Beiträge

Peace and Reconciliation

Uhland Spahlinger zur Situation in der Ukraine

Zur Situation in der Ukraine erreichten uns vor wenigen Wochen einige persönliche Zeilen des amtierenden Bischof der Ev.-Luth. Kirche der Ukraine. Angesichts der aktuellen Entwicklungen eine Momentaufnahme, die schon fast wieder überholt ist: Um zu verstehen, warum die Eskalation der politischen Situation in der Ukraine, vor allem in Kiew, so ungewöhnlich ist, muss man zuerst wissen, dass die Menschen im Land gewöhnlich sehr geduldig und abwartend sind: Sie erwarten nicht viel von ihrer Obrigkeit. Zudem ist Ukraine, verallgemeinernd gesagt, im Blick auf die Anbindung an die EU geteilt nach Ost und West. Auslöser der aktuellen Demonstrationen war nach meiner Einschätzung zum einen die Haltung von Präsident Janukovich, der schlussendlich ‚die russische Karte‘ gespielt hat, obwohl er zuvor relativ deutliche andere Signale gesendet hatte. Zum anderen war es der Ausbruch von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte gegen friedliche Demonstranten Ende November („sie schlagen Kinder!“), die gewaltsame Räumung der Barrikaden Mitte Dezember. Zusätzlich angefacht wurden die Proteste durch den brutalen Angriff auf die Journalistin Tetjana Schornowil.
Ich kenne die Stadtgeographie zwischen Chreshatik, Maidan und dem Präsidentenpalast gut; die Berichte, die ich in der elektronischen Ausgabe der englischsprachigen „Kyiv Post“, aber auch etwa in ZEIT online gelesen habe, scheinen mir ein realistisches Bild zu zeichnen: Es ist der wuchtigste und für die Regierung gefährlichste Ausbruch von Protest seit der „orangenen Revolution“.
In einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft wie der der Ukraine ist auch ganz klar, dass sich die Proteste auf die Hauptstadt konzentrieren. Die Provinz wird kaum wahrgenommen. Und natürlich ist – das wissen alle – Kiew das alte Symbol für die Macht und den Glanz der Ukraine (Taufe der Kiewer Rus 988), bevor dann die Herrscher gen Norden und Nordosten (Nowgorod und Moskau) abwanderten.
Der englische Botschafter sagte mir einmal sinngemäß über die politische Lage: Wer Kiew hat, hat das Land, wer Kiew verliert, verliert das Land.
Von Odessa aus (hier ist es ganz ruhig) ist schwer zu beurteilen, ob z.B. Regierungskräfte als Provokateure auftreten, um die friedlichen Demonstranten zu diskreditieren. Sicher ist, dass ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen persönlichen oder Gruppenzielen (darunter z.B. auch nationalistische Kräfte – aber das scheint mir eine Minderheit zu sein) an den Demonstrationen beteiligt sind. Die oppositionellen Kräfte schwächen sich gegenseitig dadurch, dass sie nur das ‚Gegen Janukowitsch’ einigt, nicht aber die Formulierung eigener gemeinsamer Ziele. Das Misstrauen der einen gegen die anderen ist groß und die Kunst des politischen Kompromisses als Handlungsgrundlage ist in der Kultur des Landes nicht eingeübt. Unsere evangelisch-lutherische St. Katharinenkirche Kiew liegt in unmittelbarer Nähe zum Präsidentenpalast; Pastor Ralf Haska, der dort Dienst tut, berichtete mir von verstopften Straßen, von schwerbewaffneten Sicherheitskräften und davon, dass es zeitweise unmöglich war, etwa mit dem Auto aus dem Viertel herauszukommen. Die Gemeinde lädt zu Friedensgebeten, zum Verweilen und zum Ausruhen ein; Tee, belegte Brote und Suppe sind bei Minusgraden sowohl bei Demonstranten wie bei Sicherheitskräften willkommen.