Internationaler Nagelkreuzsonntag 2024: Oliver Schuegrafs Predigt zum Michaelistag in Coventry

Der jährliche Nagelkreuzsonntag fiel dieses Jahr auf den 29. September 2024, dieses Jahr zugleich Gedenktag des Erzengels Michael. In der Kathedrale von Coventry wurde deshalb an diesem Sonntag nicht nur die Verbundenheit unserer Gemeinschaft in Gebet und im Versöhnungsdienst gefeiert, sondern auch an den Heiligen Michael erinnert, den Namensgeber der Kathedrale. Die Predigt zu Genesis 3, Verse 1 bis 13 und 23-24 hielt unser Vorsitzender und Ehrenkanoniker der Kathedrale Dr. Oliver Schuegraf. Sie orientiert sich am Vorschlag der Arbeitsgruppe, die die liturgischen Bausteine für den diesjährigen Nagelkreuzsonntag erarbeitet hatte, und die sich in diesem Jahr aus Mitgliedern der deutschen Nagelkreuzgemeinschaft zusammensetzte. Die vorgeschlagenen Bausteine – auch aus vergangenen Jahren – finden Sie hier.

Der Heilige Michael ist nicht immer derselbe Heilige Michael. In der Kunstgeschichte kann er ganz unterschiedliche Erscheinungsbilder haben. In der Kirche meiner ehemaligen Gemeinde hatten wir eine Figur des Heiligen Michael direkt über dem Altarraum. Er war einer dieser niedlichen Barockengel. Ein bisschen pausbäckig, freundlich aussehend. Wie anders ist der Heilige Michael von Coventry. Überlebensgroß, mit ausgebreiteten Armen und Beinen. Ein Speer in seinen Händen. Hoch aufragend über der gefesselten Gestalt des gehörnten Teufels. Außerdem ist dieser besiegte Teufel in Coventry kein Drache, sondern eine menschliche Figur.

Jacob Epstein: St Michel’s Victory over the Devil, Bronze, Coventry 1958. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

Wenn Sie das Buch der Offenbarung kennen, wissen Sie, wer dieser Drache mit menschlichen Zügen ist. Er ist kein anderer als die alte Schlange, der Versucher aus der Paradieserzählung.

Wir feiern heute nicht nur das Patronatsfest der Kathedrale, sondern auch den Nagelkreuz-Sonntag. Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft wurde in diesem Jahr gebeten, das Material für diesen Sonntag zusammenzustellen, der hoffentlich alle Partner in unserem internationalen Versöhnungsnetzwerk miteinander verbindet. Und unsere deutsche Vorbereitungsgruppe hat beschlossen, sich mit der Geschichte von Adam und Eva – und der Schlange – näher zu befassen.

In Ihrem Gottesdienstheft finden Sie eine Illustration zu dieser bekannten Geschichte. Die Abbildung zeigt ein Detail der Bronzetüren des Hildesheimer Doms. Sie sind über eintausend Jahre alt und gehören zu den frühesten Beispielen für figürlich-plastische Darstellungen biblischer Geschichten. Die Menschen des frühen Mittelalters müssen davon überwältigt gewesen sein. Insgesamt haben die Türen eine Höhe von fast fünf Metern. Das Herantreten an das Portal muss atemberaubend gewesen sein. Die Gläubigen bestaunten die Tür und wurden mit einer bildlichen Reise der ersten Menschen in immer tiefere Verstrickung in Schuld, immer größere Entfernung von Gott, immer größere Nähe zum Bösen konfrontiert.

