Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und „klarer Kante“

Dr. Sebastian Kranich, Direktor der Ev. Akademie Thüringen. Foto: privat

Das war der Titel eines Vortrags von Dr. Sebastian Kranich beim Treffen der Region „Mitte“ am 9. März 2024. Kranich ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen. In seinem Vortrag blickt er unter anderem auf seine Kindheit und Jugend in der DDR zurück und nimmt eine eindeutige politische Haltung ein: “Die AfD zielt offensichtlich auf die Unterminierung der freiheitlichen Demokratie. Rechtsextremisten dürfen keinen Einfluss auf Regierungshandeln erlangen.“

Blick in den Rückspiegel

Ich fange mit einem biografischen Blick in den Rückspiegel meiner Kindheit an. Damit Sie wissen, mit wem sie es zu tun haben. Oder vorsichtiger: Damit sie wissen, was mich seinerzeit geprägt hat. Zugleich schwingen bei diesem Rückblick die heutigen Herausforderungen schon mit. Allein schon deshalb, weil ich mir hier und heute darüber Gedanken mache.

Ich komme aus Dresden. Meine Mutter hat den Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 als kleines Mädchen überlebt und immer eindrücklich von diesem Geschehen erzählt. Mein Vater hat ihn ebenfalls erlebt. Und zwar fünf Wochen vor seiner Geburt. Im Bauch seiner Mutter, die bei diesem Angriff verschüttet wurde. Ich kenne noch die Spuren des Krieges – die Semperoper, die Frauenkirche, das Dresdner Schloss als Ruinen.

Geboren bin ich 1969 im Diakonissenkrankenhaus Dresden. Seit 1965 war die Dresdner Diakonissenanstalt das zweite Nagelkreuzzentrum in der DDR. Wie sie wahrscheinlich wissen, halfen englische Freiwillige im Rahmen eines ökumenischen Jugendaufbaulagers beim Wiederaufbau des zerstörten Diakonissenmutterhauses in Dresden.

Gesungen habe ich als Kruzianer in der Dresdner Kreuzkirche – ebenfalls ein Nagelkreuzzentrum. Was ein Nagelkreuz ist, habe ich so schon in meiner Kindheit und Jugend mitbekommen. Der 13. Februar ist für mich bis heute ein wichtiges Datum. Das hat ganz wesentlich auch mit dem Kreuzchor zu tun. Die Aufführungen des Dresdner Requiems von Rudolf Mauersberger und – jährlich – der Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ in der Kreuzkirche mit ihren Kriegsspuren haben sich in meine Erinnerung eingebrannt.

Versöhnung – das war das große Thema der Gedenkgottesdienste, die nach den Konzerten stattfanden: Also Vergebung und Versöhnung mit Engländern und Amerikanern, wo die DDR-Staatspropaganda in den 1980er Jahren ganz andere Töne anschlug, auch an diesem Tag. Es ging um Versöhnung mit dem Blick zurück. Aber eben nicht nur. Es war eben auch ein Tag der unabhängigen Friedensbewegung, wo es um das ganz aktuelle atomare Wettrüsten ging.

Ich erinnere mich auch an den jährlichen Gang am 13. Februar mit der Kerze in der Hand aus der übervollen Kreuzkirche hinüber zur Ruine der Frauenkirche. Dort wurden die Kerzen dann an der Ruine abgestellt. Im Nachhinein betrachtet war das ein Vorläuferritual für die Kerzendemos der friedlichen Revolution.

Warum erzähle ich das? Weil für mich daran etwas klar wird, was so überhaupt stimmt:

Versöhnung und Protest gehören zusammen.

Ein Gottesdienst zum 13. Februar war zugleich eine Versöhnungs- und eine Protestveranstaltung: Versöhnung im Blick auf das Vergangene. Und Protest im Blick auf die Gegenwart. So wie der alte Versöhnungsbibelspruch „Schwerter zu Pflugscharen“ ein Protestspruch für die Gegenwart wurde. Ich habe ihn als Aufnäher auch getragen. Mit 12 ½ Jahren. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns dringend geraten wurde, ihn zu entfernen. Und ich mir aus Pappe einen CND-Anstecker („Campaign for Nuclear Disarmament” – „Kampagne für nukleare Abrüstung“) bastelte, den ich als „Ersatzsymbol“ trug.

In der Friedensgruppe „Gewaltlos leben“, zu der ich seit dem Sommer 1988 gehörte, wurde gern von den Falken und den Tauben gesprochen. Also von Leuten, die mehr auf klare Kante setzten und Leuten, die mehr auf Verständigung und Dialog aus waren. Beide Gruppen aber gehörten zur selben Friedensgruppe, die – Nebenbemerkung – heute noch existiert. Zu einer Gruppe, deren Mitglieder eine Selbstverpflichtung unterschrieben hatten. Orientiert an den 10 Geboten der Gewaltlosigkeit von Martin Luther King. Einer Gruppe, deren zweites Gebot heißt: Ich verpflichte mich „Nie zu vergessen, dass ich mit meinem gewaltlosen Leben Gerechtigkeit für alle und Versöhnung suche.“ Und ich greife vor: Auch heute gehören beide Gruppen von Menschenkindern – symbolisch gesprochen Falken und Tauben – zur Kirche.

Versöhnung und Protest: Das gehörte damals auch bei vielen zusammen, die den Waffendienst in der NVA verweigerten oder den Wehrdienst überhaupt. Auch ich war Bausoldat 1988/89, die meiste Zeit in Merseburg. Aus den Erfahrungen und Briefen der Zeit habe ich ein Buch gemacht, Titel: Erst auf Christus hören, dann auf die Genossen. Bausoldatenbriefe. Merseburg, Wolfen, Welzow 1988/89, Halle 2006. Darin gebe ich mir Rechenschaft über die Zeit und präsentiere Dokumente und damit eben auch den O-Ton der Zeit. Ich habe nochmal reingesehen, was dort zu unserem Thema zu finden ist. Und habe mir die Lebensregel der Nagelkreuzgemeinschaft durchgelesen. Auf diese Weise bin ich auf einen Brief gestoßen, den ich am 3. Februar 1989 an meine damalige Freundin geschrieben habe, in dem es heißt:

„Was erwartest Du vom Leben? Die Frage ist falsch gestellt. Aber typisch für in der DDR erzogene oder lebende Leute. Erschreckend typisch für unsere Generation. Diese ‚gib‘ Haltung. Der Staat, Gesellschaft oder Eltern oder sonstwas geben nämlich immer. Von hinten und vorne versorgt. Es wir alles für Dich oder allen mit Dir gemacht. Von der Wiege bis zur Bahre durchgeplant. Spielst Du einigermaßen mit, dann gibt’s gesicherten Krippenplatz, Kindergarten, Schulbildung, Lehre, Armee, Beruf, Rente, Volkssolidarität, Begräbnis. Die Passivisten. Die, die erwarten.

Meine Frage ist: Was willst Du mit deinem, dir gegebenen Leben anfangen? Du hast die völlig freie Entscheidung. Ne Quatsch; Du musst Dir die Entscheidungsfreiheit nehmen. Gegen ziemlich viele Widerstände sogar. Was will ich also. Ich will, dass das Militär, die Unterdrückung, die Gewalt, der Hass, die Umweltzerstörung, der sinnlose Mord durch Hochrüstung, die Glaubens- und Gewissensbespitzelung und, und, und … – also die ganze Gottlosigkeit der kaputten Welt endlich aufhört. Ein reichhaltiger Aufgabenkatalog! Nicht zu schaffen? Keine Chance? Weltfremde Hirngespinste?

