Nagelkreuzgottesdienst auf dem Kirchentag
„Stehe ich denn an Gottes statt“ – Predigt von Klaus Majoress im Nagelkreuzgottesdienst beim Kirchentag 2025
„Kirche überfüllt“ stand auf dem Schild, das Pfadfinder:innen am 1. Mai vor St. Clemens in Hannover hochhielten. Kein Promi, kein Politiker – und doch kein Platz mehr frei. Die Menschen kamen, weil sie etwas suchten: Trost, Hoffnung, Versöhnung. In einer Zeit voller Krisen war dieser Gottesdienst ein starkes Zeichen: Der Wunsch nach Frieden ist lebendig. Die Liturgie führte durch Klage, Gebet und Musik zu einem mutigen Trotzdem-Glauben. Psalm 139, das Glaubensbekenntnis von Seoul und das Versöhnungsgebet von Coventry rahmten die Predigt von Klaus Majoress: Anhand der Geschichte von Josef und seinen Brüdern (1. Mose 50) zeigte er, dass Versöhnung möglich ist – wenn wir nicht an Gottes Stelle urteilen, sondern vergeben. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen – aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Diese biblische Wende wurde zur Botschaft des Tages: Es gibt Hoffnung. Es gibt Versöhnung. Lesen Sie hier die Predigt zu 1. Mose 50, 15-21.
Liebe Gemeinde, „Und siehe, es war alles, alles gut!“ So endet Josef von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts. In diesem Satz mündet der phantastische Bericht einer aufregenden Reise voller Leiden und Verwirrung, voller Schuld und Versagen. „Und es war alles, alles gut!“ Solche Schlusssätze wünscht sich wohl jeder von uns für die Geschichte seiner eigenen Wanderungen – für die Wanderungen, zu denen wir oft mit klaren Zielen aufbrechen und in deren Verlauf wir doch auf Abwege und Irrwege geraten. Wir erfahren Schuld und werden schuldig. Wir leben uns auseinander: Brüche, Versagen, Versäumnisse … Ich könnte die Reihe grenzenlos fortsetzen – umso mehr, wenn ich auf das bedrückende Geschehen in der Weltgeschichte schaue, nicht nur in unseren Tagen. Wenn wir am Ende wenigstens sagen könnten: „Und es war alles, alles gut!“ Dann könnten wir die Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten auf uns nehmen, dann könnten wir mit Schuld und Versagen leben, dann könnten wir unseren Weg festen Schrittes und zügigen Ganges gehen. Aber wer kann das schon?
Aber anscheinend gibt es das, auch wenn es uns fremd klingt. Anscheinend gibt es das: am Ende einer Lebensgeschichte, die von viel Schuld und Bösem gekennzeichnet ist, in der Neid und Feindschaft zu schlimmen Verstrickungen führten. Es ist die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Was war geschehen? Rufen wir uns noch einmal ein paar Momente dieser eindrücklichen Erzählung in Erinnerung. Es begann damit, dass Jakob Joseph als seinen Lieblingssohn behandelte, ihn offenkundig bevorzugte. Das erzeugte Selbstüberschätzung bei Joseph, aber auch Neid bei seinen Brüdern. Er träumte von der Herrschaft über die Brüder und den Vater. Die Brüder aber duldeten die Überordnung Josephs nicht. Sie planten, ihn bei der erstbesten Gelegenheit umzubringen. Nur weil Juda und Ruben, die älteren Brüder, die anderen vom Mord abhielten, wird Joseph in eine Zisterne geworfen und als Sklave nach Ägypten verkauft. Die Brüder decken ihre Untat des Menschenhandels gegenüber ihrem Vater mit der Lüge von einem tödlichen Unfall zu. Keiner spürt Erbarmen mit dem Opfer, keiner übt Solidarität. Alle finden es richtig.