Schauen wir uns die Szene genauer an. Es wird ein Spiel des Mit-dem-Finger-Zeigens dargestellt: Adam und Eva haben getan, was sie nicht hätten tun sollen. Gott zeigt mit dem Finger auf sie. „Du, Adam! Warum hast du von der verbotenen Frucht gegessen?“ Gott will eine Antwort von seinem Geschöpf. Man könnte sagen, er macht ihn verantwortlich. Und Adam? Er sieht unglücklich aus. Kein Zweifel: Er weiß genau, was richtig und falsch ist. Er weiß, was richtig ist, und doch tut er, was falsch ist. Er wendet seinen Blick ab, duckt sich weg und schiebt die Verantwortung einfach ab. Noch mehr Zeigen-mit-dem-Finger: „Ich war es nicht! Sie war es!“ Er sieht bemitleidenswert aus, wie er so verzweifelt versucht, sein Feigenblatt festzuhalten, die Schuld auf Eva zu schieben und so unschuldig wie möglich zu erscheinen.

Wir Menschen haben ein ganzes Repertoire an Strategien, um mit Schuld und schlechtem Gewissen umzugehen. Eine Strategie ist das Abwälzen der Schuld. Adam ist ein Experte in dieser Taktik.: „Die Frau, die du mir gegeben hast, um mit mir zusammen zu sein“, sagt er. „Sie hat mir die Frucht gegeben“. Das ist natürlich etwas ganz anderes als zu sagen: „Die Frucht sah gut aus. Ich habe das Angebot gerne angenommen.“ Man könnte fast meinen, er sei gezwungen worden, die Frucht zu essen, und habe keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Adam, was übersetzt „Mensch“ heißt – und oft genug bedeutet: wir – zeigt mit dem Finger auf jemand anderen, und auf dem ausgestreckten Finger rutscht die Schuld von einer Person zur nächsten.

Neben der Schuldverschiebung ist noch eine zweite Strategie am Werk. Adam scheint sein Handeln auch zu normalisieren, nach dem Motto: „So falsch kann es doch nicht sein, das macht doch jeder.“ Die Grenzen zwischen anständigen und fragwürdigen Handlungen beginnen sich zu verschieben. „Die Frau hat von der Frucht gegessen, warum sollte ich nicht auch einen Bissen nehmen?“

Und Eva? Sie wendet die gleiche Strategie an wie Adam: „Ich konnte nicht anders, die Schlange hat mich verführt“, sagt sie und will mit dem ausgestreckten Zeigefinger die Schuld auf den nächsten in der Reihe abwälzen: Sie reicht den Schwarzen Peter an die Schlange zu ihren Füßen weiter, die ein bisschen wie ein kleiner Drache aussieht. Eva sieht unglücklich, fast flehend aus, scheinbar im vollen Bewusstsein, dass etwas zerstört wurde, als sie Gottes Gebot nicht gehorchte. Wenn sie doch nur all das ungeschehen machen könnte! Im Gegensatz zu Adam schafft sie es, Gott anzuschauen, sich dem Vorwurf zu stellen. Aber es fällt ihr zu schwer, Verantwortung zu übernehmen.

Hier kommt eine dritte beliebte Strategie zum Tragen: die Verharmlosung. Eva nimmt einen Teil der Schuld auf sich, spielt aber die ganze Angelegenheit herunter: „Es war nur ein kleiner Bissen. Ich habe die Frucht kaum mit den Lippen berührt…“ Die Verharmlosung ist wie ein winziges Schuldeingeständnis, wenn man auf frischer Tat ertappt wurde, und damit ein winziges Stückchen „Recht“ in all dem Unrecht.

Wenn wir uns das ganze Relief noch einmal anschauen, zeigt sich ein bestimmtes Muster, das die Figuren miteinander verbindet: Es beginnt mit dem prüfenden Blick Gottes und seinem Zeigefinger, über Adams abgewandte Augen zu Eva, über ihren Rücken und ihre Beine zu der sich nach oben windenden Schlange. Wir sehen eine Spirale von Schuld und Abwälzung der Verantwortung.

Erst fünfhundert Jahre nach der Entstehung dieser Bronzetafel hat Martin Luther einen Begriff für das Dargestellte geprägt: Der Mensch ist „incurvatus in se ipsum“, in sich selbst gekrümmt. Wir sind so verbogen und krumm, dass wir gar nicht merken, wie egozentrisch wir sind, wie wir uns von Gott abwenden, nicht nach seinem Willen fragen, seine Gnade nicht sehen.

