protest im Brief eines 19-Jährigen. Aber springen wir aus der späten DDR direkt ins Heute:

Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und „klarer Kante“

„Wenn ich der Frage nachgehe, wo sich das Festhalten am Ideal der Versöhnung in der aktuellen politischen gesellschaftlichen und politischen Debatte spiegelt, springt mir der Begriff ‚Dialog‘ ins Auge. „‚Wir müssen wieder mehr miteinander reden.‘ – die Inflationsrate dieses Satzes übertrifft die der steigenden Lebenshaltungskosten.“ So schrieb der Theologe Frank Richter, bis 2016 Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen und Organisator geschützter Formate des Dialogs gesellschaftlicher Gruppen, kürzlich (Zeitzeichen, 12/2023, S. 35 [Bezahlschranke]). Ich verstehe ihn gut. Denn hier kommt es nicht auf Sonntagsreden an, sondern auf Genauigkeit. Hierzu vier Punkte:

1. Was ist das überhaupt – Versöhnung?

Dazu Auszüge aus einem Beitrag der Erlanger Neutestamentlerin Christina Eschner in der gleichen Ausgabe der Zeitzeichen (Zeitzeichen, 12/2023, S. 26 ff. [Bezahlschranke]): Die neutestamentliche Wissenschaft ist sich heute mehrheitlich einig: Bei Paulus hat Versöhnung einen eigenen Hintergrund. Dieser liegt nicht in der hebräischen Bibel, sondern in der hellenistischen Diplomatie. In zeitgenössischen Texten begegnet die Rede von der Versöhnung besonders häufig im politischen Kontext. Hier handelt es sich zumeist im militärischen Sinne um die Aussöhnung von verfeindeten Staaten, die sich miteinander in einem Krieg befinden. Versöhnung steht in enger Verbindung mit der Beendigung eines Krieges durch ein Friedensabkommen. Bei dieser zwischen(stadt)staatlichen Versöhnung spielen Gesandte eine große Rolle, die das Versöhnungsangebot überbringen und so den Friedensschluss aushandeln.

Auch Paulus verwendet Versöhnung in diesem Sinne. Versöhnung zwischen Gott und Mensch bedeutet somit nichts anderes als Versöhnung im zwischenmenschlichen Bereich. Paulus bestimmt seinen Dienst genauer als „Dienst der Versöhnung“ und seine Verkündigung als „Wort von der Versöhnung“. Diese Botschaft von der Versöhnung versteht Paulus genauer als Bitte, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Sich selbst bezeichnet Paulus als einen Gesandten, der diese Bitte Gottes zur Versöhnung überbringt.

Bei Paulus wird Gott nicht versöhnt oder lässt sich, einer menschlichen Bitte folgend, umstimmen. Denn für Paulus ist der Tod Christi, der zur Versöhnung der Glaubenden mit Gott führt, gerade der deutlichste Ausdruck der Liebe Gottes. „Lasst euch versöhnen mit Gott“ bedeutet: Gebt eure Feindschaft gegen Gott auf. Gott bietet somit von sich aus die Versöhnung an und fordert die Menschen auf, sein Versöhnungsangebot anzunehmen. Verwirklicht wird Versöhnung nur bei denen, die Gottes Friedensangebot annehmen.

2. Was heißt miteinander reden – auch auf diesem Hintergrund?

Es stimmt, was Frank Richter in den Zeitzeichen schreibt: Es braucht dazu eine Bereitschaft und die Fähigkeit, anderen zuzuhören und sie zu verstehen. Private, familiäre und öffentliche Gespräche zeigen oft, wie schwierig das ist. Aber auch Gespräche im Seniorenkreis oder im Gemeindekirchenrat. Denn wenn Empathie und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel fehlen, dann erleben wir Gespräche als sinnlos und manchmal sogar kontraproduktiv. Und wahrscheinlich sind sie das auch. Die Publizistin Carolin Emcke bringt es auf diesen Punkt: „Gehasst wird ungenau.“

Das positiv und zum Guten gewendet: Immer dann, wenn ich mir zumute, genau hinzuschauen, hinzuhören, dann wächst mein Verständnis für den jeweils anderen – gerade mit seinen Selbstwidersprüchen, mit dem Unfertigen und den Ambivalenzen. Dann wächst mein Verständnis als notwendige Voraussetzung für Versöhnung. Und es braucht dafür Orte und Formate: Das ist nicht die Talkshow. Und das ist auch nicht die Volksversammlung.