Und da wären wir schon bei Frage zwei. Was ist das Wesentliche an Christus? Das nur auf seinem Weg oder mit seiner Hilfe etwas zu erreichen ist.“

Also: Was machen wir? Was lassen wir mit uns machen – und was nicht? Und schließlich: Was machen wir anders? Ganz große Themen des Lebens – große Politik – ganz konkreter Protest im Brief eines 19-Jährigen. Aber springen wir aus der späten DDR direkt ins Heute:

Miteinander reden? Erfahrungen und Reflexionen von Toleranz und „klarer Kante“

„Wenn ich der Frage nachgehe, wo sich das Festhalten am Ideal der Versöhnung in der aktuellen politischen gesellschaftlichen und politischen Debatte spiegelt, springt mir der Begriff ‚Dialog‘ ins Auge. „‚Wir müssen wieder mehr miteinander reden.‘ – die Inflationsrate dieses Satzes übertrifft die der steigenden Lebenshaltungskosten.“ So schrieb der Theologe Frank Richter, bis 2016 Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen und Organisator geschützter Formate des Dialogs gesellschaftlicher Gruppen, kürzlich (Zeitzeichen, 12/2023, S. 35 [Bezahlschranke]). Ich verstehe ihn gut. Denn hier kommt es nicht auf Sonntagsreden an, sondern auf Genauigkeit. Hierzu vier Punkte:

1. Was ist das überhaupt – Versöhnung?

Dazu Auszüge aus einem Beitrag der Erlanger Neutestamentlerin Christina Eschner in der gleichen Ausgabe der Zeitzeichen (Zeitzeichen, 12/2023, S. 26 ff. [Bezahlschranke]): Die neutestamentliche Wissenschaft ist sich heute mehrheitlich einig: Bei Paulus hat Versöhnung einen eigenen Hintergrund. Dieser liegt nicht in der hebräischen Bibel, sondern in der hellenistischen Diplomatie. In zeitgenössischen Texten begegnet die Rede von der Versöhnung besonders häufig im politischen Kontext. Hier handelt es sich zumeist im militärischen Sinne um die Aussöhnung von verfeindeten Staaten, die sich miteinander in einem Krieg befinden. Versöhnung steht in enger Verbindung mit der Beendigung eines Krieges durch ein Friedensabkommen. Bei dieser zwischen(stadt)staatlichen Versöhnung spielen Gesandte eine große Rolle, die das Versöhnungsangebot überbringen und so den Friedensschluss aushandeln.

Auch Paulus verwendet Versöhnung in diesem Sinne. Versöhnung zwischen Gott und Mensch bedeutet somit nichts anderes als Versöhnung im zwischenmenschlichen Bereich. Paulus bestimmt seinen Dienst genauer als „Dienst der Versöhnung“ und seine Verkündigung als „Wort von der Versöhnung“. Diese Botschaft von der Versöhnung versteht Paulus genauer als Bitte, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Sich selbst bezeichnet Paulus als einen Gesandten, der diese Bitte Gottes zur Versöhnung überbringt.

Bei Paulus wird Gott nicht versöhnt oder lässt sich, einer menschlichen Bitte folgend, umstimmen. Denn für Paulus ist der Tod Christi, der zur Versöhnung der Glaubenden mit Gott führt, gerade der deutlichste Ausdruck der Liebe Gottes. „Lasst euch versöhnen mit Gott“ bedeutet: Gebt eure Feindschaft gegen Gott auf. Gott bietet somit von sich aus die Versöhnung an und fordert die Menschen auf, sein Versöhnungsangebot anzunehmen. Verwirklicht wird Versöhnung nur bei denen, die Gottes Friedensangebot annehmen.

2. Was heißt miteinander reden – auch auf diesem Hintergrund?

Es stimmt, was Frank Richter in den Zeitzeichen schreibt: Es braucht dazu eine Bereitschaft und die Fähigkeit, anderen zuzuhören und sie zu verstehen. Private, familiäre und öffentliche Gespräche zeigen oft, wie schwierig das ist. Aber auch Gespräche im Seniorenkreis oder im Gemeindekirchenrat. Denn wenn Empathie und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel fehlen, dann erleben wir Gespräche als sinnlos und manchmal sogar kontraproduktiv. Und wahrscheinlich sind sie das auch. Die Publizistin Carolin Emcke bringt es auf diesen Punkt: „Gehasst wird ungenau.“

Das positiv und zum Guten gewendet: Immer dann, wenn ich mir zumute, genau hinzuschauen, hinzuhören, dann wächst mein Verständnis für den jeweils anderen – gerade mit seinen Selbstwidersprüchen, mit dem Unfertigen und den Ambivalenzen. Dann wächst mein Verständnis als notwendige Voraussetzung für Versöhnung. Und es braucht dafür Orte und Formate: Das ist nicht die Talkshow. Und das ist auch nicht die Volksversammlung.

Wer Dialoge und Gespräche organisiert weiß: Je größer eine Versammlung ist, desto stärker neigen die Teilnehmenden dazu, sich selbst zu behaupten und die eigene Position wirksam darzustellen. Je kleiner und vertrauter eine Versammlung dagegen ist, desto leichter fällt es, das Eigene einmal loszulassen. Sie kennen das vielzitierte Jesus-Wort: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dieses Wort meint nicht nur das Übliche. Es deutet womöglich auch an, dass sich bestimmte Erkenntnisse nur in einem von Vertrautheit und Nähe geprägten Raum entwickeln können. Das ist eine seelsorgerliche und therapeutische Erfahrung.

Es scheint mir aber auch fruchtbar im Blick auf unsere virtuellen und sozialen Filterblasen. Die Jugendbildung der Evangelischen Akademie Thüringen betreibt seit 2019 das Projekt „Bubble-Crasher: Raus aus der Filterblase“. Im letzten Jahr wurde es mit dem 3. Preis beim Thüringer Demokratiepreis ausgezeichnet. Die Idee dahinter ist: Mit Leuten ins Gespräch kommen, die anders sind und denken als ich. Die Hauptmethode ist dabei: „Mehr fragen, weniger sagen.“

Dazu werden die eigenen Bubbles erst identifiziert, um sie danach ganz bewusst und zeitlich begrenzt zu verlassen. Das Erkenntnisinteresse ist, wie gesagt: Warum denken manche Menschen ganz anders als ich? Und: In welchen Punkten sind wir uns näher, als wir denken?

Dazu ein kurzer Praxis-Anwendungs-Bericht von Dr. Annika Schreiter, Studienleiterin für politische Jugendbildung in unserer Thüringer Akademie aus dem Jahr 2022: „Vergangenen Montag war es in Erfurt kalt und regnerisch. Auf dem Anger stehen sechs junge Menschen beisammen und schauen sich zaghaft um. ‚Hier ist doch überhaupt niemand, der demonstrieren möchte! Nur jede Menge Polizei‘, meint Inga. Der Blick auf Twitter verrät mir etwas anderes. Unter dem Hashtag #ef0702 steht: ‚Auf dem Anger befinden sich aktuell 150 Schwurblis, in Gruppen gefächert.‘ – Moment, Schwurblis?