Hildesheimer Dom: Bernwardstür (Detail), Bronze, Hildesheim ca. 1015. Foto: Nagelkreuzgemeinschaft

So realistisch und vertraut das Verhalten von Adam und Eva ist, so sehr gibt uns die Bibel, Gott sei Dank, auch andere, gute Vorbilder. Denken Sie nur an den barmherzigen Samariter in Lukas 10. „Als er den Verwundeten sah, hatte er Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ich auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und pflegte ihn.“ Auf den ersten Blick mag seine Körperhaltung der von Adam ähneln, aber seine Handlungen sind das genaue Gegenteil: Auch der Samariter bückt sich, er beugt sich zu Boden, aber er tut es, um aufzurichten. Er kümmert sich um den verletzten Mann. Wie leicht hätte er eine ganze Reihe von Ausreden finden können, um nicht zu helfen:

Erinnern Sie sich an die Verharmlosung? „Das ist doch nur ein Israelit. Gut, dass wir ihn los sind!“ Abwälzung der Schuld: „Ich habe ihn nicht geschlagen, also muss ich mich nicht um seine Wunden kümmern.“ Oder Normalisierung: „Wenn zwei seiner eigenen Leute einfach vorbeigegangen sind, warum sollte ich dann helfen?“ Aber er bagatellisierte nicht, er wälzte die Schuld nicht ab, er versuchte nicht, die Situation zu normalisieren.

Er sah in dem Verletzten einen einen Fingerzeig Gottes. Vielleicht hat er erkannt, dass es eher eine Ehre ist, wenn Gott mit dem Finger auf uns zeigt. Es bedeutet, dass Gott uns nicht auf die leichte Schulter nimmt, im Gegenteil. Er betraut uns mit Verantwortung. Trotz all unserer Fehler will er uns immer noch in die Augen sehen.

Und denken Sie daran: Ja, Adam und Eva wurden aus dem Garten Eden vertrieben und die Cherubim – weitere Engel mit Speeren für das heutige Patronatsfest – wurden eingesetzt, um die Rückkehr ins Paradies unmöglich zu machen. Doch Gott hat die beiden nicht einfach im Stich gelassen. Bevor er sie wegschickte, gab er ihnen Kleidung; sie sollten geschützt bleiben.

Wie steht es mit uns heute? Klimawandel, bewaffnete Konflikte rund um den Globus, Ungerechtigkeiten auf allen Ebenen, Aushöhlung gemeinsamer Überzeugungen in der Gesellschaft – was kann der Einzelne tun? Unsere Ohren sind jetzt geschult: Trivialisierung! „Ich bin ganz allein. Mein kleiner Beitrag macht keinen Unterschied.“ Der Samariter hat uns gezeigt, dass das nicht stimmt. Er war nur einer, ein Außenseiter noch dazu, und er hat weder die Welt gerettet noch den Konflikt zwischen Samaritern und Israeliten beendet. Aber für den, der halbtot im Graben lag, machte er den Unterschied aus.

Beziehen wir Stellung, wenn sich die Positionen in der Gesellschaft verschieben, wenn Feindseligkeiten zu verbalen und körperlichen Übergriffen eskalieren? Wenn einige Leute immer wieder sagen, dass Fremde, Migranten an allem schuld sind, dann ist es leicht zu glauben, dass alle so denken. Soll ich mich also dem wütenden Mob auf der Straße anschließen? Ist es wirklich so schädlich, radikale und extremistische Parteien zu wählen? Ich will nur ein Zeichen des Protests gegen die etablierten Parteien setzen. So schlimm werden sie nicht sein.

Der Samariter interessierte sich weder für Politik noch für die Feindseligkeiten zwischen seinem Volk und den Israeliten. Er sah einen Menschen in Not und kümmerte sich um ihn, denn es sollte nicht normal sein, dass jemand halbtot in einem Graben liegt. Er versicherte ihm sogar: „Ich werde wiederkommen.“ Er baute eine Beziehung auf, anstatt bequem Vorurteilen oder der Führung anderer zu folgen.