Ohne es zu wissen, treffen die Brüder nach vielen Jahren wieder auf ihr Opfer. Diesmal sind sie die Bittsteller – Wirtschaftsflüchtlinge, würde man heute wohl sagen. Sie bitten um Korn, da eine Hungersnot in Israel herrschte und die Getreidespeicher in Ägypten dank der klugen Vorratswirtschaft voll sind. Joseph ist inzwischen durch seine Traumdeutungen zu hohem Ansehen am pharaonischen Königshof gelangt. Er gibt sich nicht zu erkennen und versöhnt sich auch nicht mit den Brüdern, vielmehr lässt er sie die ganze Härte seiner Machtposition spüren. Er wirft ihnen Spionage vor, zwingt sie, von der Familie zu sprechen, zwingt sie, den jüngsten Bruder Benjamin zu holen. Er lässt sie spüren, wie es ist, wenn man unbarmherziger Willkür ausgesetzt ist, stellt ihre Familiensolidarität auf die Probe.
Und es geschieht das Dramatische: Die Brüder kommen zur Einsicht ihrer Schuld. Wahrlich, wir sind schuldig gegenüber unserem Bruder, dessen Herzensangst wir sahen, als er uns anflehte, aber wir haben nicht darauf gehört. Darum kommt diese Not jetzt über uns. Und genau an diesem Punkt geschieht das Entscheidende, liebe Gemeinde, das Eigentliche der Geschichte. Genau an diesem Punkt führt uns diese Geschichte in das Zentrum biblischen Glaubens. Aber Joseph weinte! Und er sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, stehe ich denn an Gottes statt? (Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich ein großes Volk am Leben zu erhalten. So fürchtet euch nicht, ich will euch und eure Kinder versorgen.) Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Wie entscheidend, liebe Gemeinde, ist diese Kehrtwende, wie entscheidend dieser Augenblick. Joseph reagiert nicht mit Vorwürfen, nicht mit Bestrafung, nicht mit weiteren Verstrickungen. Nein: Er weinte! Genau da geschieht Versöhnung: Joseph weiß um Gottes Heilsplan, der ein großes Volk am Leben erhalten will. Und er weiß, dass er selbst nicht unbeteiligt ist an der Schuldgeschichte seiner Familie und dass es letztlich nur Gottes Urteil sein kann, das über unserem Leben gesprochen wird. Das lässt ihn frei werden für Vergebung und Versöhnung, das macht ihn frei für einen neuen Anfang.
Und beides, liebe Gemeinde, führt in die Freiheit der Gotteskindschaft, beides eröffnet Zukunft, lässt uns nach vorne blicken, lässt unseren Weg weitergehen, lässt Vergangenes Vergangenheit sein. Es verharmlost Schuld nicht, aber es lässt Versöhnung zu. Fürchtet euch nicht, stehe ich denn an Gottes statt? Oder, um es mit der Kirchentagslosung zu sagen: mutig, stark, beherzt – „Wachet, steht im Glauben, seid mutig und stark. Alle eure Dinge lasst in Liebe geschehen.“ So diese Worte im 1. Korintherbrief, Kapitel 16, aus denen das Kirchentagsmotto stammt.
Da, liebe Gemeinde, setzt Versöhnung an. Stehe ich denn an Gottes statt? Habe ich denn das Recht, ein endgültiges Urteil über einen Menschen zu sprechen? Vielleicht liegt Thomas Mann nicht so ganz schief, wenn er am Ende seines Romans Joseph und seine Brüder Joseph sagen lässt: Aber wenn es um Verzeihung geht unter den Menschen, so bin ich’s, der euch darum bitten muss – denn ihr musstet die Bösen spielen, damit alles so käme.
Trotz all unserer gegenteiligen Erfahrung bleibt Versöhnung der Anspruch Gottes an uns. In einer Zeit, in der sich die Gottvergessenheit immer tiefer festsetzt, dürfen wir den Menschen die Botschaft von Gottes Nähe nicht verweigern, können wir das Wort von der Versöhnung nicht bei uns behalten. In einer Zeit, in der sich viele nicht nur gegen die Versöhnung Gottes sperren, sondern auch unversöhnlich miteinander umgehen, bekommt die Rolle als Botschafter an Christi statt klare Konturen. Das Wort von der Versöhnung wartet darauf, dass wir ihm mit unserem Leben entsprechen – mutig, stark und beherzt.
„Es war alles, alles gut“ – ob es das gibt? Die Antwort entscheidet sich daran, ob wir fragen: Stehe ich denn an Gottes statt? Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn.
Autor: Klaus Majoress, Superintendent a. D., Nagelkreuzzentrum Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg
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