Wir stehen doch auch hier! Doch dann wird es immer voller. ‚Jetzt oder nie: Wenn ihr ins Gespräch kommen wollt, sprecht Leute an!‘, sage ich. Die Sechs nicken, sie haben Fragen im Gepäck: Warum nehmen Sie hier teil? Was ist Ihr Ziel oder was soll sich ändern? Wie erfahren Sie von diesen Spaziergängen? Welche Sorgen treiben Sie um? Wie sehen Sie die anderen Teilnehmenden? Nun sprechen die sechs die Leute an, die sich zu einem sogenannten Spaziergang versammelt haben. Dabei hören sie einiges, was sie schon wussten: Skepsis und Wut gegenüber der Presse, Unverständnis für die strikten Pandemie-Maßnahmen und vehemente Ablehnung der viel diskutierten Impfpflicht. Urplötzlich werden alle Gespräche abgebrochen. Aus den aufgefächerten Grüppchen wird ein Zug von ca. 150 Menschen, die laut skandierend und mit Polizeibegleitung Richtung Fischmarkt ziehen.

Im Auswertungsgespräch sprechen wir im Anschluss über das, was wir erfahren haben. ‚Das ist wirklich eine richtige Bubble‘, stellt Katharina fest. ‚Die treffen sich da jede Woche und viele kennen sich untereinander.‘ Auch wurde das absichtliche Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei ganz deutlich. ‚Ich war überrascht, wie nett viele waren‘, bemerkt Fabienne. ‚Ins Gespräch zu kommen war total einfach. Nur weiß ich nicht, ob wir eine gemeinsame Gesprächsgrundlage finden könnten.‘ Zwar seien viele der dort genannten Probleme welche, die die Bubble Crasher selbst auch sehen. Nur kommen sie zu anderen Schlüssen. ‚Was ich schwer finde anzuhören, sind diese Vergleiche: Masken sind Mist, aber keine Folter!‘ Trotzdem finden es alle wichtig, das Gespräch zu suchen, auch wenn es bis zur Verständigung ein weiter Weg ist.“

3. Was ist mit klarer Kante?

Sehr kurz: Jesus, wie wir in den Evangelien von ihm lesen, hat beides gemacht: Er war bereit mit jedem und jeder zu reden und sich zusammen an den Tisch zu setzen. Zugleich hat er Haltung gezeigt und Kante gezeigt. Ich nenne nur die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel und die Gerichtsgleichnisse mit ihren ganz klaren Ansagen. In dieser Spannung leben wir als Christen in seiner Nachfolge bis heute.

Ich habe vor ein paar Jahren ein Podium mit Frank Hiddemann (Gera) und Lothar König (Jena) organisiert. Pfarrer Frank Hiddemann hatte damals zuvor Gespräche mit der AfD moderiert. Jugendpfarrer Lothar König war mit der antifaschistischen Jungen Gemeinde Mitte Jena auf vielen Demos seit den 1990er Jahren aktiv.

Am Anfang dieses Jahres kam in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKMD) erneut die Idee auf: Gemeinden sollen Wählerforen organisieren unter Einschluss von AfD-Kandidaten, geleitet von geschulten Moderatoren und Moderatorinnen. Nach „Potsdam“ (Correctiv-Recherche über das Treffen von Rechtsextremen in einer Potsdamer Villa) hieß es dann wieder: Kein Podium, keine Bühne der AfD. Das war und ist auch der Kurs der Evangelischen Akademie Thüringen und aller Evangelischen Akademien im Dachverband der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD). Die ostdeutschen Akademiedirektoren – eine Direktorin darunter – haben sich kürzlich mit einer ersten Stellungnahme zur Demokratie zu Wort gemeldet, Überschrift: „Konsens und Konflikt“. Ich sage darin: „Die AfD ist eine kirchenfeindliche Partei. Ihre Propaganda ist unvereinbar mit dem ethischen Kern des Christentums.“

In diesem Sinne habe ich auch schon 2019 nach der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Thüringer Ministerpräsidenten – mit Stimmen der AfD – öffentlich erklärt:

„Formal war diese Wahl korrekt. Legitim war sie nicht. Denn die AfD zielt offensichtlich auf die Unterminierung der freiheitlichen Demokratie, zu der die Evangelischen Kirchen in Deutschland als „Angebot und Aufgabe“ (Demokratiedenkschrift 1985) eindeutig stehen. Deshalb ist es erschreckend, wenn diese Wahl und die damit verbundenen Vorgänge von manchen im Nachhinein verkannt, verharmlost oder sogar gutgeheißen werden. Rechtsextremisten dürfen keinen Einfluss auf Regierungshandeln erlangen. Das muss Konsens unter Demokraten sein.“

Und klar war ich damals mit auf der großen Demo in Erfurt, wie jetzt am 20. Januar auch wieder.

4. Eine Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer

Ich denke, wir müssen uns immer wieder neu fragen: Was ermöglicht Versöhnung. Und: Was steht Versöhnung entgegen? Denn schließlich gibt es auch eine falsch verstandene Toleranz und einen feigen, falschen und bequemen Frieden. Davor warnen schon die Propheten.

Doch kann andererseits auch das eigene Herz der Versöhnung entgegenstehen. Zu dieser Spannung sind mir in den letzten Jahren ein paar Zeilen von Dietrich Bonhoeffer wichtig geworden: Zum Jahreswechsel 1942/43 zieht Bonhoeffer „Nach zehn Jahren Rechenschaft“ und schreibt: „Wir stehen mitten in einem Prozess der Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten.“

Und er warnt deutlich: „Wenn man nicht mehr weiß, was man sich und anderen schuldig ist, wo das Gefühl für menschliche Qualität und die Kraft, Distanz zu halten, erlischt, dort ist das Chaos vor der Tür. Wo man um materieller Bequemlichkeiten duldet, dass die Frechheit einem zu nahe tritt, dort hat man sich bereits selbst aufgegeben, dort hat man die Flut des Chaos an der Stelle des Dammes, an die man gestellt war, durchbrechen lassen und sich schuldig gemacht am Ganzen.“

Doch zugleich schreibt er auch: „Die Gefahr, uns in die Menschenverachtung hineintreiben zu lassen, ist sehr groß. Wir wissen wohl, dass wir kein Recht dazu haben, und dass wir dadurch in das unfruchtbarste Verhältnis zu den Menschen geraten.“

Zudem gilt: „Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd.“ Und schließlich ist mit Bonhoeffer daran zu erinnern: „Gott selbst hat die Menschen nicht verachtet, sondern ist Mensch geworden um der Menschen willen.“

Autor: Sebastian Kranich, Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen.

Die Redaktion dankt dem Autor, dass er den Text seines Vortrags unentgeltlich zur Veröffentlichung auf unserer Homepage und in unserem Freundesbrief zur Verfügung gestellt hat.

Einen Bericht über das Treffen der Region „Mitte“ am 9. März 2024 in Weimar finden Sie hier.

25 Jahre Nagelkreuz für die Militärseelsorge: Feierlicher Konvent in Strausberg

Foto: Azayan

Das Evangelische Militärdekanat Mitte erneuerte während seines Gesamtkonvents im Februar 2024 in Strausberg bei Berlin seine Mitgliedschaft in der Nagelkreuzgemeinschaft. Anlass war die Verleihung des Nagelkreuzes an den damaligen „Beauftragten für die Seelsorge an Soldaten in den neuen Bundesländern“ vor 25 Jahren.

Damals, am 12. Februar 1999, hatte nicht nur die Dresdner Frauenkirche ihr bekanntes Turmkreuz aus Coventry erhalten. Am gleichen Tag überreichte der seinerzeitige Dekan der Kathedrale John Petty auch ein Nagelkreuz an Dr. Werner Krätschell. Dieser hatte auf Bitte des damaligen Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, 1997 den Aufbau der Militärseelsorge in den „neuen Bundesländern“ übernommen.