Ein weiteres Beispiel: Schuldverschiebung ist eine Strategie, die wir oft anwenden, wenn es um Entscheidungen geht, die wir als Kunden und Verbraucher treffen: „Ich kann nichts dafür. Ich kann nur das kaufen, was angeboten wird.“ Das stimmt. Aber muss ich den Kauf wirklich tätigen? Auch wenn ich weiß, dass die Produktion meiner Lebensmittel, meiner Kleidung, meiner Elektronik auf Ausbeutung beruht und auf Kosten der Gesundheit und des Lebens anderer geht? Wir wissen bereits, was wir von dem Argument „aber das macht doch jeder“ zu halten haben. Mein Kauf ist meine Entscheidung und damit meine Verantwortung. Meine Kaufverweigerung ist auch eine Entscheidung. Das Angebot wird sich ändern, wenn sich die Nachfrage ändert. „Aber ich allein kann doch nichts ändern!“ Das haben wir doch schon einmal gehört, oder?

Dr. Oliver Schuegraf. Foto: Martin Williams

Es ist uns nicht möglich, den Weg zurück ins Paradies zu finden, der Wiedereintritt wird von den wachenden Cherubim verweigert. Dennoch können wir versuchen, die Welt, in der wir leben, zu einem besseren Ort zu machen. Diese Aufgabe ist langwierig, mühsam, manchmal lohnend und oft frustrierend. Dennoch ist Nichtstun angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, keine Option. Es lohnt sich, nicht auf die Schlange zu hören, die uns mit der bösen Botschaft verführt: Es ist normal, es ist keine große Sache, es ist die Schuld der anderen.

Es ist die Mühe wert, nicht krumm und in sich gekrümmt zu bleiben. Im Vertrauen auf Gottes Gnade können wir aufrecht stehen und all jene Situationen und Menschen aufrichten, die Freiheit, Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität brauchen. Wir können auf den ausgestreckten Finger Gottes mit einem klaren „hier bin ich“ antworten. Erstaunt, vielleicht sogar dankbar, dass er uns immer noch sein Vertrauen schenkt und uns Verantwortung anvertraut, so dass wir uns weder vor ihm verstecken noch in Scham vor ihm beugen müssen. Das möge Gott uns allen schenken. Amen.

Autor: Dr. Oliver Schuegraf, Übertragung ins Deutsche: Niels Faßbender.

 

Versöhnungslitanei im Radio

Jeden Freitag kurz vor eins steht Kathrin Oxen in der Turmruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin und hält ein Blatt mit einem Gebet darauf hoch: Sie lädt alle Besucher:innen des Mahnmals dazu ein, mit ihr die Versöhnungslitanei aus Coventry zu beten. Nun lädt sie auch alle Hörer:innen von Deutschlandradio Kultur dazu ein, gemeinsam über das Gebet nachzudenken.

Die Versöhnungslitanei von Coventry orientiert sich an den mittelalterlichen „Todsünden“: Stolz, Habgier, Wollust, Zorn, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit. Das Gebet wurde im Jahr 1958 formuliert. Warum bitten wir auch heute noch um Vergebung für Hass, Habgier, Maßlosigkeit, Gleichgültigkeit, Missbrauch und Hochmut? In ihren sechs Radio-Andachten greift Oxen aktuelle Beispiele aus Alltag und Politik auf, stellt Bezüge zu christlichen und historischen Zusammenhängen her. Was heißt es, sich aus der Gemeinschaft mit Gott und anderen Menschen entfernt zu haben? Warum gehen uns manche Bitten um Vergebung so schwer über die Lippen? Gibt es Heilung und Versöhnung ohne Wahrheit und Schuldbekenntnis?

Wer neugierig geworden ist, findet die Andachten zum Nachhören und Nachlesen hier:

Auf der Internetseite des Deutschlandfunk stehen die Andachten ebenfalls zum Nachhören zur Verfügung.

