„Ein kostbarer Moment“ – Bundespräsident Steinmeier in Coventry

Der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Coventry war mehr als eine Station am Ende eines dreitägigen Staatsbesuchs im Vereinigten Königreich. Gerade durch seine Platzierung am Schluss gewann er besonderes Gewicht: ein bewusst gesetztes Innehalten an einem Ort, an dem europäische Geschichte in seltener Dichte erfahrbar ist – Schuld und Hoffnung, Zerstörung und Neubeginn liegen hier sichtbar ineinander verschränkt.

Der Staatsbesuch stand im Zeichen der Bemühungen um eine Erneuerung der deutsch-britischen Partnerschaft. Er fiel in eine Phase, in der nach Jahren der Distanz infolge des Brexits politische, kulturelle und zivilgesellschaftliche Beziehungen neu justiert werden. Empfänge auf Schloss Windsor, Gespräche mit Regierung und Parlament, die Rede im Westminster Palace – all dies markierte die politische Ebene eines Besuchs, der deutlich nach vorn gerichtet war. Dass Coventry den Abschluss bildete, ergänzte diesen Zukunftsblick um eine notwendige historische Erdung: Zukunft ohne Erinnerung bleibt leer.

Coventry: Tiefpunkt und Wendepunkt

Gedenken in der Ruine der zerstörten Kathedrale (Foto: Coventry Cathedral)

Coventry steht – wie der Bundespräsident selbst formulierte – für ein doppeltes Symbol: für den Tiefpunkt der deutsch-britischen Beziehungen und zugleich für deren Wendepunkt. In den Ruinen der 1940 zerstörten Kathedrale wird Schuld weder relativiert noch Leid gegeneinander aufgerechnet. Zugleich erinnert dieser Ort daran, dass hier schon wenige Jahre nach dem Krieg ein anderer Ton angeschlagen wurde: nicht der der Vergeltung, sondern der der Versöhnung.

Diese Spannung prägte den Besuch. Der Bundespräsident legte einen Kranz am aus Trümmersteinen errichteten Altar in der Ruine nieder – ein schlichtes, aber sprechendes Zeichen des Gedenkens an die Zerstörung, die deutsche Bomben über die Stadt gebracht hatten. Der Dekan der Kathedrale, Dean John Witcombe, beschreibt diesen Moment als „poignant“, als besonders eindrücklich. Mit Blick auf den Bundespräsidenten schreibt er:

„To stand in the ruins with any of our many German visitors is a poignant experience, but especially so with the President.“ – „Mit jedem unserer vielen deutschen Gäste in den Ruinen zu stehen, ist eine eindrückliche Erfahrung – aber mit dem Bundespräsidenten in besonderer Weise.“

Zeichen, die verbinden

Unmittelbar im Anschluss führte der Weg vom Altar der Ruinen zur Skulptur „Choir of Survivors“ des Dresdner Künstlers Helmut Heinze – ein Geschenk der Frauenkirche Dresden zum goldenen Jubiläum der neuen Kathedrale von Coventry. Die Skulptur erinnert an die Opfer der Luftangriffe auf Dresden und verknüpft diese Erinnerung bewusst mit der Geschichte Coventrys. Dean John beschreibt sie

„as a memorial to those killed in Dresden, uniting us in remembrance of the loss suffered on all sides in war – a sign of reconciliation.“ – „als Denkmal für die in Dresden Getöteten, das uns vereint im Erinnern an das Leid, das der Krieg auf allen Seiten hinterlassen hat – ein Zeichen der Versöhnung.“

Die weltweite Gemeinschaft des Nagelkreuzes

Beim anschließenden Besuch in der neuen Kathedrale begegnete der Bundespräsident einem der ursprünglichen Nagelkreuze – geformt aus Nägeln des brennenden Dachstuhls der zerstörtenGedenkgottesdienst mit Dean John, Frank-Walter Steinmeier, Elke Bedenkender und Bischöfin Sophie (Foto: Coventry Cathedral) Kathedrale. Dean John erläuterte, dass Repliken dieser Kreuze heute in der Justizvollzugsanstalt Würzburg gefertigt und an neue Mitglieder der Nagelkreuzgemeinschaft überreicht werden. Er erinnert:

„This community unites almost 300 centres across the world in the work of reconciliation: healing the wounds of history; learning to live with difference and celebrate diversity; building a culture of peace.“ – „Diese Gemeinschaft vereint weltweit nahezu 300 Zentren in der Versöhnungsarbeit: in der Heilung der Wunden der Geschichte, im Lernen, mit Unterschieden zu leben und Vielfalt zu feiern, sowie im Aufbau einer Kultur des Friedens.“

Bereits in seiner Rede vor dem britischen Parlament in London hatte der Bundespräsident die heutige deutsch-britische Freundschaft als „ein Geschenk der Versöhnung“ bezeichnet.

Elke Büdenkender, Dean John und Bundespräsident Frank Walter Steinmeier (v.l.n.r.). (Foto: Coventry Cathedral)

Gebet als gelebte Theologie

Seinen geistlichen Mittelpunkt fand der Besuch in einem kurzen Versöhnungsgottesdienst. Gebete verschiedener Traditionen kamen zu Wort. Auch hier war die Symbolik bewusst gewählt: Dean John betete das Vaterunser auf Deutsch – eine Praxis, die er nach eigenen Worten bei besonderen Anlässen pflegt. Er schreibt dazu:

„I led the Lord’s Prayer in the German language … as a sign of the reconciliation won for us in Christ, which unites us in prayer for a better future for all.“ – „Ich habe das Vaterunser in deutscher Sprache gebetet … als Zeichen der in Christus für uns errungenen Versöhnung, die uns im Gebet zu einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft für alle vereint.“

Mehr als ein politischer Besuch

Der Bundespräsident reiste nach Coventry, um in den Ruinen der Kathedrale einen Kranz niederzulegen und an einem Gedenk- und Versöhnungsgottesdienst teilzunehmen – an einem Ort, der daran erinnert, dass Frieden nicht selbstverständlich ist und Versöhnung keine abgeschlossene Geschichte kennt.

Dass der Bundespräsident diesen Ort aufsuchte, verlieh einer Haltung öffentliche Geltung, die die Nagelkreuzgemeinschaft seit 1947 prägt: Erinnerung und Zukunft müssen zusammen gedacht werden, und Versöhnung beginnt mit dem Blick auf die Wahrheit der Geschichte.

Autor: Niels Faßbender mit einem Beitrag von John Witcombe, Dean of Coventry

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