Zwar ist das Amt des „Beauftragten“ längst abgeschafft und die evangelische Seelsorge für die Soldatinnen und Soldaten wird seit 2004 auch in den östlichen Bundesländern von der Evangelischen Kirche in Deutschland wahrgenommen. Das Nagelkreuz gibt es allerdings noch immer. Es hat seine Heimat inzwischen beim Evangelischen Militärdekanat Mitte in Berlin. Es wandert durch die Pfarrämter des Dekanatsbereichs, wo es die Gottesdienste und Andachten bereichert. Auch bei zwei Auslandseinsätzen in Afghanistan und im Kosovo war es mit dabei.

Foto: Azayan

Schon bevor Krätschell das Kreuz in Coventry erhielt, war es als Versöhnungsbotschafter auf Schiffen der britischen und deutschen Marine unterwegs. Verliehen war es damals an Militärpfarrer Herbert Tratz, Mitgründer und Mitglied des ersten Vorstandes der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. Es blickt auf eine Geschichte sowohl im Bereich des ehemaligen Nord- als auch Ost-Konvents der Evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr zurück. Inzwischen sind beide Konvente zum Dekanat Mitte vereint. Damit steht das Kreuz neben seiner Versöhnungsbotschaft auch als verbindendes Symbol für den zusammengewachsenen Konvent.

Der Jubiläumsgottesdienst wurde am 28. Februar 2024 im Saal des Strausberger „Zentrums für Informationsarbeit der Bundeswehr“ gehalten. Militärpfarrer Matthias Spikermann erinnerte in seiner Predigt an die Versöhnungsidee von Coventry. Seitens der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. erneuerte anschließend Felicitas Weileder die Verleihung des Nagelkreuzes nun an den zusammengewachsenen Konvent Mitte. Anschließend sprachen Weileder und Dr. Krätschell die Versöhnungslitanei von Coventry. Das Gebet ist auch im Evangelischen Gesang- und Gebetbuch für Soldaten abgedruckt.

Als weitere Gäste waren Dr. Jan Kingreen von der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und Friedensbeauftragter der EKBO, Pfarrerin Angelika Behnke von der Dresdner Frauenkirche und die Vertreter des Nagelkreuzzentrums der Berliner Martin-Luther-Gedächtniskirche Klaus Wirbel, Gerd Niehoff und Rainer Drews zugegen. Im Anschluss an den Abendmahlsgottesdienst sorgte ein Empfang für Gelegenheit zum ausgiebigen Gedankenaustausch.

Foto: Azayan

Für die Organisation der Jubiläumsveranstaltung und die Liturgie des Festgottesdienstes verantwortlich waren Militärpfarrerin Inga Troue, Militärpfarrer Michael Blaszcyk und Militärpfarrer Matthias Spikermann. Die musikalische Ausgestaltung übernahm Pfarrhelfer Kay Dobberstein, welcher inzwischen selbst seit 25 Jahren seinen Dienst in der Militärseelsorge verrichtet.

Autor: Matthias Spikermann

 

Region „Südwest“ hat sich im Haus der Ev. Kirche Pforzheim getroffen

Foto: Gernot Härdt

Im Haus der Ev. Kirche in Pforzheim trafen sich am 9. März 2024 Vertreter:innen der zwölf Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder der Region Südwest. Die rund 25 Teilnehmerinnen waren u. a. aus Württemberg, Darmstadt, Saarbrücken, Offenburg, Karlsruhe und natürlich aus Pforzheim angereist.

Christian Roß berichtete aus der Arbeit des Leitungskreises. Die Teilnehmer:innen regten an, über einen Neuzuschnitt der ausgedehnten Region nachzudenken. Ihren Berichten war zudem zu entnehmen, dass die Beteiligung an den Andachten unterschiedlich ist. Die Zentren mit eher schwacher Resonanz ließen sich ermutigen, trotzdem „dranzubleiben“, um den Versöhnungsgedanken weiterzutragen.

Foto: Hans Gölz-Eisinger

Gegenstand der Überlegungen war auch, den Begriff „Nagelkreuz“ in der Bezeichnung der Andachten durch Wörter wie Friedensgebet, ökumenisches Mittagsgebet o. ä. zu ersetzen, um Außenstehende nicht abzuschrecken. Beraten wurde auch die zukünftige Gestaltung der Nagelkreuz-Jugendarbeit (u. a. Fahrt nach Coventry) und die Einrichtung einer Online-Cloud zum Austausch von Materialien und Informationen.

Foto: Hans Gölz-Eisinger

Roland Ganninger führte die Teilnehmer durch die Stadtkirche Pforzheim und informierte über die Geschichte der Kirche und des dortigen Nagelkreuzes. Den Abschluss des Treffens bildete eine Andacht bei einem Puzzle mit den Namen der Partnergemeinden der Stadt Pforzheim. Das Puzzle soll bis zum Ende des Ukrainekrieges in der Kirche ausliegen und steht unter dem Leitgedanken „Damit aus Fremden Freunde werden“. Das nächste Regionaltreffen Südwest findet am 22. März 2025 in der Ludwigskirche Saarbrücken statt.

Autor: Gernot Härdt

 

25 Jahre Nagelkreuz auf Hiddensee: Symposium „Sehnsucht nach Frieden und Wege dahin“

Inselkirche Kloster/Hiddensee
Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Seit 25 Jahren gehört die Kirchengemeinde Kloster zur Nagelkreuzgemeinschaft. Im April 1999 erhielt sie das Nagelkreuz. Dieses Jubiläum bot Anlass zu einem Symposium, das am Wochenende nach Ostern in Kloster auf Hiddensee zum Thema: „Sehnsucht nach Frieden und Wege dahin“ stattfand. Etwa 60 Teilnehmende kamen aus verschiedenen Nagelkreuzzentren zusammen und gingen der Frage nach, wie die Kriege unserer Zeit uns im Denken und Handeln herausfordern. Welche Schritte auf dem Weg des Friedens können wir gehen? Welche Möglichkeiten und Aufgaben haben wir?

Eine erste Antwort gab Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau, in der voll besetzten Inselkirche. Er berichtete über Hintergründe des Krieges Russlands gegen die Ukraine und stellte fest: Wenn wir nicht die Zuversicht haben, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, dann werden wir es auch nicht tun. Wir müssen uns unserer Stärken bewusst sein.

Zuversicht und Hoffnung! Wie gewinnen wir sie? Durch eine Kultur des Erinnerns, betonte Oliver Schuegraf, Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. Wir müssen uns von Geschichten gelingender Versöhnung tragen lassen und das Nagelkreuz ist eine solche Geschichte. 1940, als deutsche Bomber die englische Stadt Coventry und ihre Kathedrale zerstört hatten, verzichtete der damalige Propst Richard Howard auf Vergeltungsrhetorik. Stattdessen rief er auf, zu Versöhnung offen zu bleiben. „Vater vergib!“. Diese Worte schrieb er an den Altar und aus dem zerbombten Gebälk fügte er Nägel zu einem Kreuz zusammen. So schuf er ein Symbol, das die Friedensbotschaft Jesu in besonderer Weise als Zentrum des christlichen Glaubens vergegenwärtigt. Wege wurden vorbereitet, die nach Ende des Krieges begehbar waren und die Menschen aus verfeindeten Ländern wieder zusammenbrachten. Es wuchs ein Netzwerk für Frieden und Versöhnung mit heute über 250 Nagelkreuzzentren weltweit – 70 davon in Deutschland. Ihr Leitbild ist es, Wunden der Geschichte zu heilen, mit Unterschieden zu leben sowie eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit zu schaffen.