Und wer sich lieber in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einladen lassen möchte: Auch in den Passionsandachten, die noch bis Ostern 2024 an jedem Mittwoch um 18 Uhr in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stattfinden, stehen die Bitten aus der Versöhnungslitanei und die damit verbundenen Sünden im Mittelpunkt. Die Andachten werden abwechselnd von Pfarrerin Oxen und Pfarrer Karsten Wolkenhauer, Mitglied im Leitungskreis der Nagelkreuzgemeinschaft, gestaltet.

Autor: Niels Faßbender

„Nation von Nation, Volk von Volk, Klasse von Klasse“: Mitgliederversammlung hat Neuübersetzung der ersten Bitte des Versöhnungsgebets beschlossen

Die Mitgliederversammlung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e.V. hat am 14. Oktober 2023 auf ihrer Tagung in Würzburg beschlossen, als Verein eine neue deutsche Übersetzung der ersten Bitte des Versöhnungsgebetes zu verwenden. Sie lautet nun: „Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Vater, vergib.“

Das historische Gebet

Das Versöhnungsgebet von Coventry entstand 1958. Es ist zu dem Gebet geworden, das die weltweite Nagelkreuzgemeinschaft geistig miteinander verbindet. So prägend das Versöhnungsgebet für die Nagelkreuzgemeinschaft ist, umso schwerer fällt es vielen in Deutschland mittlerweile, die erste Zeile der Litanei mit dem Wort „Rasse“ mitzusprechen – und dies, obwohl es eine Gebetsbitte für unsere Mitschuld an den vielfältigen Formen von Rassismus ist.

Vor ca. fünfzehn Jahren hat unser Verein erstmals die Verwendung des Wortes „Rasse“ ausführlicher reflektiert. Der Austausch mit Coventry und der amerikanischen Nagelkreuzgemeinschaft ergab damals, das Wort nicht aufzugeben. Vor acht Jahren wurde die Diskussion erneut intensiv aufgegriffen. Es wurden Änderungsvorschläge für die erste Zeile überlegt. Entscheidend waren jedoch dann die Expertenmeinungen einiger Liturgikerinnen und Liturgiker. Sie rieten davon ab, Veränderungen an einem so vertrauten, einprägsamen und historischen Gebetstext vorzunehmen. Entsprechend hat sich die Mitgliederversammlung im Herbst 2015 dafür ausgesprochen, bei der eingeführten Übersetzung zu bleiben. Allerdings bestand ebenfalls Einigkeit darüber, dass Nagelkreuzzentren, die den Gebrauch des Wortes „Rasse“ nicht verantworten können, eine andere Formulierung nutzen können.

Die weitere Diskussion

Die Diskussionen sind seitdem weitergegangen. Seit Anfang 2020 beschäftigt sich die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft erneut mit der ersten Versöhnungsbitte. Der Leitungskreis hat nochmals liturgiewissenschaftliche Beratung eingeholt. Zudem wurde das intensive Gespräch mit Coventry und den nationalen Nagelkreuzvorsitzenden fortgesetzt. Bestimmend für die Diskussion im Leitungskreis waren folgende Zielsetzungen:

  • Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft braucht eine feste Textversion des Versöhnungsgebets, die sie bei offiziellen Anlässen verwendet (auf der Webseite und im Flyer, bei Nagelkreuzverleihungen …).
  • Es soll eine Neuübersetzung (nicht Neugestaltung) der Gebetsbitte gefunden werden, die auf das Wort „Rasse“ verzichtet und nur so wenig wie nötig am bisherigen Sprechrhythmus ändert.
  • Die neue Übersetzung soll weiterhin ästhetisch als Gebetssprache erkennbar bleiben.

In den weiteren Überlegungen wurde deutlich, dass sich keine Formulierung finden lässt, die alle Betenden, Liturgikerinnen und Liturgiker, Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, Biologinnen und Biologen etc. gleichermaßen überzeugt. Nach intensiven Diskussionen hat der Leitungskreis 2021 allen Nagelkreuzzentren zwei Versionen zur weiteren Erprobung vorgeschlagen:

A: Den Hass, der Menschen von Menschen trennt.