Wer Dialoge und Gespräche organisiert weiß: Je größer eine Versammlung ist, desto stärker neigen die Teilnehmenden dazu, sich selbst zu behaupten und die eigene Position wirksam darzustellen. Je kleiner und vertrauter eine Versammlung dagegen ist, desto leichter fällt es, das Eigene einmal loszulassen. Sie kennen das vielzitierte Jesus-Wort: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dieses Wort meint nicht nur das Übliche. Es deutet womöglich auch an, dass sich bestimmte Erkenntnisse nur in einem von Vertrautheit und Nähe geprägten Raum entwickeln können. Das ist eine seelsorgerliche und therapeutische Erfahrung.

Es scheint mir aber auch fruchtbar im Blick auf unsere virtuellen und sozialen Filterblasen. Die Jugendbildung der Evangelischen Akademie Thüringen betreibt seit 2019 das Projekt „Bubble-Crasher: Raus aus der Filterblase“. Im letzten Jahr wurde es mit dem 3. Preis beim Thüringer Demokratiepreis ausgezeichnet. Die Idee dahinter ist: Mit Leuten ins Gespräch kommen, die anders sind und denken als ich. Die Hauptmethode ist dabei: „Mehr fragen, weniger sagen.“

Dazu werden die eigenen Bubbles erst identifiziert, um sie danach ganz bewusst und zeitlich begrenzt zu verlassen. Das Erkenntnisinteresse ist, wie gesagt: Warum denken manche Menschen ganz anders als ich? Und: In welchen Punkten sind wir uns näher, als wir denken?

Dazu ein kurzer Praxis-Anwendungs-Bericht von Dr. Annika Schreiter, Studienleiterin für politische Jugendbildung in unserer Thüringer Akademie aus dem Jahr 2022: „Vergangenen Montag war es in Erfurt kalt und regnerisch. Auf dem Anger stehen sechs junge Menschen beisammen und schauen sich zaghaft um. ‚Hier ist doch überhaupt niemand, der demonstrieren möchte! Nur jede Menge Polizei‘, meint Inga. Der Blick auf Twitter verrät mir etwas anderes. Unter dem Hashtag #ef0702 steht: ‚Auf dem Anger befinden sich aktuell 150 Schwurblis, in Gruppen gefächert.‘ – Moment, Schwurblis?

Wir stehen doch auch hier! Doch dann wird es immer voller. ‚Jetzt oder nie: Wenn ihr ins Gespräch kommen wollt, sprecht Leute an!‘, sage ich. Die Sechs nicken, sie haben Fragen im Gepäck: Warum nehmen Sie hier teil? Was ist Ihr Ziel oder was soll sich ändern? Wie erfahren Sie von diesen Spaziergängen? Welche Sorgen treiben Sie um? Wie sehen Sie die anderen Teilnehmenden? Nun sprechen die sechs die Leute an, die sich zu einem sogenannten Spaziergang versammelt haben. Dabei hören sie einiges, was sie schon wussten: Skepsis und Wut gegenüber der Presse, Unverständnis für die strikten Pandemie-Maßnahmen und vehemente Ablehnung der viel diskutierten Impfpflicht. Urplötzlich werden alle Gespräche abgebrochen. Aus den aufgefächerten Grüppchen wird ein Zug von ca. 150 Menschen, die laut skandierend und mit Polizeibegleitung Richtung Fischmarkt ziehen.

Im Auswertungsgespräch sprechen wir im Anschluss über das, was wir erfahren haben. ‚Das ist wirklich eine richtige Bubble‘, stellt Katharina fest. ‚Die treffen sich da jede Woche und viele kennen sich untereinander.‘ Auch wurde das absichtliche Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei ganz deutlich. ‚Ich war überrascht, wie nett viele waren‘, bemerkt Fabienne. ‚Ins Gespräch zu kommen war total einfach. Nur weiß ich nicht, ob wir eine gemeinsame Gesprächsgrundlage finden könnten.‘ Zwar seien viele der dort genannten Probleme welche, die die Bubble Crasher selbst auch sehen. Nur kommen sie zu anderen Schlüssen. ‚Was ich schwer finde anzuhören, sind diese Vergleiche: Masken sind Mist, aber keine Folter!‘ Trotzdem finden es alle wichtig, das Gespräch zu suchen, auch wenn es bis zur Verständigung ein weiter Weg ist.“

3. Was ist mit klarer Kante?

Sehr kurz: Jesus, wie wir in den Evangelien von ihm lesen, hat beides gemacht: Er war bereit mit jedem und jeder zu reden und sich zusammen an den Tisch zu setzen. Zugleich hat er Haltung gezeigt und Kante gezeigt. Ich nenne nur die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel und die Gerichtsgleichnisse mit ihren ganz klaren Ansagen. In dieser Spannung leben wir als Christen in seiner Nachfolge bis heute.