Schuegraf stellte die Frage, ob es Zeiten und Situationen gibt, an denen die Suche nach Frieden und Versöhnung nicht durchdringen kann, bzw. noch schärfer: An denen vielleicht die Forderung nach Frieden und Versöhnung gar nicht angemessen ist? Sollte es solche Zeiten geben, was ist dann in der Zwischenzeit? In Gesprächsgruppen und in einem Podiumsgespräch wurde darüber nachgedacht. Disputanten waren der sächsische Kirchenzeitungsredakteur Stefan Seidel – gerade hat er sein Buch „Entfeindet Euch“ publiziert –, der ehemalige UN-Sonderbeauftragte Martin Kobler und der Agrarwissenschaftler Joachim von Braun, u. a. stellvertretender Präsident der Welthungerhilfe. Betont wurde, dass Krieg in Köpfen von Menschen entsteht und auch nur dort sein Ende findet. Wichtig sei es, in einer Zeit, in der die öffentliche Debatte zunehmend von Kriegsrhetorik geprägt ist, auch eine Sprache des Friedenswillens wach zu halten. Nie dürfe aufgegeben werden, das Gespräch selbst mit Kriegstreibern zu suchen. Es gehört zur Friedensverantwortung, dies immer und immer wieder zu tun. Irgendwann werden auch Feinde wieder zusammenleben müssen. Opfer müssen Tätern vergeben, Täter müssen zur Sühne bereit sein. Vergebung und Versöhnung – im Wissen darum, dass Schuldzusammenhänge umfassend sind, können sie gelingen. Zugleich gilt: Frieden, der nicht nach Gerechtigkeit fragt, kann es nicht geben. Ein Wertekanon, an dem Schuld benennbar und in ihrer Schwere unterscheidbar bleibt, ist unverzichtbar. Um ihn gilt es zu streiten. Internationales Recht muss gelten und Umsetzung finden.

Waffen liefern – ja oder nein? In die Ukraine? Nach Israel? Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Einigkeit bestand im Wissen darum, dass jede mögliche Entscheidung mit Schuld verbunden ist. Und dass uns nichts von der Verantwortung entbindet, für Frieden und Versöhnung einzustehen. Wichtig ist es, sich in der Sehnsucht nach Frieden vereint zu wissen. Und im Gebet verbunden zu sein: „Vater vergib!“

Autor: Dr. Konrad Glöckner

 

Oliver Schuegraf als Landesbischof eingeführt

Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Am 25. Mai 2024 wurde der Vorsitzende der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V., Dr. Oliver Schuegraf, in sein Amt als Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe eingeführt. Während eines Festgottesdienstes in Bückeburg (Niedersachsen) wurde er vom Leitenden Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, Ralf Meister, für seinen Dienst verpflichtet.

Anfang November 2023 hatte die Landessynode Schuegraf einstimmig in das Leitungsamt gewählt (siehe Bericht). In seiner Predigt rief der neue Landesbischof dazu auf, trotz der gegenwärtigen Krisen auf Gottes Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit zu vertrauen. Zudem betonte er, dass sich der christliche Glaube und die Unterstützung von rechtsextremen Parteien gegenseitig ausschließen.

An dem Festgottesdienst wirkten unter anderem der Dekan der Kathedrale von Coventry, John Witcombe, der nigerianische lutherische Erzbischof Musa Panti Filibus, die Vorsitzende des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt aus Schwerin, und Privatdozent Dr. Achim Budde, Direktor der Katholischen Akademie in Bayern, mit.

Auch war die deutsche und internationale Nagelkreuzgemeinschaft gut vertreten: Aus Großbritannien war neben Witcombe auch Dr. Sarah Hills, ehemalige Kanonikerin für Versöhnung an der Kathedrale, angereist. Außerdem nahmen Mitglieder des Vorstands der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft und mit Hannelore Schüller eine Companion der Kathedrale teil. Witcombe überbrachte in seinem Grußwort, das er in deutscher Sprache einleitete, Grüße aus Coventry und von der internationalen Nagelkreuzgemeinschaft.

Schuegraf ist seit 2011 Vorsitzender der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. und seit Mai 2023 zudem „Canon Theologian“ (Ehrenmitglied des Kapitels einer Kathedrale der Kirche von England) der Kathedrale von Coventry. Deshalb hob Witcombe hervor, dass es für ihn ein „bemerkenswertes Zeugnis des Evangeliums der Versöhnung ist, dass ein deutscher lutherischer Geistlicher zum Personal der im Zweiten Weltkrieg zerstörten und 1962 wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry gehört und unseren Dienst in der ganzen Welt vertritt“. Er dankte Schuegraf für seine Freundschaft, seinen Rat und seine Unterstützung bei der gemeinsamen Arbeit für Versöhnung innerhalb der Nagelkreuzgemeinschaft und bei den vielen Reisen, sei es nach England, in die Niederlande, die Vereinigten Staaten von Amerika oder nach Südafrika. Er schloss mit den besten Wünschen für das neue Amt.

Diesen Wünschen schließt sich die Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. an und wünscht ihrem Vorsitzenden Gottes Segen und Rat für seine neue Tätigkeit.

Autorin: Felicitas Weileder

Ein Altarbild für das Nagelkreuz in Odessa

Wahrzeichen mit Friedensbotschaft: Garnisonkirche Potsdam vor der Eröffnung

Die Garnisonkirche Potsdam ist eines von 77 Nagelkreuzzentren in Deutschland und eröffnet 2024 als einzigartiger Erinnerungs-, Bildungs- und Kulturort. Am Ostermontag, 1. April, wird die Kapelle im Turm in Dienst genommen. Dr. Jan Kingreen, Pfarrer und Stiftungsvorstand, erklärt die Geschichte und das Anliegen des Ortes.

Warum hat ausgerechnet die Garnisonkirche Potsdam, die immer wieder als „Symbol des Militarismus“ bezeichnet wird, ein Nagelkreuz? Diese Frage wird mir in regelmäßigen Abständen gestellt. Und ich frage gerne zurück: Wo, wenn nicht hier? Genau hier, an diesem Ort mit seiner ambivalenten Historie, will die Stiftung Garnisonkirche Geschichte kritisch aufarbeiten und für Frieden eintreten. Die friedenstiftende Idee der Versöhnung von Coventry spielt für die Stiftung als Eigentümerin und Betreiberin der Garnisonkirche und für unser Netzwerk Nagelkreuzgemeinde dabei eine wichtige Rolle.

Die Garnisonkirche Potsdam hat eine lange, fast 300-jährige Geschichte. 1730 bis 1735 wurde sie unter dem preußischen „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. erbaut. 1945 brannte die Barockkirche, die als eines der Wahrzeichen Potsdams galt, beim Bombenangriff auf die Stadt aus. 1950 wurde im Turm die Heilig-Kreuz-Kapelle als friedensstiftender Ort eingerichtet. Doch 1968 ließ das kirchenfeindliche DDR-Regime die Reste des Kirchenschiffs und den Turm sprengen. Damit wurde auch der damalige Versammlungsort der evangelischen Heilig-Kreuz-Gemeinde zerstört.

Doch die Geschichte endete nicht. Seit 2017 baut die Stiftung Garnisonkirche Potsdam die Kirche wieder auf – im Geist von Coventry. Bereits 2004 wurde dem Ort das Nagelkreuz von Coventry verliehen. Noch in diesem Jahr, 2024, wird der 57 Meter hohe Turm eröffnet – äußerlich fast originalgetreu in seiner barocken Form, innen mit einem neuen Raum- und Nutzungskonzept als Erinnerungs-, Bildungs-, Kirchen- und Kulturort. Und übrigens auch mit einer Aussichtsplattform, die barrierefrei mit dem Aufzug erreichbar ist. Sie bietet einen fantastischen Blick auf die UNESCO-Welterbestadt Potsdam und bis nach Berlin.