B: Den Hass, der Volk von Volk, Klasse von Klasse, und rassistisch Menschen von Menschen trennt.

Die aktuelle Entscheidung

In geheimer Abstimmung entschied sich die Mitgliederversammlung zunächst mit großer Mehrheit dafür, dass auf eine neue Übersetzung der ersten Bitte des Versöhnungsgebets zugegangen werden soll, die ohne das Wort „Rasse“ auskommt. Von Teilnehmenden der Versammlung wurde zudem eingebracht, dass eine weitere Formulierung als Version C erörtert werden soll:

C: Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse.

In einem Meinungsbildungsprozess schälte sich deutlich heraus, dass diese Version C auf die größte Zustimmung stieß, sodass am Ende der folgende Beschluss – erneut mit großer Mehrheit – gefasst wurde:

Die Mitgliederversammlung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland beschließt, zukünftig die Übersetzung „Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse“ als die offizielle Version der ersten Bitte des Versöhnungsgebets von Coventry zu verwenden.

Diese Übersetzung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich eng an die charakteristische Struktur des englischen Originals und auch der bisherigen deutschen Übersetzung hält und dennoch ohne das Wort „Rasse“ auskommt. Die genannten drei Illustrationen bieten einen Resonanzraum, der innere Bilder und Gefühle zum Klingen bringen kann, die für ein Gebet wichtig sind. Sie ist zudem gut sprechbar. Das Wort „Nation“, das im englischen Text, nicht jedoch im bisherigen deutschen Text vorkommt, lenkt den Blick auf Staaten, die sich in Feindschaft und Hass gegenüberstehen können. In der deutschen Diskussion um den Rassebegriff wird häufig vorgeschlagen, statt „Rasse“ Wörter wie „Population“ oder „Ethnie“ zu verwenden. Aber diese Begriffe sind abstrakt und erweisen sich als eher sperrig in einer Gebetszeile. Daher soll das Wort „Volk“ zum Ausdruck bringen, dass sich auch Populationen oder Ethnien in Hass gegenüberstehen können.

Das Gebet vor Ort

Während der Mitgliederversammlung wurde deutlich, dass Nagelkreuzzentren in Deutschland und auch international sich immer stärker der Aufgabe stellen, das Versöhnungsgebet für ihren spezifischen Kontext vor Ort relevant zu machen und so lebendig zu halten. Diese Kontextualisierung betrifft alle Teile des Gebets.

So wird es in Zukunft noch stärker neben dem „Original“ und seinen offiziellen Übersetzungen in die unterschiedlichsten Sprachen auch lokal angepasste Versionen geben. Diese machen deutlich, dass ein Gebet ein lebendiger Text ist, der auf Dauer seinen Zweck nur dann erfüllt, wenn er den Anliegen und Bedürfnissen der Betenden in ihrer jeweiligen Zeit und Situation gerecht wird.

Diese Prozesse werden auch von der Kathedrale von Coventry unterstützt, die den Reichtum an Varianten als Ausdruck des zweiten Leitbildes der Nagelkreuzgemeinschaft versteht: „Mit Unterschieden leben und Vielfalt feiern“. In diesen Kontextualisierungen wird das weiterhin Verbindende die inhaltliche Struktur des Versöhnungsgebet bleiben, die sich an den klassischen sieben Wurzelsünden bzw. Hauptsünden (auch unter dem Begriff „Todsünden“ bekannt) orientiert.

Fazit und Dank

Vorstand und Leitungskreis schätzen außerordentlich, dass Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder sich in den letzten Jahren mit sehr unterschiedlichen Überzeugungen in dieser Debatte zu Wort gemeldet haben. Ihnen ist bewusst, dass die Diskussion starke Emotionen hervorruft. Manche können sich Änderungen am Versöhnungsgebet kaum vorstellen, andere haben sehr weitreichende Ideen vorgelegt. Der Leitungskreis hat intensiv um Formulierungen gerungen, der den unterschiedlichen Überzeugungen gleichermaßen möglichst gerecht wird.