Ich habe vor ein paar Jahren ein Podium mit Frank Hiddemann (Gera) und Lothar König (Jena) organisiert. Pfarrer Frank Hiddemann hatte damals zuvor Gespräche mit der AfD moderiert. Jugendpfarrer Lothar König war mit der antifaschistischen Jungen Gemeinde Mitte Jena auf vielen Demos seit den 1990er Jahren aktiv.

Am Anfang dieses Jahres kam in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKMD) erneut die Idee auf: Gemeinden sollen Wählerforen organisieren unter Einschluss von AfD-Kandidaten, geleitet von geschulten Moderatoren und Moderatorinnen. Nach „Potsdam“ (Correctiv-Recherche über das Treffen von Rechtsextremen in einer Potsdamer Villa) hieß es dann wieder: Kein Podium, keine Bühne der AfD. Das war und ist auch der Kurs der Evangelischen Akademie Thüringen und aller Evangelischen Akademien im Dachverband der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD). Die ostdeutschen Akademiedirektoren – eine Direktorin darunter – haben sich kürzlich mit einer ersten Stellungnahme zur Demokratie zu Wort gemeldet, Überschrift: „Konsens und Konflikt“. Ich sage darin: „Die AfD ist eine kirchenfeindliche Partei. Ihre Propaganda ist unvereinbar mit dem ethischen Kern des Christentums.“

In diesem Sinne habe ich auch schon 2019 nach der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Thüringer Ministerpräsidenten – mit Stimmen der AfD – öffentlich erklärt:

„Formal war diese Wahl korrekt. Legitim war sie nicht. Denn die AfD zielt offensichtlich auf die Unterminierung der freiheitlichen Demokratie, zu der die Evangelischen Kirchen in Deutschland als „Angebot und Aufgabe“ (Demokratiedenkschrift 1985) eindeutig stehen. Deshalb ist es erschreckend, wenn diese Wahl und die damit verbundenen Vorgänge von manchen im Nachhinein verkannt, verharmlost oder sogar gutgeheißen werden. Rechtsextremisten dürfen keinen Einfluss auf Regierungshandeln erlangen. Das muss Konsens unter Demokraten sein.“

Und klar war ich damals mit auf der großen Demo in Erfurt, wie jetzt am 20. Januar auch wieder.

4. Eine Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer

Ich denke, wir müssen uns immer wieder neu fragen: Was ermöglicht Versöhnung. Und: Was steht Versöhnung entgegen? Denn schließlich gibt es auch eine falsch verstandene Toleranz und einen feigen, falschen und bequemen Frieden. Davor warnen schon die Propheten.

Doch kann andererseits auch das eigene Herz der Versöhnung entgegenstehen. Zu dieser Spannung sind mir in den letzten Jahren ein paar Zeilen von Dietrich Bonhoeffer wichtig geworden: Zum Jahreswechsel 1942/43 zieht Bonhoeffer „Nach zehn Jahren Rechenschaft“ und schreibt: „Wir stehen mitten in einem Prozess der Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten.“

Und er warnt deutlich: „Wenn man nicht mehr weiß, was man sich und anderen schuldig ist, wo das Gefühl für menschliche Qualität und die Kraft, Distanz zu halten, erlischt, dort ist das Chaos vor der Tür. Wo man um materieller Bequemlichkeiten duldet, dass die Frechheit einem zu nahe tritt, dort hat man sich bereits selbst aufgegeben, dort hat man die Flut des Chaos an der Stelle des Dammes, an die man gestellt war, durchbrechen lassen und sich schuldig gemacht am Ganzen.“

Doch zugleich schreibt er auch: „Die Gefahr, uns in die Menschenverachtung hineintreiben zu lassen, ist sehr groß. Wir wissen wohl, dass wir kein Recht dazu haben, und dass wir dadurch in das unfruchtbarste Verhältnis zu den Menschen geraten.“

Zudem gilt: „Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd.“ Und schließlich ist mit Bonhoeffer daran zu erinnern: „Gott selbst hat die Menschen nicht verachtet, sondern ist Mensch geworden um der Menschen willen.“

Autor: Sebastian Kranich, Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen.

Die Redaktion dankt dem Autor, dass er den Text seines Vortrags unentgeltlich zur Veröffentlichung auf unserer Homepage und in unserem Freundesbrief zur Verfügung gestellt hat.

Einen Bericht über das Treffen der Region „Mitte“ am 9. März 2024 in Weimar finden Sie hier.