Deutsche Geschichte reflektieren – an einem Ort mit ambivalenter Historie

Foto: Stiftung Garnisonkirche Potsdam

Als Ort der Erinnerung ist die Garnisonkirche fast schon prädestiniert, denn sie steht für die wechselvolle deutsche Geschichte in den vergangenen drei Jahrhunderten, besonders aber des 20. Jahrhunderts. Keine Frage: Die historische Kirche war auch ein Ort antidemokratischer und traditionalistischer Kräfte und galt als Symbol des Militarismus. Am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, inszenierten die Nationalsozialisten in der nationalprotestantischen Kirche die Machtübernahme von Adolf Hitler. Das Foto des Handschlags zwischen Reichspräsident Paul von Hindenburg und Reichskanzler Adolf Hitler vor der Garnisonkirche Potsdam hat sich tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Doch wird diese Geschichte in der wiederaufgebauten Kirche nicht verschwiegen – im Gegenteil.

Ziel des Wiederaufbaus ist gerade, einen Erinnerungs-, Kultur- und Diskursort zu schaffen, in dem die deutsche Geschichte kritisch reflektiert wird – stets mit Blick auf Gegenwartsfragen. Dies findet zum einen in unserer Ausstellung „Glaube, Macht und Militär“ im Turm statt. Zum anderen in unserem breiten Bildungsprogramm und in Veranstaltungen, etwa Diskussionen und Lesungen.

Als Programmvorstand der Stiftung möchte ich die wiederaufgebaute Garnisonkirche als Diskursraum für gesellschaftspolitische Debatten etablieren, der eine hohe Strahlkraft in die Stadtgesellschaft und über die Grenzen Potsdams hinaus hat. Und als Ort, dessen Veranstaltungen stets mit dem Thema „Erinnern und Frieden stiften“ verbunden sind. Das gilt natürlich auch für unser religiöses Angebot, zu dem Gottesdienste, Andachten und Friedensgebete gehören.

2004 verlieh Paul Oestreicher dem Ort das Nagelkreuz von Coventry

Die Aktivitäten der Stiftung und des Netzwerks Nagelkreuzgemeinde in Potsdam sind übrigens nicht neu. Sie gab es schon, bevor 2017 der erste Stein für den Wiederaufbau des Kirchturms an der Breiten Straße in Potsdam gelegt wurde. Bereits 2004 wurde dem Ort das Nagelkreuz von Coventry verliehen. Der Canonicus der Versöhnungskathedrale von Coventry, Paul Oestreicher, übergab das Nagelkreuz dem damaligen Generalsuperintendenten Potsdams, Hans-Ulrich Schulz, und nahm die wiederaufzubauende Garnisonkirche in die internationale Nagelkreuzgemeinschaft auf.

Bewusst wurde dafür der 60. Jahrestag des Widerstands am 20. Juli 1944 gegen Hitler gewählt. Denn die Garnisonkirche war auch der religiöse Ort des Infanterieregiments 9, dem zahlreiche Widerstandskämpfer angehörten. 2011 wurde eine temporäre Kapelle am Baufeld errichtet und eine evangelische Pfarrstelle eingerichtet. 2014 wurde der Kapelle der Name „Nagelkreuzkapelle“ verliehen.

Die temporäre Kapelle beheimatete eine Ausstellung zur Geschichte und zum Wiederaufbau und diente für Gottesdienst, Friedensgebete und Veranstaltungen, die den Aufgaben der Nagelkreuzgemeinschaft Rechnung tragen: die Wunden der Geschichte heilen, die Vielfalt feiern, eine Kultur des Friedens bauen. Das Symbol des Nagelkreuzes auf dem Altar war Ausdruck der Verbundenheit mit den Ideen und der weltumspannenden Bewegung von Coventry – und wird es weiter sein.

Engagiertes Netzwerk für Einheimische wie für Touristen

Denn in der Nagelkreuzkapelle im wiederaufgebauten Turm, die – noch vor Beginn des allgemeinen Turmbetriebs – am 1. April feierlich in Dienst genommen wird, werden wir weiter für die Ideen und den Geist von Coventry eintreten.

Das Netzwerk Nagelkreuzgemeinde an der Garnisonkirche steht allen Menschen offen. Als Profilgemeinde wendet sich das Netzwerk besonders an Interessierte der Stadtgesellschaft, Passanten und Touristen und führt Menschen mit dem gemeinsamen Anliegen zusammen, geistliches Leben im Horizont des besonderen Profils zu gestalten. Als Pfarrer der Garnisonkirche und Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz habe ich viele Pläne, unseren Wirkungskreis zu erweitern und neue religiöse Formate zu etablieren, etwa einen „Segen to go“ am frühen Morgen, der für die Mitarbeitenden in den umliegenden Ministerien und Büros attraktiv ist.

Foto: Stiftung Garnisonkirche Potsdam

Darüber hinaus pflegt unser Netzwerk Nagelkreuzgemeinde Beziehungen zu evangelischen Kirchengemeinden und weiß sich der ökumenischen wie interreligiösen Arbeit verpflichtet. Es fördert zudem den Dialog im Sozialraum und setzt sich dafür ein, die drei inhaltlichen und räumlichen Ebenen (Ausstellung, Bildung und Vermittlung, Religion und Kultur) im Turm der Garnisonkirche inhaltlich zu verbinden.

Vorfreude auf die Eröffnung

Seit Anfang 2024 zeigt sich der wiederaufgebaute Turm der Garnisonkirche ohne Baugerüst, und die Neugier der Öffentlichkeit auf das alte, neue Bauwerk in der brandenburgischen Landeshauptstadt steigt. Auch beobachte ich eine zunehmend positive Wahrnehmung. Es gibt zwar weiterhin einige lautstarke Kritiker des Wiederaufbaus, aber ihre Menge ist deutlich kleiner als die der Befürworter. In der Politik, in der Stadtgesellschaft und in der Kirche gibt es eine breite Unterstützung. Diese hat den Wiederaufbau der Garnisonkirche als Ort der Friedensarbeit überhaupt erst ermöglicht.

Fast schon vergessen ist, dass sich der Wiederaufbau auf einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung von 1990 über die Wiederannäherung an das historisch gewachsene Stadtbild stützt. Die Garnisonkirche ist Teil der historischen Mitte Potsdams, in der auch das Stadtschloss (heute Brandenburgischer Landtag) und das Palais Barberini (heute Museum Barberini) wiedererrichtet wurden. Schirmherr des Bauprojekts Garnisonkirche ist der Bundespräsident. Viele kleine und große Spenden haben zum Erfolg beigetragen, dabei waren auch prominente Spender wie der Fernsehmoderator Günther Jauch.

Unterstützung gibt es zudem von zahlreichen Förderern wie der Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche e.V. Auch die evangelische Kirche trägt das Projekt aktiv mit. Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung ist Dr. Christian Stäblein, Bischof der EKBO. Zudem gewährten die Landeskirche und die Evangelische Kirche der Stiftung Darlehen für den Wiederaufbau. Weitere Mittel stellte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien zur Verfügung.

Menschen aus aller Welt sind willkommen

Wir freuen uns darauf, in der Garnisonkirche viele Menschen aus Deutschland und aus der ganzen Welt zu begrüßen, die für Frieden und Versöhnung eintreten wollen.

„Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“: Dieser Bibelspruch aus dem Lukasevangelium ist im Sockel des wiederaufgebauten Turms eingemeißelt – auf Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch und Russisch. Es ist eine sichtbare Friedensbotschaft mitten in Potsdam und das Fundament unseres Engagements im Geist der Nagelkreuzbewegung.

Besuchen Sie gern unsere Webseite: www.garnisonkirche-potsdam.de

Autor: Dr. Jan Kingreen. Er ist Pfarrer der Garnisonkirche, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und Programmvorstand der Stiftung Garnisonkirche Potsdam. Die kirchliche Stiftung ist Eigentümerin und Betreiberin der Garnisonkirche.

 

Versöhnungslitanei im Radio

Jeden Freitag kurz vor eins steht Kathrin Oxen in der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin und hält ein Blatt mit einem Gebet darauf hoch: Sie lädt alle Besucher:innen des Mahnmals dazu ein, mit ihr die Versöhnungslitanei aus Coventry zu beten. Nun lädt sie auch alle Hörer:innen von Deutschlandradio Kultur dazu ein, gemeinsam über das Gebet nachzudenken.

Die Versöhnungslitanei von Coventry orientiert sich an den mittelalterlichen „Todsünden“: Stolz, Habgier, Wollust, Zorn, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit. Das Gebet wurde im Jahr 1958 formuliert. Warum bitten wir auch heute noch um Vergebung für Hass, Habgier, Maßlosigkeit, Gleichgültigkeit, Missbrauch und Hochmut? In ihren sechs Radio-Andachten greift Oxen aktuelle Beispiele aus Alltag und Politik auf, stellt Bezüge zu christlichen und historischen Zusammenhängen her. Was heißt es, sich aus der Gemeinschaft mit Gott und anderen Menschen entfernt zu haben? Warum gehen uns manche Bitten um Vergebung so schwer über die Lippen? Gibt es Heilung und Versöhnung ohne Wahrheit und Schuldbekenntnis?

Wer neugierig geworden ist, findet die Andachten zum Nachhören und Nachlesen hier:

Auf der Internetseite des Deutschlandfunk stehen die Andachten ebenfalls zum Nachhören zur Verfügung.

Und wer sich lieber in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einladen lassen möchte: Auch in den Passionsandachten, die noch bis Ostern 2024 an jedem Mittwoch um 18 Uhr in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stattfinden, stehen die Bitten aus der Versöhnungslitanei und die damit verbundenen Sünden im Mittelpunkt. Die Andachten werden abwechselnd von Pfarrerin Oxen und Pfarrer Karsten Wolkenhauer, Mitglied im Leitungskreis der Nagelkreuzgemeinschaft, gestaltet.

Autor: Niels Faßbender

Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg: Nagelkreuz wandert von der Kreuzkirche zum Diakonischen Werk

Iris Jänicke erhält das Kreuz von Andreas Moos. (Foto: Wolfgang Teipel)

Zum Jahresbeginn 2024 erlebten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Diakonischen Werkes des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg einen besonderen Gottesdienst. Die Feier stand ganz im Zeichen des Nagelkreuzes.

Diakonie-Geschäftsführerin Iris Jänicke nahm im Plettenberger Paul-Gerhardt-Haus das Kreuz aus der Hand von Andreas Moos entgegen. Er vertrat in diesem Gottesdienst die Lüdenscheider Kreuzkirchengemeinde. Sie hatte das Kreuz seit September 2021 beherbergt. Britta Däumer und Stefan Schick, Vertreter des Nagelkreuzzentrums „Ev. Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg“ schilderten in kurzen Vorträgen die Geschichte und Bedeutung des Kreuzes.

Stefan Schick und Britta Däumer (Foto: Rendel Simon)

Bereits seit 1996 steht im Ev. Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg ein Nagelkreuz. Seinerzeit war es dem Kinder- und Jugendreferat, der Ev. Kirchengemeinde Herscheid und der damaligen Tagungsstätte „Haus Nordhelle“ für ihre internationale Versöhnungsarbeit überreicht worden. Im „Haus Nordhelle“ hatte das Kreuz auch seinen ursprünglichen Standort. Seit Schließung der Einrichtung steht es in der Johannis-Kirche in Plettenberg-Eiringhausen. Zum 25-jährigen Nagelkreuzjubiläum im Jahr 2021 kam ein Wandernagelkreuz hinzu, das seinen ersten Aufstellungsort in der Ev. Kreuzkirchengemeinde in Lüdenscheid fand. Nun wurde es an das Diakonische Werk des Kirchenkreises weitergereicht.

Stefan Schick erläuterte: „Jetzt soll das Diakonische Werk dieses Wandernagelkreuz für zwei Jahre bekommen. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden sind unermüdlich im Einsatz, um Menschen zu helfen, ihnen Gehör zu verschaffen, ihre Würde zu bewahren und im Alltag ganz praktisch zu unterstützen. Sie verstehen ihren Dienstauftrag als gelebte Nächstenliebe und werden zu Anwälten für Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen. Sie leisten so eine verlässliche Versöhnungsarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Prägung. Für diesen Einsatz wollen wir mit der Überreichung des Nagelkreuzes auch ein ganz dickes Dankeschön sagen.“ Dies, so Schick, gelte für alle Arbeitsbereiche der Diakonie – von den unterschiedlichen Beratungsstellen bis zur Möbelbörse, vom Fachdienst Migration über die Schwangerschaftsberatung bis hin zum Haus Alter Leuchtturm, einer Familienferienstätte auf Borkum. „Ich will nicht alle einzeln aufzählen, aber sie dürfen gewiss sein, dass wir ihre Arbeit enorm schätzen.“

Das Wandernagelkreuz (Foto: Stefan Schick)

Nach einem von Britta Däumer gesprochenen Gebet war es so weit. Andreas Moos übergab das Kreuz an Iris Jänicke, die in einer kurzen Ansprache ihre Freude und Verbundenheit zur Versöhnungsarbeit zum Ausdruck brachte. Musikalisch wurde der die Feier von Kirchenmusiker Dr. Charles Christian Adarkwah mitgestaltet, der die Gottesdienstteilnehmer auf mitreißende Art zum Singen einlud. Diakoniepfarrer Volker Bäumer predigte zur Jahreslosung „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Korinther 16,14). Dabei legte er das Jahreslosungsmotiv von Andreas Felger aus. Mit seinem Motiv der Rose habe der Künstler das Liebessymbol schlechthin aufgegriffen.

Autor: Stefan Schick

Jugendbegegnung in Dachau

Foto: Maite Böhm

Erstmals seit der Corona-Pandemie gab es im November 2023 wieder eine Jugendbegegnung der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft. Das Treffen fand am 11. November 2023 in der KZ-Gedenkstätte Dachau bei München statt. Zwei Teilnehmerinnen berichten.

Der Tag begann um 11 Uhr am Besucherzentrum, wo wir von Felicitas Weileder und Maite Böhm, den Organisatorinnen des Treffens, und von Björn Mensing, dem Pfarrer der sich auf dem Gelände befindlichen Versöhnungskirche und Tourguide, begrüßt wurden. Bei der anschließenden Führung gingen wir den Weg nach, den auch ein Häftling in Dachau gegangen sein könnte.