Der Leitungskreis dankt allen, die sich in den letzten Jahren und im Vorfeld der Mitgliederversammlung an der Diskussion beteiligt haben. Ein herzliches Dankeschön ebenso an alle, die sich während der Mitgliederversammlung eingelassen haben auf die nicht ganz leichte Suche nach einem möglichst großen Konsens und auf die Suche nach dem dazu notwendigen Verfahren. Vorstand und Leitungskreis hoffen, dass all jene, die gerne eine andere Entscheidung gesehen hätten, ebenso wie all jene Nagelkreuzzentren und Einzelmitglieder, die in Würzburg nicht vertreten waren, die nun getroffene Entscheidung dennoch mittragen werden.

Autor: Oliver Schuegraf

Mitgliederversammlung Würzburg 2023: Predigt von Judith Einsiedel auf dem Abschlussgottesdienst

Am Sonntag, 15. Oktober 2023, endete die diesjährige Mitgliederversammlung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. in Würzburg (-> klick für Text) mit dem Abschlussgottesdienst. In ihrer Predigt kam Judith Einsiedel (Pastoralreferentin im Nagelkreuzzentrum KZ-Gedenkstätte Dachau und seit 2023 Mitglied des Leitungskreises), auf die alte Frage zurück, die sich angesichts der Weltlage wie ein roter Faden auch durch die Mitgliederversammlung gezogen hatte: Wie kann Gott das Leid auf dieser Welt zulassen? Den Wortlaut ihrer Predigt haben wir hier dokumentiert.

Liebe Mitglieder in der Deutschen Nagelkreuzgemeinschaft, liebe Schwestern, liebe Brüder!

Krieg beherrscht einmal mehr das Weltgeschehen und trübt den Blick auf die Schönheit unserer Schöpfung und auf die Dankbarkeit, die dieser Jahreszeit (Herbst, Erntedank…) sonst eigen ist. Krieg herrscht an vielen Orten – geht uns aber vielleicht in der Ukraine und in Israel/Palästina gerade besonders nahe.

Einmal mehr steigen altbekannte Fragen (in mir) auf: Wie können Menschen so handeln? Wie einander so etwas Furchtbares antun? Beinahe wollte ich sagen „so etwas ‚Unmenschliches‘ antun“ – doch scheint Gewalt und Tötung ja leider nur allzu ‚menschlich‘ zu sein… Also: Wie können Menschen…? Eine Frage, die sich mir auch in meiner Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Dachau regelmäßig stellt – und die man sich im November 1940 in Coventry oder im März 1945 in Würzburg vielleicht ebenfalls gestellt hat. Bei dem einen oder der anderen kam/ kommt womöglich noch eine weitere Frage hinzu: Und wie kann Gott das alles zulassen? Wie kann er nur zusehen?

Im Theologiestudium habe ich darauf eine relativ simple und zugleich sehr unbefriedigende Antwort erhalten, die sich hinter dem harmlos klingenden Ausdruck free will defence verbirgt. Gott hat den Menschen mit einem freien Willen geschaffen und damit das Risiko in Kauf genommen, dass der Mensch diese Freiheit auch zum Bösen gebrauchen kann, missbrauchen kann. Damit soll Gott theologisch verteidigt werden, in seiner Güte und Allmacht (Er ist gütig und allmächtig, obwohl es Leid gibt) – dem Leiden der Opfer freilich wird man mit einer solchen Erklärung nicht gerecht; ein Trost ist dies für sie nicht.