Foto: Hannah Sturm

Unsere erste Station war vor dem Eingang zum KZ-Häftlingslager, an dem sich auch die Bahngleise befanden, an denen etwas weiter die Züge mit den Häftlingen hielten. Dort erzählte uns Herr Mensing von Martin Kieselstein, einem ungarisch-jüdischen Häftling in Dachau, dem er später persönlich begegnet war, und davon, was dieser auf der Zugfahrt von Auschwitz nach Dachau erlebt hatte. Herr Mensing erzählte uns auch von einer Frau aus einer indisch-muslimischen Familie, die in Dachau ermordet wurde. Ihr Name war Noor-un-Nisa Inayat Khan und sie war eine britische Agentin, die für Großbritannien Kontakte zum Widerstand in Frankreich knüpfen sollte. Wenn man sich mit dem Rücken zum Tor drehte, konnte man das Gebäude sehen, in dem sich während der NS-Zeit die KZ-Kommandantur befand. Aktuell wird das Gebäude von der Bereitschaftspolizei genutzt. Das soll sich aber ändern, wenn in zwei Jahren das Gebäude Teil der Gedenkstätte wird.

Foto: Hannah Sturm

Anschließend gingen wir durch das Tor des Häftlingslagers. Es bestand aus Eisenstreben und trug die Inschrift „ARBEIT MACHT FREI“. Herr Mensing erzählte uns, diese Inschrift sei auf den Eingangstoren aller Konzentrationslager zu finden, außer im KZ Buchenwald, wo die Inschrift stattdessen „JEDEM DAS SEINE“ laute. Wir gingen weiter ins so genannte Wirtschaftsgebäude und dort in den „Schubraum“, wo die Häftlinge registriert wurden. Herr Mensing erzählte uns von der entwürdigenden Prozedur, die die Häftlinge hier durchmachen mussten, dass sie ihre Kleidung ablegen und alle persönlichen Gegenstände, auch Eheringe und solche Gegenstände, die nur einen ideellen Wert hatten, wie zum Beispiel Fotos, abgeben mussten. Jeder Häftling bekam eine Nummer, die ab sofort von den SS-Wachleuten anstelle ihres Namens verwendet wurde. Als letztes wurden den Häftlingen noch die Haare abrasiert und ihnen dadurch die Individualität vollends geraubt.

Unsere nächste Station waren die Duschen. Echte Duschen, keine Gaskammer. Hier ging es darum, wie die Prozedur des Duschens für die Häftlinge ablief und auch darum, dass einige der Aufseher die Häftlinge quälten und dabei zum Beispiel im Winter die Fenster des Duschraums öffneten, die Heizung aus- und das Wasser auf kalt stellten. Herr Mensing führte aber auch aus, dass manche Häftlinge, besonders jene gerade erst von tagelangen Transporten angekommenen, das Duschen als wohltuend empfanden. Noch im Duschraum erzählte uns Herr Mensing von den Strafen, die Häftlinge, die von Aufsehern beschuldigt wurden, gegen die Lagerordnung verstoßen zu haben, ertragen mussten. Die Willkür bei der Verhängung dieser Strafen verdeutlichte uns Herr Mensing am Beispiel eines abgefallenen Knopfes. Fiel auf, dass ein Häftling tagsüber einen Knopf verloren hatte, wurde nicht darauf geachtet, ob er schon Gelegenheit gehabt hatte, diesen wieder anzunähen, man bestrafte ihn einfach direkt.

Foto: Hannah Sturm

Wie schlecht die Häftlinge behandelt wurden, war auch von der Häftlingsgruppe abhängig, der sie zugewiesen wurden. Die einzelnen Gruppen wurden durch an der Kleidung angebrachte farbige Winkel und Buchstaben gekennzeichnet. Zum Beispiel stand der gelbe Winkel für Juden, ein rosaner für Homosexuelle und ein schwarzer für „Asoziale“. Die Buchstaben sollten die Nationalität der Häftlinge kennzeichnen. Obwohl der größte Teil der sowjetischen Häftlinge in Dachau ukrainischer Herkunft war, wurden sie alle mit einem „R“ für „Russe“ gekennzeichnet.

Der nächste Teil der Führung führte uns in den Bunkerhof, der aufgrund der dort durchgeführten Hinrichtungen auch Exekutionshof genannt wurde, und von dort aus ins Lagergefängnis. Herr Mensing berichtete uns, dass die Häftlinge hier in Einzelhaft psychische Folter ertragen mussten. Im Lagergefängnis gingen wir auch an der Zellentür des evangelischen Pfarrers und Widerstandskämpfers Martin Niemöller vorbei. Wieder draußen erzählte Herr Mensing, wie es in Dachau inhaftierten Geistlichen erging. Er schilderte, dass nachdem der damalige Papst Pius XII. von Hitlers Vorgehen gegen Geistliche in Polen erfahren und darum gebeten hatte, dass diese doch wenigstens gemeinsam Gottesdienst feiern dürften, alle inhaftierten Geistlichen aus Deutschland und von Deutschland besetzten Gebieten nach Dachau gebracht wurden. Die Geistlichen waren in separaten Baracken untergebracht, wo sie Gottesdienste feiern durften. Um die prominenteren Geistlichen vor den im KZ grassierenden Krankheiten, wie zum Beispiel Typhus und Fleckfieber, zu schützen, wurden sie, wie Martin Niemöller, im Lagergefängnis untergebracht.

Foto: Hannah Sturm

Nach dem Lagergefängnis gingen wir zu den Krematorien. Wir sahen uns das erste Krematorium an, in dem es zwei Öfen gab und erfuhren, dass dieses mit steigender Zahl der Toten nicht genügend Kapazitäten hatte, weshalb ein zweites, größeres Krematorium gebaut wurde, an das man direkt eine Gaskammer dranbaute, die aber, entgegen der ursprünglichen Pläne, nur bei einem Probedurchlauf in Betrieb genommen wurde. Herr Mensing bat um Stille beim Durchqueren der Gaskammer und des Krematoriums. Am Ende der Führung gingen wir gemeinsam in die evangelische Versöhnungskirche, die sich auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte befindet. In der Kirche beteten wir gemeinsam das Versöhnungsgebet von Coventry mit der mehrfachen Bitte „Vater vergib!“.

Nach der Führung gingen wir mittagessen, es gab Lasagne, und fanden uns danach wieder in der Kirche ein. Dort wurden uns in einer Präsentation mit Videokonferenz mit Jugendlichen im englischen Coventry die Geschichte der Nagelkreuzgemeinschaft sowie ihr heutiges Wirken nahegebracht. In einer anschließenden Diskussionsrunde sprachen wir darüber, ob es denn angebracht sei, die Polizei in der ehemaligen SS-Kaserne unterzubringen, oder eine Kirche auf dem Gelände eines Konzentrationslagers zu bauen. Herr Mensing erklärte uns zum Bau der Kirche, dass dieser tatsächlich von einem überlebenden niederländischen Häftling initiiert und vorangetrieben sowie von anderen Überlebenden unterstützt worden sei.

Nach einer Stunde, die wir selbst individuell gestalten konnten, gingen wir noch mit Felicitas und Maite, sowie unserer französischen Gastgeberin Marine in ein Restaurant für ein gemeinsames Abendessen. Die Jugendbegegnung in Dachau hat bei uns einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Besonders eindrücklich und mitreißend fanden wir die Einzelschicksale, von denen Herr Mensing uns berichtete und auf die er bei seiner Führung einen besonderen Fokus legte. Dies hob die sonst nur durch Zahlen beschriebenen Geschehnisse auf eine persönlichere Ebene und verdeutlichte, dass nicht jeder Häftling nur einer von vielen, sondern ein ganzer Mensch mit einer eigenen Geschichte war.

Autorinnen: Hannah Rickmann und Hannah Sturm