Was mich in meinem Ringen mit den Warum-Fragen eher weiterbringt, ist das heutige Evangelium. Da werden Menschen zu einem rauschenden Fest eingeladen, einem Fest der Freude und Gemeinschaft, mit gutem Essen – aber sie wollen partout nicht kommen. Und warum? Weil sie mit sich selbst beschäftigt sind: mit ihrem Besitz, mit ihren eigenen Plänen, und man könnte sagen: auch mit ihrer eigenen Aggression. Es kommt nämlich zu gewaltsamen Übergriffen und sogar zu Mord, nur um der Einladung nicht folgen zu müssen. Martin Luther und andere haben dieses Phänomen den homo incurvatus in seipsum genannt: den in sich selbst verkrümmten Menschen. Der nicht den Blick hebt für die Bedürfnisse des anderen oder gar das Leid des anderen, ob nun aus Nachlässigkeit oder aus Absicht. Und der nicht den Blick hebt hin zu Gott – sonst müsste er sich ja vielleicht selbst von Gott anschauen lassen und das könnte schmerzhaft sein.

Ich weiß aus meiner Studienzeit in Israel, dass es Projekte gibt – eines davon heißt „Talking Peace“ –, die versuchen, Israelis und Palästinenser miteinander ins Gespräch zu bringen, auf dass sie die Traumata und Wunden und die Bedürfnisse des anderen kennen und verstehen lernen. Leider konnte dadurch nicht verhindert werden, was jetzt gerade geschieht. Menschen und Menschengruppen sind versucht, nur sich selbst zu sehen – und ihr eigenes ‚Ding‘.

In kleinerem Ausmaß dürfte jeder von uns das auch kennen: Mich hat jemand verletzt – ich schieße zurück, vielleicht sogar mit Kollateralschäden. Mein Bedürfnis wiegt mehr als das Bedürfnis des anderen. Meine Pläne sind wichtiger als die Ideen des anderen. Und so weiter und so weiter. Ein gewisses Maß an Selbstverkrümmung

scheint in uns Menschen angelegt zu sein. Jedenfalls würde ich so auch die Tradition von den sogenannten Wurzelsünden verstehen, zu denen Hochmut, Neid, Habsucht, aber zum Beispiel auch Trägheit, Gleichgültigkeit gehören. Dass sich diese Wurzelsünden in unserer Versöhnungslitanei wiederfinden, wenn auch nicht eins zu eins, davon haben wir an diesem Wochenende schon gehört. Für mich macht das die tiefe Weisheit und Menschenkenntnis der Litanei aus – und regelmäßig fühle ich mich, wenn ich die Litanei in Dachau spreche, bei der ein oder anderen Bitte selbst ertappt.

Und wie kann nun ein Ausweg aus dieser menschlichen Ich-Bezogenheit und Kurzsichtigkeit aussehen? Er ist jedenfalls nicht möglich, ohne dass wir immer und immer wieder den Blick heben: auf unsere Mitmenschen, aber auch auf Gott. Das kann Überwindung kosten: anderen Menschen zuhören, auch wenn ich sie gerade als anstrengend empfinde; Dinge teilen – ob materielle oder immaterielle – die ich lieber für mich behalten würde; mit den Fehlern der anderen barmherzig sein.

Richard Howard hat es uns vorgemacht: statt bei dem Eigenen stehenzubleiben, den Hass noch zu vermehren und nach Vergeltung zu rufen – wie der König im Evangelium in seinem Zorn es tut, wo es sicher auch zu unschuldigen Opfern gekommen ist – hat Richard Howard die Kraft aufgebracht, Versöhnung zu predigen und vorzuleben. Dies hat ihn, mitten im Krieg, mitten in den Ruinen seiner Kathedrale, sicher auch Überwindung gekostet. Geholfen haben dürfte ihm dabei sein Blick auf einen vergebungsbereiten Gott.

„Father forgive“ – dieser Ruf passt für damals und für heute; er passt für Dachau und für Auschwitz, für Israel und Palästina, für die Ukraine, Russland, für so viele Orte und Situationen auf der Welt. Und er passt für mich… und uns, besonders dann wenn wir an einer Weite unseres Blickes scheitern. Liebender Gott, vergib! Und mach uns zu Werkzeugen Deiner Vergebung!

Autorin: Judith Einsiedel